aufsucht und dem Menschen in sein Geheimstes nachschleicht, dasselbe Motiv mit der größten Vorliebe ausbeuten und die Noth der Liebenden lustig mit einer Heirath oder mehreren schließen. -- In der Tragödie haben wir eine Form unterschieden, die auf sagenhaft heroischem Grunde ruht; in der Komödie kann von solch' großem Inhalte nicht die Rede sein; zwar hat das Satyrspiel, zum Theil auch die griechische Komödie den komischen Keim, der in den Göttern und Heroen lag, kühn ausgebeutet, im Ganzen und Großen aber kann es nur die Verwendung mythischer Motive zu einer frei ersonnenen phantastischen Fabel sein, was der sagenhaft heroischen Tragödie logisch an die Seite zu stellen ist; dem griechischen Komiker diente die mythische Anschauungsform überhaupt, Alles zu personificiren und sich eine tolle Wunderwelt jenseits des Naturgesetzes zu schaffen; den neueren steht die Poesie des romantischen Aberglaubens zu Gebote, wie Shakespeare die Elfen, den Zauber in heiterer Weise verwendet; er hat aber freie Hand, auch in den classischen Mythus zu greifen, ja diesen und den mittelalter- lichen in humoristischer Willkür zu vermengen. Man erkennt jedoch, daß wir hier aus der Eintheilung, wie sie sich zunächst rein auf den Stoff gründet, heraustreten: das Komische bringt es mit sich, daß das Gewicht sogleich auf die freie Willkür in Ausspinnung der durch Glauben und Sage gegebenen Motive fällt; da entsteht die Frage, wie weit eine hierauf gebaute Fabel noch zeitgemäß sei, und wenn, mit welchen Stoffen sie sich am natur- gemäßesten verbinde u. s. w.: diese Frage gehört aber in andern Zusammenhang.
§. 916.
Der Seite der Auffassung nach kann es im komischen Gebiete nicht einen ebenso bestimmten Unterschied von Prinzipien- und Charakterdrama geben, wie in der Tragödie, dagegen tritt mit entscheidender Kraft ein anderer auf, der darin besteht, daß das Komische entweder aus den Charakteren oder dem Schicksale, d. h. hier, dem Spiele der List und des Zufalls, entwickelt wird: Charakter- und Intriguen-Lustspiel. Jene Form ist die tiefere, diese mehr Sache des formellen, doch spezifischer dramatischen Talents; der Gegensatz soll nicht einseitig, sondern bloßes Uebergewicht der einen oder andern Auffassung sein.
Es bedarf hier keiner besondern Bestimmung darüber, wie sich die vorliegende Eintheilung zu der ersten verhält, denn es leuchtet ein, daß der eine oder andere Stoff nach Beschaffenheit oder Auffassung im Sinne der Charakter- oder Intriguen-Komödie behandelt werden kann. Diese Unter- scheidung ist es, welche im komischen Gebiete an die Stelle des Gegensatzes von Prinzipien- und Charakterdrama tritt. Die politische Komödie des Aristophanes und die moderne soziale kann zwar in entfernter Bedeutung Prinzipienkomödie heißen, da sie ein Bild der Endlichkeit und Verkehrung
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aufſucht und dem Menſchen in ſein Geheimſtes nachſchleicht, daſſelbe Motiv mit der größten Vorliebe ausbeuten und die Noth der Liebenden luſtig mit einer Heirath oder mehreren ſchließen. — In der Tragödie haben wir eine Form unterſchieden, die auf ſagenhaft heroiſchem Grunde ruht; in der Komödie kann von ſolch’ großem Inhalte nicht die Rede ſein; zwar hat das Satyrſpiel, zum Theil auch die griechiſche Komödie den komiſchen Keim, der in den Göttern und Heroen lag, kühn ausgebeutet, im Ganzen und Großen aber kann es nur die Verwendung mythiſcher Motive zu einer frei erſonnenen phantaſtiſchen Fabel ſein, was der ſagenhaft heroiſchen Tragödie logiſch an die Seite zu ſtellen iſt; dem griechiſchen Komiker diente die mythiſche Anſchauungsform überhaupt, Alles zu perſonificiren und ſich eine tolle Wunderwelt jenſeits des Naturgeſetzes zu ſchaffen; den neueren ſteht die Poeſie des romantiſchen Aberglaubens zu Gebote, wie Shakespeare die Elfen, den Zauber in heiterer Weiſe verwendet; er hat aber freie Hand, auch in den claſſiſchen Mythus zu greifen, ja dieſen und den mittelalter- lichen in humoriſtiſcher Willkür zu vermengen. Man erkennt jedoch, daß wir hier aus der Eintheilung, wie ſie ſich zunächſt rein auf den Stoff gründet, heraustreten: das Komiſche bringt es mit ſich, daß das Gewicht ſogleich auf die freie Willkür in Ausſpinnung der durch Glauben und Sage gegebenen Motive fällt; da entſteht die Frage, wie weit eine hierauf gebaute Fabel noch zeitgemäß ſei, und wenn, mit welchen Stoffen ſie ſich am natur- gemäßeſten verbinde u. ſ. w.: dieſe Frage gehört aber in andern Zuſammenhang.
