der reinen Humanität er angelegt hat, und schließt die Handlung schlecht im Sinne des bürgerlichen Familienstücks. Der Patriarch mußte zum Aeußersten schreiten, der Templer in einem spannenden Momente furchtbarer Gefahr als Retter Nathan's auftreten und dadurch seine Erhebung aus dem Dunkel des Vorurtheils vollenden; dann möchte dieses Drama immer glücklich schließen, nur nicht mit einer Erkennung, worin Liebende zu Ge- schwistern werden müssen. Es ist hier vor Allem der freie, klare, harmo- nische Charakter des Nathan, der ein positives Ende fordert; so in Göthe's Iphigenie der Charakter der Heldinn, von dessen himmlischer Reinheit heilende, sittliche Wirkungen nach allen Seiten ausgehen, so Heinrich V in Shakespeare's Drama, ein Held, der von Anfang an gegen H. Percy die lichte, elastische, freie, zum Sieg über sich und dunkle, blinde, wilde Kräfte berufene Kraft darstellt. Die Charakter-Auffassung ist die eine der spezielleren Grund- bedingungen glücklichen Ausgangs; sie kann mit der andern, der minder schneidenden Härte des Conflicts, Hand in Hand gehen oder, was jedoch natürlich das Seltnere ist, in siegreichen Widerspruch mit schroffem Conflicte treten. Zu den leichteren Conflicten gehört eine Situation wie die in Heinr. v. Kleist's Prinzen Friederich von Homburg, es ist der Widerstreit zwischen Sub- ordination im Krieg und jugendlichem Heldenmuth; er wird gelöst durch die schlichte Weisheit und Größe des Kurfürsten; dagegen in Göthe's Iphigenie sehen wir eine Collision von furchtbarer innerer Schwere, den Kampf zwischen Bruderliebe und zwischen der Pflicht der Dankbarkeit und Wahrhaftigkeit nur durch tiefes, inneres Ringen eines idealen weiblichen und humanen männlichen Charakters (des Thoas) sich lösen. -- Wir kommen nun auf das zurück, was zu §. 909 über den Eintritt des Komischen bei Anlegung auf glücklichen Schluß bemerkt ist. Shakespeare gibt der Gewißheit eines glücklichen Ausgangs, wo sie sich schon in der Anlage der Handlung an- kündigt, immer die Folge, daß er das komische Element weit über den Grad verstärkt, den der charakteristische Styl auch im negativ Tragischen zuläßt, und zwar bis dahin, daß selbst Heinrich V eine Komödie hieße, wenn er seine Stelle nicht in einem Zusammenhang hätte, der den Namen historisches Drama begründet. Es wäre gut, wenn ihm mehr gefolgt würde, aber es verdient allerdings nicht durchaus Nachahmung, denn es muß ernsten Zu- sammenhang geben, der glücklichen Ausgang bedingt und doch gebietet, das Komische, mag es sich auch hervorthun, zu mäßigen, ihm namentlich in der Rähe der schweren Entscheidungsmomente Schweigen zu gebieten; es muß namentlich dem direct idealen Style der modernen Dichtung unbenommen bleiben, eine lichte Weltanschauung in Dramen mit positiv tragischem Aus- gang so niederzulegen, daß er dabei seine "folgerechte, Uebereinstimmung liebende Denkart" (wenn sie nur übrigens nicht ungerecht urtheilt, wie Göthe über die komischen Figuren in Romeo und Julie) behauptet.
der reinen Humanität er angelegt hat, und ſchließt die Handlung ſchlecht im Sinne des bürgerlichen Familienſtücks. Der Patriarch mußte zum Aeußerſten ſchreiten, der Templer in einem ſpannenden Momente furchtbarer Gefahr als Retter Nathan’s auftreten und dadurch ſeine Erhebung aus dem Dunkel des Vorurtheils vollenden; dann möchte dieſes Drama immer glücklich ſchließen, nur nicht mit einer Erkennung, worin Liebende zu Ge- ſchwiſtern werden müſſen. Es iſt hier vor Allem der freie, klare, harmo- niſche Charakter des Nathan, der ein poſitives Ende fordert; ſo in Göthe’s Iphigenie der Charakter der Heldinn, von deſſen himmliſcher Reinheit heilende, ſittliche Wirkungen nach allen Seiten ausgehen, ſo Heinrich V in Shakespeare’s Drama, ein Held, der von Anfang an gegen H. Percy die lichte, elaſtiſche, freie, zum Sieg über ſich und dunkle, blinde, wilde Kräfte berufene Kraft darſtellt. Die Charakter-Auffaſſung iſt die eine der ſpezielleren Grund- bedingungen glücklichen Ausgangs; ſie kann mit der andern, der minder ſchneidenden Härte des Conflicts, Hand in Hand gehen oder, was jedoch natürlich das Seltnere iſt, in ſiegreichen Widerſpruch mit ſchroffem Conflicte treten. Zu den leichteren Conflicten gehört eine Situation wie die in Heinr. v. Kleiſt’s Prinzen Friederich von Homburg, es iſt der Widerſtreit zwiſchen Sub- ordination im Krieg und jugendlichem Heldenmuth; er wird gelöst durch die ſchlichte Weisheit und Größe des Kurfürſten; dagegen in Göthe’s Iphigenie ſehen wir eine Colliſion von furchtbarer innerer Schwere, den Kampf zwiſchen Bruderliebe und zwiſchen der Pflicht der Dankbarkeit und Wahrhaftigkeit nur durch tiefes, inneres Ringen eines idealen weiblichen und humanen männlichen Charakters (des Thoas) ſich löſen. — Wir kommen nun auf das zurück, was zu §. 909 über den Eintritt des Komiſchen bei Anlegung auf glücklichen Schluß bemerkt iſt. Shakespeare gibt der Gewißheit eines glücklichen Ausgangs, wo ſie ſich ſchon in der Anlage der Handlung an- kündigt, immer die Folge, daß er das komiſche Element weit über den Grad verſtärkt, den der charakteriſtiſche Styl auch im negativ Tragiſchen zuläßt, und zwar bis dahin, daß ſelbſt Heinrich V eine Komödie hieße, wenn er ſeine Stelle nicht in einem Zuſammenhang hätte, der den Namen hiſtoriſches Drama begründet. Es wäre gut, wenn ihm mehr gefolgt würde, aber es verdient allerdings nicht durchaus Nachahmung, denn es muß ernſten Zu- ſammenhang geben, der glücklichen Ausgang bedingt und doch gebietet, das Komiſche, mag es ſich auch hervorthun, zu mäßigen, ihm namentlich in der Rähe der ſchweren Entſcheidungsmomente Schweigen zu gebieten; es muß namentlich dem direct idealen Style der modernen Dichtung unbenommen bleiben, eine lichte Weltanſchauung in Dramen mit poſitiv tragiſchem Aus- gang ſo niederzulegen, daß er dabei ſeine „folgerechte, Uebereinſtimmung liebende Denkart“ (wenn ſie nur übrigens nicht ungerecht urtheilt, wie Göthe über die komiſchen Figuren in Romeo und Julie) behauptet.
