dagegen kann die Erfindung ganz wohl von einem kleinen Puncte aus- gehen, der in der vollständig entworfenen Handlung nur einen unterge- ordneten Theil bildet, vergl. §. 393, Anm. 1.
§. 911.
Das zweite Eintheilungs-Moment liegt in dem Unterschiede der Seite, von welcher der Stoff aufgefaßt wird. Der Dichter legt das größere Ge- wicht entweder auf den Conflict der ethischen Grundmotive an sich oder auf das Bild des Charakters und der Sitte. Der Gegensatz von Prinzipien- Tragödie und Charakter-(Sitten-)Tragödie, der hiedurch entsteht, kommt zurück auf die Unterscheidung im Tragischen §. 131 ff. 135 ff. Der- selbe kann jedoch nur ein relativer sein. Die zweite Art theilt sich wieder nach §. 105 ff. in ein Drama der Leidenschaft, namentlich der Liebe, des bösen und des guten Willens.
Was Hettner (a. a. O. S. 38) Prinzipientragödie nennt, ist nach unserer Unterscheidung in der Lehre vom Tragischen die Tragödie des sitt- lichen Conflicts, und was er Charaktertragödie nennt, Tragödie der ein- fachen Schuld; es ist aber zweckmäßig, im concreten Gebiete jene einfacher bezeichnenden Namen zu brauchen. Es handelt sich hier von einer wichtigen Unterscheidung, die aber durchaus nur relativ sein kann; würde sie absolut genommen, so wäre entweder der Satz umgestoßen, daß im Drama nicht der Charakter, sondern die Handlung das Wesentliche ist, oder umgekehrt: es würden sich Conflicte bekämpfen, die wie Platonische Ideen als Wesen für sich in der Luft schwebten. Die Prinzipientragödie ruht auf Conflicten, die nach der Trennung, die in den menschlichen Dingen das ewig Zusam- mengehörige erfährt, wirklich unversöhnlich sind, aber die Einseitigkeit der Trennung muß in schroffen und heftigen Charakteren ihre lebendige Realität haben, so daß der Eindruck bleibt, bei größerer Nachgiebigkeit würde aller- dings der Conflict sich schmerzloser lösen, nur fiele dann eben die Kraft der Einseitigkeit in den Charakteren und die Lösung wäre eine matte, schlaffe. Die classische Mustertragödie des Conflicts, die Antigone des Sophokles, kann daher allerdings auch so gefaßt werden, daß die Starrheit und Hef- tigkeit der beiden Hauptpersonen die Angel der Handlung sei und daß wir aus dem Schlusse die große Lehre von der Mäßigung zu ziehen haben, aber es ist dieß nicht die ganze Erklärung, sondern nur Hervorhebung ihres einen, hier des untergeordneten Moments. So sind in Shakes- peare's Jul. Cäsar die Charaktere typisch einfacher, als in irgend einem andern Drama Shakespeare's, schlicht erhabene Träger der sich bekämpfenden Ideen der Republik und Monarchie, das Gewicht fällt auf diese, aber der
dagegen kann die Erfindung ganz wohl von einem kleinen Puncte aus- gehen, der in der vollſtändig entworfenen Handlung nur einen unterge- ordneten Theil bildet, vergl. §. 393, Anm. 1.
§. 911.
Das zweite Eintheilungs-Moment liegt in dem Unterſchiede der Seite, von welcher der Stoff aufgefaßt wird. Der Dichter legt das größere Ge- wicht entweder auf den Conflict der ethiſchen Grundmotive an ſich oder auf das Bild des Charakters und der Sitte. Der Gegenſatz von Prinzipien- Tragödie und Charakter-(Sitten-)Tragödie, der hiedurch entſteht, kommt zurück auf die Unterſcheidung im Tragiſchen §. 131 ff. 135 ff. Der- ſelbe kann jedoch nur ein relativer ſein. Die zweite Art theilt ſich wieder nach §. 105 ff. in ein Drama der Leidenſchaft, namentlich der Liebe, des böſen und des guten Willens.
