Interesse ausgebildet, zu zeigen und zu sehen, wie eine bestimmte Erschütterung des Lebens sich in einer Gruppe einzelner Situationen und Handlungen, in welche die Haupthandlung sich verästet, vielseitig reflectirt, mannigfaltig färbt, in einem Reichthum von Folgen modificirt. Ebensowenig ist ein Interesse da, die Handlung auf einem längeren Wege des Wachsens und Anschwellens im Zusammenwirken mehrerer und aufeinanderfolgender Motive werden zu lassen. Der objective Mensch zaudert im Conflict nicht lange, allgemeine Lebensmächte streiten sich um sein Inneres, er entscheidet im Namen der Einen siegreichen rasch wie mit Rothwendigkeit, das Gewicht der Behandlung kann noch nicht auf die Seelengeschichte, den psychologi- schen Prozeß fallen. Dieser Prozeß bedingt mehrere kritische Momente, die selbst schon relative Katastrophen sind; so enthält Shakespeare's Makbeth eine Reihe von Krisen, Stadien mit entscheidenden Wendungen des Bewußt- seins und Thaten; die alte Tragödie hatte nur Eine Krise: rasche That und Katastrophe war ihr Loosungswort, ja sie liebte eine Form, worin eigentlich Alles nur Katastrophe ist; es ist dieß jener Gang der Compo- sition, den wir mit Immermann (Ueber d. rasenden Ajax des Sophokles S. 65) analytisch nennen können, indem das entscheidende Einzelne, die That, woraus die Katastrophe fließt, mit dem Anfang des Drama schon geschehen ist (Ajax und Oedipus), und in den Folgen, die sich nun ent- wickeln, durch Induction zugleich den Weg, wie die That entstand, und die Wolke des Schicksals erkannt wird, welche von Anfang an über dem Helden hing. Der uncolorirte Charakter dieser Tragödie zeigt sich nun vor Allem in den Charakteren. Wenn man eine Antigone, einen Oedipus aufmerksam liest, so fühlt man einen schwachen Ansatz zu bestimmterer Färbung, etwas von individueller Complexion, Temperament, spezielleren Zügen; es ist höchst interessant, sich vorzustellen, was Shakespeare aus solchen Keimen gemacht, wie er sie zum Bilde reicher, mit vielen Saiten besetzter, vieltöniger und eigenartiger Charaktere entwickelt hätte; bei den Alten bleibt es ein Anflug, ein Farbenton, den die objective Bestimmtheit der plastischen Umrisse und das Monumentale der nur von den allgemeinen Mächten durchzogenen Seele nicht zur Entwicklung kommen läßt. Nennt man sie mehr Typen, als Individuen, so ist dieß näher dahin zu bestim- men, daß im classischen Style des modernen Drama das, was wir Typen nennen können, die Charaktere, die mehr das Allgemeine eines Tem- peraments, eines Standes, einer sittlichen Angewöhnung vertreten, als das unendlich Eigene von Individuen darstellen, doch subjectiv ausgearbeiteter, naturalistischer gehalten ist, als jene einfach großen Naturen. Und doch sind jene nicht leblos, ja weit lebendiger, als die schematischen Charaktere des verwandten Styls der neueren Poesie, denn sie sind Anschauungen einer Zeit, eines Volkes, wo diese objective Einfachheit eine Wahrheit und das
Intereſſe ausgebildet, zu zeigen und zu ſehen, wie eine beſtimmte Erſchütterung des Lebens ſich in einer Gruppe einzelner Situationen und Handlungen, in welche die Haupthandlung ſich veräſtet, vielſeitig reflectirt, mannigfaltig färbt, in einem Reichthum von Folgen modificirt. Ebenſowenig iſt ein Intereſſe da, die Handlung auf einem längeren Wege des Wachſens und Anſchwellens im Zuſammenwirken mehrerer und aufeinanderfolgender Motive werden zu laſſen. Der objective Menſch zaudert im Conflict nicht lange, allgemeine Lebensmächte ſtreiten ſich um ſein Inneres, er entſcheidet im Namen der Einen ſiegreichen raſch wie mit Rothwendigkeit, das Gewicht der Behandlung kann noch nicht auf die Seelengeſchichte, den pſychologi- ſchen Prozeß fallen. Dieſer Prozeß bedingt mehrere kritiſche Momente, die ſelbſt ſchon relative Kataſtrophen ſind; ſo enthält Shakespeare’s Makbeth eine Reihe von Kriſen, Stadien mit entſcheidenden Wendungen des Bewußt- ſeins und Thaten; die alte Tragödie hatte nur Eine Kriſe: raſche That und Kataſtrophe war ihr Looſungswort, ja ſie liebte eine Form, worin eigentlich Alles nur Kataſtrophe iſt; es iſt dieß jener Gang der Compo- ſition, den wir mit Immermann (Ueber d. raſenden Ajax des Sophokles S. 65) analytiſch nennen können, indem das entſcheidende Einzelne, die That, woraus die Kataſtrophe fließt, mit dem Anfang des Drama ſchon geſchehen iſt (Ajax und Oedipus), und in den Folgen, die ſich nun ent- wickeln, durch Induction zugleich den Weg, wie die That entſtand, und die Wolke des