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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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Leben außer der Kunst übertrage; man denkt, er habe zu oft geweint, gelacht
u. s. w. auf der Bühne, als daß man sein Weinen und Lachen außer derselben
für Wahrheit nehmen könnte. Es ist zunächst richtig, daß die Versetzung des
Schauspielers in die Stimmungen ganz anderer Natur ist, als die des Dichters
(wie des Bildhauers, Malers, Musikers); bitterer, stoffartiger Ernst ist
es natürlich auch diesem mit dem Zustande nicht, den er uns darstellt,
er ist darin und er schwebt doch frei darüber; die dramatische Dichtung
setzt mit doppelter Stärke dieß Schweben voraus, weil sich da der Poet in
verschiedene Charaktere direct und abwechselnd verwandelt, allein derselbe
fingirt nicht mit der vollen Stärke sinnlicher Gegenwart, als sei der dar-
gestellte Zustand der seinige, er tritt nicht vor uns hin und gibt die ganze
Wärme der Unmittelbarkeit des Zustandes vor, als durchdränge derselbe
sein Wesen bis auf jeden Nerv; der Schauspieler thut es und darum fällt
auf die künstlerische Absicht und Versetzung, womit er es thut, ein geschärfter
Accent des bloßen Scheins. -- Im Verhältnisse zum Dichter liegt nun die
andere Seite der Abhängigkeit, wodurch die Schauspielkunst zur blos an-
hängenden wird: der Inhalt der Darstellung ist von jenem vorgezeichnet,
der Schauspieler kann als solcher nicht zugleich der Erfinder sein, denn er
kann ja in einer Handlung nur Einen Charakter, ein Glied derselben dar-
stellen, nicht sein Subject, wie der Dichter im Acte seiner Phantasie, in
viele zerlegen und verwandeln (daß ein Schauspieler oft mehrere Rollen
in einem Stück übernimmt, wäre lächerlich hier geltend machen zu wollen).
Es ist bekannt, wohin das Schauspiel durch Improvisiren versinkt. Eben
hier liegt nun aber auch der Punct, von dem die Ehrenrettung der Schau-
spielkunst ausgeht. Um die Schöpfung des Dichters in den vollen Schein
der Wirklichkeit zu übersetzen, muß ihm der Mime, wie Eckhof sagt, "in
das Meer der menschlichen Gesinnungen und Leidenschaften nachtauchen,
bis er ihn findet". Hier ist eine Reproduction gefordert, wie in keiner
blos nachbildenden, vervielfältigenden, exequirenden Kunstübung, eine Re-
production, die zur Production wird. Hat der Schauspieler dem Dichter
in seinen Geist, so hat er ihm auch in seinen Gehalt, seinen Ernst, seine
Idealität nachzutauchen und es gilt nichts Geringeres, als den hohen Zweck,
Menschen, Menschenleben, Menschenschicksal darzustellen. Er bildet auch
nicht blos nach, er entwickelt, ergänzt, füllt aus; neben dieser Erfüllung,
dieser Herausführung in die volle Farbe erscheint das Werk des Dichters
wieder als bloßer Entwurf, ist, wie wir gesehen, blos innerliches Phantasie-
bild, dem es an Fülle und Schärfe fehlt. Der ächte dramatische Dichter
rechnet auf diese Ergänzung, führt nicht bis in's Kleinste aus, läßt Ein-
zelnes relativ skizzenhaft, schneidet dem Schauspieler die Selbstthätigkeit nicht
ab. Der Act der Versetzung in das Werk des Dichters fordert also in
erster Linie verwandtes Genie, Intuition; dazu aber den Ernst und Fleiß

Leben außer der Kunſt übertrage; man denkt, er habe zu oft geweint, gelacht
u. ſ. w. auf der Bühne, als daß man ſein Weinen und Lachen außer derſelben
für Wahrheit nehmen könnte. Es iſt zunächſt richtig, daß die Verſetzung des
Schauſpielers in die Stimmungen ganz anderer Natur iſt, als die des Dichters
(wie des Bildhauers, Malers, Muſikers); bitterer, ſtoffartiger Ernſt iſt
es natürlich auch dieſem mit dem Zuſtande nicht, den er uns darſtellt,
er iſt darin und er ſchwebt doch frei darüber; die dramatiſche Dichtung
ſetzt mit doppelter Stärke dieß Schweben voraus, weil ſich da der Poet in
verſchiedene Charaktere direct und abwechſelnd verwandelt, allein derſelbe
fingirt nicht mit der vollen Stärke ſinnlicher Gegenwart, als ſei der dar-
geſtellte Zuſtand der ſeinige, er tritt nicht vor uns hin und gibt die ganze
Wärme der Unmittelbarkeit des Zuſtandes vor, als durchdränge derſelbe
ſein Weſen bis auf jeden Nerv; der Schauſpieler thut es und darum fällt
auf die künſtleriſche Abſicht und Verſetzung, womit er es thut, ein geſchärfter
Accent des bloßen Scheins. — Im Verhältniſſe zum Dichter liegt nun die
andere Seite der Abhängigkeit, wodurch die Schauſpielkunſt zur blos an-
hängenden wird: der Inhalt der Darſtellung iſt von jenem vorgezeichnet,
der Schauſpieler kann als ſolcher nicht zugleich der Erfinder ſein, denn er
kann ja in einer Handlung nur Einen Charakter, ein Glied derſelben dar-
ſtellen, nicht ſein Subject, wie der Dichter im Acte ſeiner Phantaſie, in
viele zerlegen und verwandeln (daß ein Schauſpieler oft mehrere Rollen
in einem Stück übernimmt, wäre lächerlich hier geltend machen zu wollen).
Es iſt bekannt, wohin das Schauſpiel durch Improviſiren verſinkt. Eben
hier liegt nun aber auch der Punct, von dem die Ehrenrettung der Schau-
ſpielkunſt ausgeht. Um die Schöpfung des Dichters in den vollen Schein
der Wirklichkeit zu überſetzen, muß ihm der Mime, wie Eckhof ſagt, „in
das Meer der menſchlichen Geſinnungen und Leidenſchaften nachtauchen,
bis er ihn findet“. Hier iſt eine Reproduction gefordert, wie in keiner
blos nachbildenden, vervielfältigenden, exequirenden Kunſtübung, eine Re-
production, die zur Production wird. Hat der Schauſpieler dem Dichter
in ſeinen Geiſt, ſo hat er ihm auch in ſeinen Gehalt, ſeinen Ernſt, ſeine
Idealität nachzutauchen und es gilt nichts Geringeres, als den hohen Zweck,
Menſchen, Menſchenleben, Menſchenſchickſal darzuſtellen. Er bildet auch
nicht blos nach, er entwickelt, ergänzt, füllt aus; neben dieſer Erfüllung,
dieſer Herausführung in die volle Farbe erſcheint das Werk des Dichters
wieder als bloßer Entwurf, iſt, wie wir geſehen, blos innerliches Phantaſie-
bild, dem es an Fülle und Schärfe fehlt. Der ächte dramatiſche Dichter
rechnet auf dieſe Ergänzung, führt nicht bis in’s Kleinſte aus, läßt Ein-
zelnes relativ ſkizzenhaft, ſchneidet dem Schauſpieler die Selbſtthätigkeit nicht
ab. Der Act der Verſetzung in das Werk des Dichters fordert alſo in
erſter Linie verwandtes Genie, Intuition; dazu aber den Ernſt und Fleiß