Was Hettner (a. a. O. S. 38) Prinzipientragödie nennt, iſt nach unſerer Unterſcheidung in der Lehre vom Tragiſchen die Tragödie des ſitt- lichen Conflicts, und was er Charaktertragödie nennt, Tragödie der ein- fachen Schuld; es iſt aber zweckmäßig, im concreten Gebiete jene einfacher bezeichnenden Namen zu brauchen. Es handelt ſich hier von einer wichtigen Unterſcheidung, die aber durchaus nur relativ ſein kann; würde ſie abſolut genommen, ſo wäre entweder der Satz umgeſtoßen, daß im Drama nicht der Charakter, ſondern die Handlung das Weſentliche iſt, oder umgekehrt: es würden ſich Conflicte bekämpfen, die wie Platoniſche Ideen als Weſen für ſich in der Luft ſchwebten. Die Prinzipientragödie ruht auf Conflicten, die nach der Trennung, die in den menſchlichen Dingen das ewig Zuſam- mengehörige erfährt, wirklich unverſöhnlich ſind, aber die Einſeitigkeit der Trennung muß in ſchroffen und heftigen Charakteren ihre lebendige Realität haben, ſo daß der Eindruck bleibt, bei größerer Nachgiebigkeit würde aller- dings der Conflict ſich ſchmerzloſer löſen, nur fiele dann eben die Kraft der Einſeitigkeit in den Charakteren und die Löſung wäre eine matte, ſchlaffe. Die claſſiſche Muſtertragödie des Conflicts, die Antigone des Sophokles, kann daher allerdings auch ſo gefaßt werden, daß die Starrheit und Hef- tigkeit der beiden Hauptperſonen die Angel der Handlung ſei und daß wir aus dem Schluſſe die große Lehre von der Mäßigung zu ziehen haben, aber es iſt dieß nicht die ganze Erklärung, ſondern nur Hervorhebung ihres einen, hier des untergeordneten Moments. So ſind in Shakes- peare’s Jul. Cäſar die Charaktere typiſch einfacher, als in irgend einem andern Drama Shakespeare’s, ſchlicht erhabene Träger der ſich bekämpfenden Ideen der Republik und Monarchie, das Gewicht fällt auf dieſe, aber der
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dagegen kann die Erfindung ganz wohl von einem kleinen Puncte aus-
gehen, der in der vollſtändig entworfenen Handlung nur einen unterge-
ordneten Theil bildet, vergl. §. 393, Anm. 1.
§. 911.
Das zweite Eintheilungs-Moment liegt in dem Unterſchiede der Seite,
von welcher der Stoff aufgefaßt wird. Der Dichter legt das größere Ge-
wicht entweder auf den Conflict der ethiſchen Grundmotive an ſich oder auf
das Bild des Charakters und der Sitte. Der Gegenſatz von Prinzipien-
Tragödie und Charakter-(Sitten-)Tragödie, der hiedurch entſteht,
kommt zurück auf die Unterſcheidung im Tragiſchen §. 131 ff. 135 ff. Der-
ſelbe kann jedoch nur ein relativer ſein. Die zweite Art theilt ſich wieder nach
§. 105 ff. in ein Drama der Leidenſchaft, namentlich der Liebe, des böſen
und des guten Willens.
Was Hettner (a. a. O. S. 38) Prinzipientragödie nennt, iſt nach
unſerer Unterſcheidung in der Lehre vom Tragiſchen die Tragödie des ſitt-
lichen Conflicts, und was er Charaktertragödie nennt, Tragödie der ein-
fachen Schuld; es iſt aber zweckmäßig, im concreten Gebiete jene einfacher
bezeichnenden Namen zu brauchen. Es handelt ſich hier von einer wichtigen
Unterſcheidung, die aber durchaus nur relativ ſein kann; würde ſie abſolut
genommen, ſo wäre entweder der Satz umgeſtoßen, daß im Drama nicht
der Charakter, ſondern die Handlung das Weſentliche iſt, oder umgekehrt:
es würden ſich Conflicte bekämpfen, die wie Platoniſche Ideen als Weſen
für ſich in der Luft ſchwebten. Die Prinzipientragödie ruht auf Conflicten,
die nach der Trennung, die in den menſchlichen Dingen das ewig Zuſam-
mengehörige erfährt, wirklich unverſöhnlich ſind, aber die Einſeitigkeit der
Trennung muß in ſchroffen und heftigen Charakteren ihre lebendige Realität
haben, ſo daß der Eindruck bleibt, bei größerer Nachgiebigkeit würde aller-
dings der Conflict ſich ſchmerzloſer löſen, nur fiele dann eben die Kraft der
Einſeitigkeit in den Charakteren und die Löſung wäre eine matte, ſchlaffe.
Die claſſiſche Muſtertragödie des Conflicts, die Antigone des Sophokles,
kann daher allerdings auch ſo gefaßt werden, daß die Starrheit und Hef-
tigkeit der beiden Hauptperſonen die Angel der Handlung ſei und daß wir
aus dem Schluſſe die große Lehre von der Mäßigung zu ziehen haben,
aber es iſt dieß nicht die ganze Erklärung, ſondern nur Hervorhebung
ihres einen, hier des untergeordneten Moments. So ſind in Shakes-
peare’s Jul. Cäſar die Charaktere typiſch einfacher, als in irgend einem
andern Drama Shakespeare’s, ſchlicht erhabene Träger der ſich bekämpfenden
Ideen der Republik und Monarchie, das Gewicht fällt auf dieſe, aber der
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/287>, abgerufen am 16.02.2025.
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