so kehrt der Kreis der Poesie ganz gefüllt in sich zurück, wie in der Poesie überhaupt der Kreis der Kunst und mit ihm der ganze Kreis des Systems der Aesthetik: ein Kreis im Kreise, eine Verarbeitung der Welt in die Form, die alle Weisen und Seiten erschöpft, ihre Linie immer weiter gezogen und, was sie umfaßt, immer tiefer und tiefer gegründet und verarbeitet hat und nun beruhigt nicht weiter kann und will, sondern in sich selbst zurückläuft. Die Poesie ist die Kunst der Künste; im Epos wiederholt sich die bildende Kunst und analog das Naturschöne, in der Lyrik die Musik und analog die Phantasie, im Drama die Poesie selbst und analog die Kunst: das Drama ist die Poesie der Poesie.
§. 896.
Das Lyrische und Epische, Subjective und Objective kann sich nur so ver- einigen, daß es sich zugleich wesentlich verändert. Der Dichter spricht durch Personen, in die er sich verwandelt und die er gegenwärtig vor uns auftreten läßt, sein Inneres aus: dieß ist lyrisch. Der Personen sind mehrere, sie ver- harren nicht auf einem Puncte ihres inneren Lebens, sondern bewegen sich in der Folge der Zeit, wirken nach außen und bringen durch Wirkung und Ge- genwirkung eine Handlung hervor, in welcher sich mit ihrem Complex von äußern Bedingungen ein breiteres Weltbild, sichtbar für die innere Vorstellung entfaltet: dieß ist episch. Allein an die Stelle der lyrischen Gemüths-Erregung und der epischen Zuständlichkeit muß in dieser Verbindung als Inhalt der freie Geist treten, der mit hellem Bewußtsein seinen Willen zur That bestimmt; die lyrische Gegenwart spannt sich energisch nach der Zukunft, die Form ist aus- schließlich dialogisch und das Weltbild als ein sichtbares erzeugt sich ohne ausdrückliche Schilderung aus dem Bilde des innern Lebens der Charaktere. Das Innere des Dichters muß im Subjectiven objectiv, zur Welt und Mensch- heit erweitert sein. Er ist in seinem Werk ebenso ganz gegenwärtig, als ganz abwesend; dieses besteht daher ganz selbständig, losgelöst vom Dichter, denn er ist ganz darin aufgegangen: die vollkommenste Erfüllung des Begriffes der Kunst (§. 489 und 524), die reifste und daher späteste Frucht ihres Wachsthums.
Das directe Aussprechen des Innern ist das Lyrische im Drama. Der Dichter spricht zwar nicht in eigener Person, sondern aus dem Munde Anderer, in deren Zustände er sich versetzt hat, allein dieß hebt zunächst den lyrischen Charakter nicht auf, denn wir haben auch diese Umwandlung als eine Form des Lyrischen kennen gelernt, die noch ganz in den Grenzen dieses Zweiges bleibt, wiewohl sie allerdings zugleich den Fortgang zum
ſo kehrt der Kreis der Poeſie ganz gefüllt in ſich zurück, wie in der Poeſie überhaupt der Kreis der Kunſt und mit ihm der ganze Kreis des Syſtems der Aeſthetik: ein Kreis im Kreiſe, eine Verarbeitung der Welt in die Form, die alle Weiſen und Seiten erſchöpft, ihre Linie immer weiter gezogen und, was ſie umfaßt, immer tiefer und tiefer gegründet und verarbeitet hat und nun beruhigt nicht weiter kann und will, ſondern in ſich ſelbſt zurückläuft. Die Poeſie iſt die Kunſt der Künſte; im Epos wiederholt ſich die bildende Kunſt und analog das Naturſchöne, in der Lyrik die Muſik und analog die Phantaſie, im Drama die Poeſie ſelbſt und analog die Kunſt: das Drama iſt die Poeſie der Poeſie.
§. 896.