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der reinen Humanität er angelegt hat, und ſchließt die Handlung ſchlecht
im Sinne des bürgerlichen Familienſtücks. Der Patriarch mußte zum
Aeußerſten ſchreiten, der Templer in einem ſpannenden Momente furchtbarer
Gefahr als Retter Nathan’s auftreten und dadurch ſeine Erhebung aus
dem Dunkel des Vorurtheils vollenden; dann möchte dieſes Drama immer
glücklich ſchließen, nur nicht mit einer Erkennung, worin Liebende zu Ge-
ſchwiſtern werden müſſen. Es iſt hier vor Allem der freie, klare, harmo-
niſche Charakter des Nathan, der ein poſitives Ende fordert; ſo in Göthe’s
Iphigenie der Charakter der Heldinn, von deſſen himmliſcher Reinheit
heilende, ſittliche Wirkungen nach allen Seiten ausgehen, ſo Heinrich V in
Shakespeare’s Drama, ein Held, der von Anfang an gegen H. Percy die lichte,
elaſtiſche, freie, zum Sieg über ſich und dunkle, blinde, wilde Kräfte berufene
Kraft darſtellt. Die Charakter-Auffaſſung iſt die eine der ſpezielleren Grund-
bedingungen glücklichen Ausgangs; ſie kann mit der andern, der minder
ſchneidenden Härte des Conflicts, Hand in Hand gehen oder, was jedoch
natürlich das Seltnere iſt, in ſiegreichen Widerſpruch mit ſchroffem Conflicte
treten. Zu den leichteren Conflicten gehört eine Situation wie die in Heinr.
v. Kleiſt’s Prinzen Friederich von Homburg, es iſt der Widerſtreit zwiſchen Sub-
ordination im Krieg und jugendlichem Heldenmuth; er wird gelöst durch die
ſchlichte Weisheit und Größe des Kurfürſten; dagegen in Göthe’s Iphigenie
ſehen wir eine Colliſion von furchtbarer innerer Schwere, den Kampf zwiſchen
Bruderliebe und zwiſchen der Pflicht der Dankbarkeit und Wahrhaftigkeit
nur durch tiefes, inneres Ringen eines idealen weiblichen und humanen
männlichen Charakters (des Thoas) ſich löſen. — Wir kommen nun auf
das zurück, was zu §. 909 über den Eintritt des Komiſchen bei Anlegung
auf glücklichen Schluß bemerkt iſt. Shakespeare gibt der Gewißheit eines
glücklichen Ausgangs, wo ſie ſich ſchon in der Anlage der Handlung an-
kündigt, immer die Folge, daß er das komiſche Element weit über den Grad
verſtärkt, den der charakteriſtiſche Styl auch im negativ Tragiſchen zuläßt, und
zwar bis dahin, daß ſelbſt Heinrich V eine Komödie hieße, wenn er ſeine
Stelle nicht in einem Zuſammenhang hätte, der den Namen hiſtoriſches
Drama begründet. Es wäre gut, wenn ihm mehr gefolgt würde, aber es
verdient allerdings nicht durchaus Nachahmung, denn es muß ernſten Zu-
ſammenhang geben, der glücklichen Ausgang bedingt und doch gebietet, das
Komiſche, mag es ſich auch hervorthun, zu mäßigen, ihm namentlich in der
Rähe der ſchweren Entſcheidungsmomente Schweigen zu gebieten; es muß
namentlich dem direct idealen Style der modernen Dichtung unbenommen
bleiben, eine lichte Weltanſchauung in Dramen mit poſitiv tragiſchem Aus-
gang ſo niederzulegen, daß er dabei ſeine „folgerechte, Uebereinſtimmung
liebende Denkart“ (wenn ſie nur übrigens nicht ungerecht urtheilt, wie Göthe
über die komiſchen Figuren in Romeo und Julie) behauptet.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1430. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/294>, abgerufen am 24.11.2024.
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