§. 916.
Der Seite der Auffaſſung nach kann es im komiſchen Gebiete nicht einen ebenſo beſtimmten Unterſchied von Prinzipien- und Charakterdrama geben, wie in der Tragödie, dagegen tritt mit entſcheidender Kraft ein anderer auf, der darin beſteht, daß das Komiſche entweder aus den Charakteren oder dem Schickſale, d. h. hier, dem Spiele der Liſt und des Zufalls, entwickelt wird: Charakter- und Intriguen-Luſtſpiel. Jene Form iſt die tiefere, dieſe mehr Sache des formellen, doch ſpezifiſcher dramatiſchen Talents; der Gegenſatz ſoll nicht einſeitig, ſondern bloßes Uebergewicht der einen oder andern Auffaſſung ſein.
Es bedarf hier keiner beſondern Beſtimmung darüber, wie ſich die vorliegende Eintheilung zu der erſten verhält, denn es leuchtet ein, daß der eine oder andere Stoff nach Beſchaffenheit oder Auffaſſung im Sinne der Charakter- oder Intriguen-Komödie behandelt werden kann. Dieſe Unter- ſcheidung iſt es, welche im komiſchen Gebiete an die Stelle des Gegenſatzes von Prinzipien- und Charakterdrama tritt. Die politiſche Komödie des Ariſtophanes und die moderne ſoziale kann zwar in entfernter Bedeutung Prinzipienkomödie heißen, da ſie ein Bild der Endlichkeit und Verkehrung
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aufſucht und dem Menſchen in ſein Geheimſtes nachſchleicht, daſſelbe Motiv
mit der größten Vorliebe ausbeuten und die Noth der Liebenden luſtig mit
einer Heirath oder mehreren ſchließen. — In der Tragödie haben wir eine
Form unterſchieden, die auf ſagenhaft heroiſchem Grunde ruht; in der
Komödie kann von ſolch’ großem Inhalte nicht die Rede ſein; zwar hat
das Satyrſpiel, zum Theil auch die griechiſche Komödie den komiſchen Keim,
der in den Göttern und Heroen lag, kühn ausgebeutet, im Ganzen und
Großen aber kann es nur die Verwendung mythiſcher Motive zu einer frei
erſonnenen phantaſtiſchen Fabel ſein, was der ſagenhaft heroiſchen Tragödie
logiſch an die Seite zu ſtellen iſt; dem griechiſchen Komiker diente die
mythiſche Anſchauungsform überhaupt, Alles zu perſonificiren und ſich eine
tolle Wunderwelt jenſeits des Naturgeſetzes zu ſchaffen; den neueren ſteht
die Poeſie des romantiſchen Aberglaubens zu Gebote, wie Shakespeare die
Elfen, den Zauber in heiterer Weiſe verwendet; er hat aber freie Hand,
auch in den claſſiſchen Mythus zu greifen, ja dieſen und den mittelalter-
lichen in humoriſtiſcher Willkür zu vermengen. Man erkennt jedoch, daß
wir hier aus der Eintheilung, wie ſie ſich zunächſt rein auf den Stoff
gründet, heraustreten: das Komiſche bringt es mit ſich, daß das Gewicht
ſogleich auf die freie Willkür in Ausſpinnung der durch Glauben und Sage
gegebenen Motive fällt; da entſteht die Frage, wie weit eine hierauf gebaute
Fabel noch zeitgemäß ſei, und wenn, mit welchen Stoffen ſie ſich am natur-
gemäßeſten verbinde u. ſ. w.: dieſe Frage gehört aber in andern Zuſammenhang.
§. 916.
Der Seite der Auffaſſung nach kann es im komiſchen Gebiete nicht
einen ebenſo beſtimmten Unterſchied von Prinzipien- und Charakterdrama geben,
wie in der Tragödie, dagegen tritt mit entſcheidender Kraft ein anderer auf,
der darin beſteht, daß das Komiſche entweder aus den Charakteren oder dem
Schickſale, d. h. hier, dem Spiele der Liſt und des Zufalls, entwickelt wird:
Charakter- und Intriguen-Luſtſpiel. Jene Form iſt die tiefere, dieſe
mehr Sache des formellen, doch ſpezifiſcher dramatiſchen Talents; der Gegenſatz ſoll
nicht einſeitig, ſondern bloßes Uebergewicht der einen oder andern Auffaſſung ſein.
Es bedarf hier keiner beſondern Beſtimmung darüber, wie ſich die
vorliegende Eintheilung zu der erſten verhält, denn es leuchtet ein, daß der
eine oder andere Stoff nach Beſchaffenheit oder Auffaſſung im Sinne der
Charakter- oder Intriguen-Komödie behandelt werden kann. Dieſe Unter-
ſcheidung iſt es, welche im komiſchen Gebiete an die Stelle des Gegenſatzes
von Prinzipien- und Charakterdrama tritt. Die politiſche Komödie des
Ariſtophanes und die moderne ſoziale kann zwar in entfernter Bedeutung
Prinzipienkomödie heißen, da ſie ein Bild der Endlichkeit und Verkehrung
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1433. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/297>, abgerufen am 22.02.2025.
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