Das Lyriſche und Epiſche, Subjective und Objective kann ſich nur ſo ver- einigen, daß es ſich zugleich weſentlich verändert. Der Dichter ſpricht durch Perſonen, in die er ſich verwandelt und die er gegenwärtig vor uns auftreten läßt, ſein Inneres aus: dieß iſt lyriſch. Der Perſonen ſind mehrere, ſie ver- harren nicht auf einem Puncte ihres inneren Lebens, ſondern bewegen ſich in der Folge der Zeit, wirken nach außen und bringen durch Wirkung und Ge- genwirkung eine Handlung hervor, in welcher ſich mit ihrem Complex von äußern Bedingungen ein breiteres Weltbild, ſichtbar für die innere Vorſtellung entfaltet: dieß iſt epiſch. Allein an die Stelle der lyriſchen Gemüths-Erregung und der epiſchen Zuſtändlichkeit muß in dieſer Verbindung als Inhalt der freie Geiſt treten, der mit hellem Bewußtſein ſeinen Willen zur That beſtimmt; die lyriſche Gegenwart ſpannt ſich energiſch nach der Zukunft, die Form iſt aus- ſchließlich dialogiſch und das Weltbild als ein ſichtbares erzeugt ſich ohne ausdrückliche Schilderung aus dem Bilde des innern Lebens der Charaktere. Das Innere des Dichters muß im Subjectiven objectiv, zur Welt und Menſch- heit erweitert ſein. Er iſt in ſeinem Werk ebenſo ganz gegenwärtig, als ganz abweſend; dieſes beſteht daher ganz ſelbſtändig, losgelöst vom Dichter, denn er iſt ganz darin aufgegangen: die vollkommenſte Erfüllung des Begriffes der Kunſt (§. 489 und 524), die reifſte und daher ſpäteſte Frucht ihres Wachsthums.
Das directe Ausſprechen des Innern iſt das Lyriſche im Drama. Der Dichter ſpricht zwar nicht in eigener Perſon, ſondern aus dem Munde Anderer, in deren Zuſtände er ſich verſetzt hat, allein dieß hebt zunächſt den lyriſchen Charakter nicht auf, denn wir haben auch dieſe Umwandlung als eine Form des Lyriſchen kennen gelernt, die noch ganz in den Grenzen dieſes Zweiges bleibt, wiewohl ſie allerdings zugleich den Fortgang zum
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[1376/0240]
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der Aeſthetik: ein Kreis im Kreiſe, eine Verarbeitung der Welt in die Form,
die alle Weiſen und Seiten erſchöpft, ihre Linie immer weiter gezogen und,
was ſie umfaßt, immer tiefer und tiefer gegründet und verarbeitet hat und
nun beruhigt nicht weiter kann und will, ſondern in ſich ſelbſt zurückläuft.
Die Poeſie iſt die Kunſt der Künſte; im Epos wiederholt ſich die bildende
Kunſt und analog das Naturſchöne, in der Lyrik die Muſik und analog
die Phantaſie, im Drama die Poeſie ſelbſt und analog die Kunſt: das
Drama iſt die Poeſie der Poeſie.
§. 896.
Das Lyriſche und Epiſche, Subjective und Objective kann ſich nur ſo ver-
einigen, daß es ſich zugleich weſentlich verändert. Der Dichter ſpricht durch
Perſonen, in die er ſich verwandelt und die er gegenwärtig vor uns auftreten
läßt, ſein Inneres aus: dieß iſt lyriſch. Der Perſonen ſind mehrere, ſie ver-
harren nicht auf einem Puncte ihres inneren Lebens, ſondern bewegen ſich in
der Folge der Zeit, wirken nach außen und bringen durch Wirkung und Ge-
genwirkung eine Handlung hervor, in welcher ſich mit ihrem Complex von
äußern Bedingungen ein breiteres Weltbild, ſichtbar für die innere Vorſtellung
entfaltet: dieß iſt epiſch. Allein an die Stelle der lyriſchen Gemüths-Erregung
und der epiſchen Zuſtändlichkeit muß in dieſer Verbindung als Inhalt der freie
Geiſt treten, der mit hellem Bewußtſein ſeinen Willen zur That beſtimmt; die
lyriſche Gegenwart ſpannt ſich energiſch nach der Zukunft, die Form iſt aus-
ſchließlich dialogiſch und das Weltbild als ein ſichtbares erzeugt ſich ohne
ausdrückliche Schilderung aus dem Bilde des innern Lebens der Charaktere.
Das Innere des Dichters muß im Subjectiven objectiv, zur Welt und Menſch-
heit erweitert ſein. Er iſt in ſeinem Werk ebenſo ganz gegenwärtig, als ganz
abweſend; dieſes beſteht daher ganz ſelbſtändig, losgelöst vom Dichter, denn er
iſt ganz darin aufgegangen: die vollkommenſte Erfüllung des Begriffes der Kunſt
(§. 489 und 524), die reifſte und daher ſpäteſte Frucht ihres Wachsthums.
Das directe Ausſprechen des Innern iſt das Lyriſche im Drama.
Der Dichter ſpricht zwar nicht in eigener Perſon, ſondern aus dem Munde
Anderer, in deren Zuſtände er ſich verſetzt hat, allein dieß hebt zunächſt den
lyriſchen Charakter nicht auf, denn wir haben auch dieſe Umwandlung als
eine Form des Lyriſchen kennen gelernt, die noch ganz in den Grenzen
dieſes Zweiges bleibt, wiewohl ſie allerdings zugleich den Fortgang zum
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/240>, abgerufen am 07.07.2024.
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