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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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Charakterdarstellung berufen und so streng zur consequenten Durchführung
desselben verpflichtet, wie das Drama. Daher faßt es den Charakter in dem
intensiven Sinne, daß er sich vom Gegebenen losreißt und radical in die Ver-
hältnisse eingreift. Die Zusammendrängung seiner Kräfte auf seinen Zweck
beschränkt die Vielseitigkeit seiner Erscheinung. Er vollzieht entweder in der
Darstellung selbst eine entscheidende Wendung in sich bis zur völligen Verän-
derung seines Centrums, oder er verharrt in seiner schon reifen Bestimmtheit.
Der Zweck enthält eine Mehrheit von Momenten und setzt den entgegengesetzten
Zweck voraus: in der Gruppe von Charakteren, welche dieß erfordert, deren
Personenzahl aber durch das Wesen der Dicht-Art beschränkt ist, herrscht Ein
Charakter als Hauptperson.

Der Begriff des Charakters ist in §. 333, der des Pathos in §. 110 ff.
entwickelt. In §. 842, 1. ist aufgestellt, daß die Poesie das Schöne voll-
kommener, als irgend eine andere Kunst, in der Form der Persönlichkeit
verwirklicht. Im höchsten Sinne wird dieß vom Drama geleistet, indem
es die Persönlichkeit in der ganz gesättigten und entschiedenen Gestalt des
Charakters zu seinem Mittelpunct hat. Stetige Einheit mit sich ist sein
Hauptmerkmal; Aristoteles fordert (Poet. C. 15) namentlich das omalon,
die Consequenz, und wäre es auch nur Consequenz in der Inconsequenz.
Die neuere Romantik hat grundsätzlich kernlos schwankende, selbst in der
Inconsequenz inconsequente Charaktere geliebt und war ebendarum vor
Allem durch und durch undramatisch. Wenn der Charakter kein Centrum
hat, wie soll ein klares Verhältniß im Gegensatze der Wechselwirkungen
Statt finden, zu welchem das Drama die Charaktere vereinigt? Tritt nun
der Charakter in seiner ganzen Entschiedenheit auf, so muß er sich auch in
die Spitze zusammenfassen, daß er die Kette des Gegebenen, frei aus sich
beginnend, durchschneidet. Im vollständigen Sinne gilt dieß vom geschicht-
lichen, politischen Helden, aber auch von der Hauptperson im bürgerlichen
Drama wird immer verlangt, daß sie in irgend einer Form radical handle,
d. h. das Bestehende auf irgend einem Puncte durchbreche, um es im Sinne
des Idealen zu erneuern. Der Begriff des Idealen darf dann allerdings
nicht zu eng gefaßt werden, das Motiv kann eine subjective Leidenschaft
sein, aber sie muß sich an eine Idee knüpfen und im Glauben handeln, sie
so ausführen zu dürfen, daß sie sich ein neues, eigenes Gesetz schafft, wie
z. B. Othello, indem er als Richter handeln zu dürfen meint, die Idee der
Gerechtigkeit in unerhörter Form auszuüben wagt. -- Der dramatische
Charakter ist vermöge dieser Straffheit seines Handelns nothwendig gedrängter,
als der epische; er muß reich sein, damit man die Macht der Idee, die
ihn erfüllt, an der Mannigfaltigkeit der Kräfte und Eigenschaften erkenne,
die sie durchdringt, in Bewegung setzt und in ihren Dienst zieht; aber diese

Vischer's Aesthetik. 4. Band. 89

Charakterdarſtellung berufen und ſo ſtreng zur conſequenten Durchführung
deſſelben verpflichtet, wie das Drama. Daher faßt es den Charakter in dem
intenſiven Sinne, daß er ſich vom Gegebenen losreißt und radical in die Ver-
hältniſſe eingreift. Die Zuſammendrängung ſeiner Kräfte auf ſeinen Zweck
beſchränkt die Vielſeitigkeit ſeiner Erſcheinung. Er vollzieht entweder in der
Darſtellung ſelbſt eine entſcheidende Wendung in ſich bis zur völligen Verän-
derung ſeines Centrums, oder er verharrt in ſeiner ſchon reifen Beſtimmtheit.
Der Zweck enthält eine Mehrheit von Momenten und ſetzt den entgegengeſetzten
Zweck voraus: in der Gruppe von Charakteren, welche dieß erfordert, deren
Perſonenzahl aber durch das Weſen der Dicht-Art beſchränkt iſt, herrſcht Ein
Charakter als Hauptperſon.