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[1450/0314] Leben außer der Kunſt übertrage; man denkt, er habe zu oft geweint, gelacht u. ſ. w. auf der Bühne, als daß man ſein Weinen und Lachen außer derſelben für Wahrheit nehmen könnte. Es iſt zunächſt richtig, daß die Verſetzung des Schauſpielers in die Stimmungen ganz anderer Natur iſt, als die des Dichters (wie des Bildhauers, Malers, Muſikers); bitterer, ſtoffartiger Ernſt iſt es natürlich auch dieſem mit dem Zuſtande nicht, den er uns darſtellt, er iſt darin und er ſchwebt doch frei darüber; die dramatiſche Dichtung ſetzt mit doppelter Stärke dieß Schweben voraus, weil ſich da der Poet in verſchiedene Charaktere direct und abwechſelnd verwandelt, allein derſelbe fingirt nicht mit der vollen Stärke ſinnlicher Gegenwart, als ſei der dar- geſtellte Zuſtand der ſeinige, er tritt nicht vor uns hin und gibt die ganze Wärme der Unmittelbarkeit des Zuſtandes vor, als durchdränge derſelbe ſein Weſen bis auf jeden Nerv; der Schauſpieler thut es und darum fällt auf die künſtleriſche Abſicht und Verſetzung, womit er es thut, ein geſchärfter Accent des bloßen Scheins. — Im Verhältniſſe zum Dichter liegt nun die andere Seite der Abhängigkeit, wodurch die Schauſpielkunſt zur blos an- hängenden wird: der Inhalt der Darſtellung iſt von jenem vorgezeichnet, der Schauſpieler kann als ſolcher nicht zugleich der Erfinder ſein, denn er kann ja in einer Handlung nur Einen Charakter, ein Glied derſelben dar- ſtellen, nicht ſein Subject, wie der Dichter im Acte ſeiner Phantaſie, in viele zerlegen und verwandeln (daß ein Schauſpieler oft mehrere Rollen in einem Stück übernimmt, wäre lächerlich hier geltend machen zu wollen). Es iſt bekannt, wohin das Schauſpiel durch Improviſiren verſinkt. Eben hier liegt nun aber auch der Punct, von dem die Ehrenrettung der Schau- ſpielkunſt ausgeht. Um die Schöpfung des Dichters in den vollen Schein der Wirklichkeit zu überſetzen, muß ihm der Mime, wie Eckhof ſagt, „in das Meer der menſchlichen Geſinnungen und Leidenſchaften nachtauchen, bis er ihn findet“. Hier iſt eine Reproduction gefordert, wie in keiner blos nachbildenden, vervielfältigenden, exequirenden Kunſtübung, eine Re- production, die zur Production wird. Hat der Schauſpieler dem Dichter in ſeinen Geiſt, ſo hat er ihm auch in ſeinen Gehalt, ſeinen Ernſt, ſeine Idealität nachzutauchen und es gilt nichts Geringeres, als den hohen Zweck, Menſchen, Menſchenleben, Menſchenſchickſal darzuſtellen. Er bildet auch nicht blos nach, er entwickelt, ergänzt, füllt aus; neben dieſer Erfüllung, dieſer Herausführung in die volle Farbe erſcheint das Werk des Dichters wieder als bloßer Entwurf, iſt, wie wir geſehen, blos innerliches Phantaſie- bild, dem es an Fülle und Schärfe fehlt. Der ächte dramatiſche Dichter rechnet auf dieſe Ergänzung, führt nicht bis in’s Kleinſte aus, läßt Ein- zelnes relativ ſkizzenhaft, ſchneidet dem Schauſpieler die Selbſtthätigkeit nicht ab. Der Act der Verſetzung in das Werk des Dichters fordert alſo in erſter Linie verwandtes Genie, Intuition; dazu aber den Ernſt und Fleiß

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1450. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/314>, abgerufen am 25.11.2024.