Ideenkampf ist doch wesentlich lebendiger Personenkampf. Der Charakter- tragödie darf umgekehrt, obwohl das Gewicht auf die andere Seite gelegt ist, ein Pathos von allgemeiner, objectiver Wahrheit nicht fehlen. Nach der Auffassung von Gervinus, der das tragische Ende durchaus nur aus dem Uebersturz heftiger Leidenschaft ableitet (Shakespeare B. 4, S. 380 ff.), gäbe es nicht blos nur eine Charaktertragödie, sondern auch nur eine solche, die keine Allgemeinheit enthält, als die Lehre von der Pflicht der Mäßigung, die als ein abstracter Satz der Moral nie einen großen poetischen Inhalt begründen kann. So predigt Gervinus dem Romeo Mäßigung, wohl mit Recht, Lorenzo thut es auch; wäre er aber besonnen, so wäre er kein lie- bender Jüngling und wäre im Drama nicht die Liebe in ihrem ganzen Feuer, ihrer ganzen Unendlichkeit dargestellt; ein andermal mag man be- denken, daß es noch andere Dinge auf der Welt gibt, Rücksichten, Pflichten; hier aber, dießmal gilt es der Göttlichkeit der Liebe, dießmal muß sie ab- solut dastehen, eine ideale Leidenschaft; die Welt außer ihr besteht auch jetzt und es wäre Pflicht des Liebenden, sie nüchterner zu berücksichtigen; es ist Schuld und nicht Schuld, daß Romeo es in rascher Uebereilung unterläßt; in dieses Zwielicht mitten hinein stellt sich die Tragödie. Alles aus der bloßen Individualität und der Natur des menschlichen Herzens entwickeln heißt der Tragödie sowohl das wahrhaft Allgemeine, als das wahrhaft Concrete nehmen. Selbst wilde und rohe Charaktere dienen, das muß uns der Dichter zeigen, einem geschichtlichen Gesetze, selbst ein Richard III ist Werk- zeug eines solchen, Makbeth's mörderischer Ehrgeiz ist Verkehrung des mo- ralischen Anrechts heroischer Größe und hohen Geistes an die Krone und Wallenstein führt den Anspruch des genialen Feldherrn auf unbegrenzte Vollmacht in Kampf gegen das Recht der kaiserlichen Macht, das aber durch kleinliche Ueberwachung zum halben Unrechte geworden ist. Kurz, das Pathos muß immer objective Allgemeingültigkeit haben, das Gewicht der Behandlung kann aber mehr auf diese oder mehr auf das subjective Leben des Pathos im Charakter fallen. Im letzteren Falle wird allerdings immer die Spannung gegenüberstehender Rechte weniger nothwendig und unver- meidlich erscheinen, und dieß ist es, was in §. 131 ff. das Tragische der einfachen Schuld heißt. -- Die Charaktertragödie nun wird mehr oder weniger von der strafferen Zusammenfassung eines Pathos in der energie- vollen Hauptgestalt hinausweisen auf die sittlichen Gesammtzustände gesell- schaftlicher Kreise; je mehr dieß der Fall ist, desto mehr wird das Charak- terdrama zum Sittenbilde. Dieß geschieht im edelsten und höchsten Sinne, wenn das Gewicht auf das Bestehen und Wachsen der reinsten Humanität gelegt wird wie in Göthe's idealen Sittengemälden Iphigenie und Tasso; das tragische Schicksal geistiger Naturen, wie Philosophen, Künstler, Dichter, gehört in dieses rein menschliche Gebiet, doch nehmen wir unser Bedenken
Ideenkampf iſt doch weſentlich lebendiger Perſonenkampf. Der Charakter- tragödie darf umgekehrt, obwohl das Gewicht auf die andere Seite gelegt iſt, ein Pathos von allgemeiner, objectiver Wahrheit nicht fehlen. Nach der Auffaſſung von Gervinus, der das tragiſche Ende durchaus nur aus dem Ueberſturz heftiger Leidenſchaft ableitet (Shakespeare B. 4, S. 380 ff.), gäbe es nicht blos nur eine Charaktertragödie, ſondern auch nur eine ſolche, die keine Allgemeinheit enthält, als die Lehre von der Pflicht der Mäßigung, die als ein abſtracter Satz der Moral nie einen großen poetiſchen Inhalt begründen kann. So predigt Gervinus dem Romeo Mäßigung, wohl mit Recht, Lorenzo thut es auch; wäre er aber beſonnen, ſo wäre er kein lie- bender Jüngling und wäre im Drama nicht die Liebe in ihrem ganzen Feuer, ihrer ganzen Unendlichkeit dargeſtellt; ein andermal mag man be- denken, daß es noch andere Dinge auf der Welt gibt, Rückſichten, Pflichten; hier aber, dießmal gilt es der Göttlichkeit der Liebe, dießmal muß ſie ab- ſolut daſtehen, eine ideale Leidenſchaft; die Welt außer ihr beſteht auch jetzt und es wäre Pflicht des Liebenden, ſie nüchterner zu berückſichtigen; es iſt Schuld und nicht Schuld, daß Romeo es in raſcher Uebereilung unterläßt; in dieſes Zwielicht mitten hinein ſtellt ſich die Tragödie. Alles aus der bloßen Individualität und der Natur des menſchlichen Herzens entwickeln heißt der Tragödie ſowohl das wahrhaft Allgemeine, als das wahrhaft Concrete nehmen. Selbſt wilde und rohe Charaktere dienen, das muß uns der Dichter zeigen, einem geſchichtlichen Geſetze, ſelbſt