Der Begriff des Charakters iſt in §. 333, der des Pathos in §. 110 ff.
entwickelt. In §. 842, 1. iſt aufgeſtellt, daß die Poeſie das Schöne voll-
kommener, als irgend eine andere Kunſt, in der Form der Perſönlichkeit
verwirklicht. Im höchſten Sinne wird dieß vom Drama geleiſtet, indem
es die Perſönlichkeit in der ganz geſättigten und entſchiedenen Geſtalt des
Charakters zu ſeinem Mittelpunct hat. Stetige Einheit mit ſich iſt ſein
Hauptmerkmal; Ariſtoteles fordert (Poet. C. 15) namentlich das ὁμαλὸν,
die Conſequenz, und wäre es auch nur Conſequenz in der Inconſequenz.
Die neuere Romantik hat grundſätzlich kernlos ſchwankende, ſelbſt in der
Inconſequenz inconſequente Charaktere geliebt und war ebendarum vor
Allem durch und durch undramatiſch. Wenn der Charakter kein Centrum
hat, wie ſoll ein klares Verhältniß im Gegenſatze der Wechſelwirkungen
Statt finden, zu welchem das Drama die Charaktere vereinigt? Tritt nun
der Charakter in ſeiner ganzen Entſchiedenheit auf, ſo muß er ſich auch in
die Spitze zuſammenfaſſen, daß er die Kette des Gegebenen, frei aus ſich
beginnend, durchſchneidet. Im vollſtändigen Sinne gilt dieß vom geſchicht-
lichen, politiſchen Helden, aber auch von der Hauptperſon im bürgerlichen
Drama wird immer verlangt, daß ſie in irgend einer Form radical handle,
d. h. das Beſtehende auf irgend einem Puncte durchbreche, um es im Sinne
des Idealen zu erneuern. Der Begriff des Idealen darf dann allerdings
nicht zu eng gefaßt werden, das Motiv kann eine ſubjective Leidenſchaft
ſein, aber ſie muß ſich an eine Idee knüpfen und im Glauben handeln, ſie
ſo ausführen zu dürfen, daß ſie ſich ein neues, eigenes Geſetz ſchafft, wie
z. B. Othello, indem er als Richter handeln zu dürfen meint, die Idee der
Gerechtigkeit in unerhörter Form auszuüben wagt. — Der dramatiſche
Charakter iſt vermöge dieſer Straffheit ſeines Handelns nothwendig gedrängter,
als der epiſche; er muß reich ſein, damit man die Macht der Idee, die
ihn erfüllt, an der Mannigfaltigkeit der Kräfte und Eigenſchaften erkenne,
die ſie durchdringt, in Bewegung ſetzt und in ihren Dienſt zieht; aber dieſe

Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 89
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[1383/0247] Charakterdarſtellung berufen und ſo ſtreng zur conſequenten Durchführung deſſelben verpflichtet, wie das Drama. Daher faßt es den Charakter in dem intenſiven Sinne, daß er ſich vom Gegebenen losreißt und radical in die Ver- hältniſſe eingreift. Die Zuſammendrängung ſeiner Kräfte auf ſeinen Zweck beſchränkt die Vielſeitigkeit ſeiner Erſcheinung. Er vollzieht entweder in der Darſtellung ſelbſt eine entſcheidende Wendung in ſich bis zur völligen Verän- derung ſeines Centrums, oder er verharrt in ſeiner ſchon reifen Beſtimmtheit. Der Zweck enthält eine Mehrheit von Momenten und ſetzt den entgegengeſetzten Zweck voraus: in der Gruppe von Charakteren, welche dieß erfordert, deren Perſonenzahl aber durch das Weſen der Dicht-Art beſchränkt iſt, herrſcht Ein Charakter als Hauptperſon. Der Begriff des Charakters iſt in §. 333, der des Pathos in §. 110 ff. entwickelt. In §. 842, 1. iſt aufgeſtellt, daß die Poeſie das Schöne voll- kommener, als irgend eine andere Kunſt, in der Form der Perſönlichkeit verwirklicht. Im höchſten Sinne wird dieß vom Drama geleiſtet, indem es die Perſönlichkeit in der ganz geſättigten und entſchiedenen Geſtalt des Charakters zu ſeinem Mittelpunct hat. Stetige Einheit mit ſich iſt ſein Hauptmerkmal; Ariſtoteles fordert (Poet. C. 15) namentlich das ὁμαλὸν, die Conſequenz, und wäre es auch nur Conſequenz in der Inconſequenz. Die neuere Romantik hat grundſätzlich kernlos ſchwankende, ſelbſt in der Inconſequenz inconſequente Charaktere geliebt und war ebendarum vor Allem durch und durch undramatiſch. Wenn der Charakter kein Centrum hat, wie ſoll ein klares Verhältniß im Gegenſatze der Wechſelwirkungen Statt finden, zu welchem das Drama die Charaktere vereinigt? Tritt nun der Charakter in ſeiner ganzen Entſchiedenheit auf, ſo muß er ſich auch in die Spitze zuſammenfaſſen, daß er die Kette des Gegebenen, frei aus ſich beginnend, durchſchneidet. Im vollſtändigen Sinne gilt dieß vom geſchicht- lichen, politiſchen Helden, aber auch von der Hauptperſon im bürgerlichen Drama wird immer verlangt, daß ſie in irgend einer Form radical handle, d. h. das Beſtehende auf irgend einem Puncte durchbreche, um es im Sinne des Idealen zu erneuern. Der Begriff des Idealen darf dann allerdings nicht zu eng gefaßt werden, das Motiv kann eine ſubjective Leidenſchaft ſein, aber ſie muß ſich an eine Idee knüpfen und im Glauben handeln, ſie ſo ausführen zu dürfen, daß ſie ſich ein neues, eigenes Geſetz ſchafft, wie z. B. Othello, indem er als Richter handeln zu dürfen meint, die Idee der Gerechtigkeit in unerhörter Form auszuüben wagt. — Der dramatiſche Charakter iſt vermöge dieſer Straffheit ſeines Handelns nothwendig gedrängter, als der epiſche; er muß reich ſein, damit man die Macht der Idee, die ihn erfüllt, an der Mannigfaltigkeit der Kräfte und Eigenſchaften erkenne, die ſie durchdringt, in Bewegung ſetzt und in ihren Dienſt zieht; aber dieſe Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 89

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/247>, abgerufen am 23.11.2024.