Schickſals erkannt wird, welche von Anfang an über dem Helden hing. Der uncolorirte Charakter dieſer Tragödie zeigt ſich nun vor Allem in den Charakteren. Wenn man eine Antigone, einen Oedipus aufmerkſam liest, ſo fühlt man einen ſchwachen Anſatz zu beſtimmterer Färbung, etwas von individueller Complexion, Temperament, ſpezielleren Zügen; es iſt höchſt intereſſant, ſich vorzuſtellen, was Shakespeare aus ſolchen Keimen gemacht, wie er ſie zum Bilde reicher, mit vielen Saiten beſetzter, vieltöniger und eigenartiger Charaktere entwickelt hätte; bei den Alten bleibt es ein Anflug, ein Farbenton, den die objective Beſtimmtheit der plaſtiſchen Umriſſe und das Monumentale der nur von den allgemeinen Mächten durchzogenen Seele nicht zur Entwicklung kommen läßt. Nennt man ſie mehr Typen, als Individuen, ſo iſt dieß näher dahin zu beſtim- men, daß im claſſiſchen Style des modernen Drama das, was wir Typen nennen können, die Charaktere, die mehr das Allgemeine eines Tem- peraments, eines Standes, einer ſittlichen Angewöhnung vertreten, als das unendlich Eigene von Individuen darſtellen, doch ſubjectiv ausgearbeiteter, naturaliſtiſcher gehalten iſt, als jene einfach großen Naturen. Und doch ſind jene nicht leblos, ja weit lebendiger, als die ſchematiſchen Charaktere des verwandten Styls der neueren Poeſie, denn ſie ſind Anſchauungen einer Zeit, eines Volkes, wo dieſe objective Einfachheit eine Wahrheit und das
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Intereſſe ausgebildet, zu zeigen und zu ſehen, wie eine beſtimmte Erſchütterung
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färbt, in einem Reichthum von Folgen modificirt. Ebenſowenig iſt ein
Intereſſe da, die Handlung auf einem längeren Wege des Wachſens und
Anſchwellens im Zuſammenwirken mehrerer und aufeinanderfolgender Motive
werden zu laſſen. Der objective Menſch zaudert im Conflict nicht lange,
allgemeine Lebensmächte ſtreiten ſich um ſein Inneres, er entſcheidet im
Namen der Einen ſiegreichen raſch wie mit Rothwendigkeit, das Gewicht
der Behandlung kann noch nicht auf die Seelengeſchichte, den pſychologi-
ſchen Prozeß fallen. Dieſer Prozeß bedingt mehrere kritiſche Momente, die
ſelbſt ſchon relative Kataſtrophen ſind; ſo enthält Shakespeare’s Makbeth
eine Reihe von Kriſen, Stadien mit entſcheidenden Wendungen des Bewußt-
ſeins und Thaten; die alte Tragödie hatte nur Eine Kriſe: raſche That
und Kataſtrophe war ihr Looſungswort, ja ſie liebte eine Form, worin
eigentlich Alles nur Kataſtrophe iſt; es iſt dieß jener Gang der Compo-
ſition, den wir mit Immermann (Ueber d. raſenden Ajax des Sophokles
S. 65) analytiſch nennen können, indem das entſcheidende Einzelne, die
That, woraus die Kataſtrophe fließt, mit dem Anfang des Drama ſchon
geſchehen iſt (Ajax und Oedipus), und in den Folgen, die ſich nun ent-
wickeln, durch Induction zugleich den Weg, wie die That entſtand, und
die Wolke des Schickſals erkannt wird, welche von Anfang an über dem
Helden hing. Der uncolorirte Charakter dieſer Tragödie zeigt ſich nun
vor Allem in den Charakteren. Wenn man eine Antigone, einen Oedipus
aufmerkſam liest, ſo fühlt man einen ſchwachen Anſatz zu beſtimmterer
Färbung, etwas von individueller Complexion, Temperament, ſpezielleren
Zügen; es iſt höchſt intereſſant, ſich vorzuſtellen, was Shakespeare aus
ſolchen Keimen gemacht, wie er ſie zum Bilde reicher, mit vielen Saiten
beſetzter, vieltöniger und eigenartiger Charaktere entwickelt hätte; bei den
Alten bleibt es ein Anflug, ein Farbenton, den die objective Beſtimmtheit
der plaſtiſchen Umriſſe und das Monumentale der nur von den allgemeinen
Mächten durchzogenen Seele nicht zur Entwicklung kommen läßt. Nennt
man ſie mehr Typen, als Individuen, ſo iſt dieß näher dahin zu beſtim-
men, daß im claſſiſchen Style des modernen Drama das, was wir
Typen nennen können, die Charaktere, die mehr das Allgemeine eines Tem-
peraments, eines Standes, einer ſittlichen Angewöhnung vertreten, als das
unendlich Eigene von Individuen darſtellen, doch ſubjectiv ausgearbeiteter,
naturaliſtiſcher gehalten iſt, als jene einfach großen Naturen. Und doch ſind
jene nicht leblos, ja weit lebendiger, als die ſchematiſchen Charaktere des
verwandten Styls der neueren Poeſie, denn ſie ſind Anſchauungen einer
Zeit, eines Volkes, wo dieſe objective Einfachheit eine Wahrheit und das
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/273>, abgerufen am 22.11.2024.
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