ein Richard III iſt Werk- zeug eines ſolchen, Makbeth’s mörderiſcher Ehrgeiz iſt Verkehrung des mo- raliſchen Anrechts heroiſcher Größe und hohen Geiſtes an die Krone und Wallenſtein führt den Anſpruch des genialen Feldherrn auf unbegrenzte Vollmacht in Kampf gegen das Recht der kaiſerlichen Macht, das aber durch kleinliche Ueberwachung zum halben Unrechte geworden iſt. Kurz, das Pathos muß immer objective Allgemeingültigkeit haben, das Gewicht der Behandlung kann aber mehr auf dieſe oder mehr auf das ſubjective Leben des Pathos im Charakter fallen. Im letzteren Falle wird allerdings immer die Spannung gegenüberſtehender Rechte weniger nothwendig und unver- meidlich erſcheinen, und dieß iſt es, was in §. 131 ff. das Tragiſche der einfachen Schuld heißt. — Die Charaktertragödie nun wird mehr oder weniger von der ſtrafferen Zuſammenfaſſung eines Pathos in der energie- vollen Hauptgeſtalt hinausweiſen auf die ſittlichen Geſammtzuſtände geſell- ſchaftlicher Kreiſe; je mehr dieß der Fall iſt, deſto mehr wird das Charak- terdrama zum Sittenbilde. Dieß geſchieht im edelſten und höchſten Sinne, wenn das Gewicht auf das Beſtehen und Wachſen der reinſten Humanität gelegt wird wie in Göthe’s idealen Sittengemälden Iphigenie und Taſſo; das tragiſche Schickſal geiſtiger Naturen, wie Philoſophen, Künſtler, Dichter, gehört in dieſes rein menſchliche Gebiet, doch nehmen wir unſer Bedenken
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Ideenkampf iſt doch weſentlich lebendiger Perſonenkampf. Der Charakter-
tragödie darf umgekehrt, obwohl das Gewicht auf die andere Seite gelegt
iſt, ein Pathos von allgemeiner, objectiver Wahrheit nicht fehlen. Nach
der Auffaſſung von Gervinus, der das tragiſche Ende durchaus nur aus
dem Ueberſturz heftiger Leidenſchaft ableitet (Shakespeare B. 4, S. 380 ff.),
gäbe es nicht blos nur eine Charaktertragödie, ſondern auch nur eine ſolche,
die keine Allgemeinheit enthält, als die Lehre von der Pflicht der Mäßigung,
die als ein abſtracter Satz der Moral nie einen großen poetiſchen Inhalt
begründen kann. So predigt Gervinus dem Romeo Mäßigung, wohl mit
Recht, Lorenzo thut es auch; wäre er aber beſonnen, ſo wäre er kein lie-
bender Jüngling und wäre im Drama nicht die Liebe in ihrem ganzen
Feuer, ihrer ganzen Unendlichkeit dargeſtellt; ein andermal mag man be-
denken, daß es noch andere Dinge auf der Welt gibt, Rückſichten, Pflichten;
hier aber, dießmal gilt es der Göttlichkeit der Liebe, dießmal muß ſie ab-
ſolut daſtehen, eine ideale Leidenſchaft; die Welt außer ihr beſteht auch jetzt
und es wäre Pflicht des Liebenden, ſie nüchterner zu berückſichtigen; es iſt
Schuld und nicht Schuld, daß Romeo es in raſcher Uebereilung unterläßt; in
dieſes Zwielicht mitten hinein ſtellt ſich die Tragödie. Alles aus der bloßen
Individualität und der Natur des menſchlichen Herzens entwickeln heißt
der Tragödie ſowohl das wahrhaft Allgemeine, als das wahrhaft Concrete
nehmen. Selbſt wilde und rohe Charaktere dienen, das muß uns der
Dichter zeigen, einem geſchichtlichen Geſetze, ſelbſt ein Richard III iſt Werk-
zeug eines ſolchen, Makbeth’s mörderiſcher Ehrgeiz iſt Verkehrung des mo-
raliſchen Anrechts heroiſcher Größe und hohen Geiſtes an die Krone und
Wallenſtein führt den Anſpruch des genialen Feldherrn auf unbegrenzte
Vollmacht in Kampf gegen das Recht der kaiſerlichen Macht, das aber durch
kleinliche Ueberwachung zum halben Unrechte geworden iſt. Kurz, das
Pathos muß immer objective Allgemeingültigkeit haben, das Gewicht der
Behandlung kann aber mehr auf dieſe oder mehr auf das ſubjective Leben
des Pathos im Charakter fallen. Im letzteren Falle wird allerdings immer
die Spannung gegenüberſtehender Rechte weniger nothwendig und unver-
meidlich erſcheinen, und dieß iſt es, was in §. 131 ff. das Tragiſche der
einfachen Schuld heißt. — Die Charaktertragödie nun wird mehr oder
weniger von der ſtrafferen Zuſammenfaſſung eines Pathos in der energie-
vollen Hauptgeſtalt hinausweiſen auf die ſittlichen Geſammtzuſtände geſell-
ſchaftlicher Kreiſe; je mehr dieß der Fall iſt, deſto mehr wird das Charak-
terdrama zum Sittenbilde. Dieß geſchieht im edelſten und höchſten Sinne,
wenn das Gewicht auf das Beſtehen und Wachſen der reinſten Humanität
gelegt wird wie in Göthe’s idealen Sittengemälden Iphigenie und Taſſo;
das tragiſche Schickſal geiſtiger Naturen, wie Philoſophen, Künſtler, Dichter,
gehört in dieſes rein menſchliche Gebiet, doch nehmen wir unſer Bedenken
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/288>, abgerufen am 25.11.2024.
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