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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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Liebesrausche gibt sich nun der Dichter unter Wohlgerüchen von Veilchen,
Jasmin, Rosen und Moschus der Geliebten, in deren Wangengrübchen der
Weltengeist gefallen ist, dem Weine hin, in dessen Feuer das ewige Ge-
heimniß glüht; er ist aber in dieser Hingebung ganz frei, denn das Welt-
trunkene Gemüth ist dasselbe, das sich auch rein geistig mit dem Unendlichen
versöhnt und in der Reinheit dieser Versöhnung nur von jedem Dogma
und Sektenvorurtheil befreit hat; er taucht sich ganz in den Genuß und
schwebt doch frei und heiter über ihm und er spricht mit hellem Bewußt-
sein die Einheit der beiden Wege des Aufgehens in der Unendlichkeit überall
und in immer neuen Wendungen aus. Diese Form ist daher in aller un-
geheuchelten Fülle der Sinnlichkeit doch zugleich betrachtend, das Gefühl
selbst löst sich hier besonders sichtbar in die zwei Seiten des Seins in der
Sache und der heiteren Beschauung dieses Seins auf; es ist dieß durchaus
elegisch und man wird auch an die Flüchtigkeit des schönen Augenblicks
oft genug so ausdrücklich gemahnt, als es die Elegie im engeren Sinne
des Worts nur thun kann. Diesem Spiele mit der stetigen Wiederkehr
zum mystischen Centrum entspricht das reiche Formenspiel und namentlich
das Ghasel mit seinem durchgehenden Reimbande. In den einzelnen
Mitteln ist diese Dichtung die vorherrschend bilderreiche; sie bedarf es aber
auch, denn sie dreht sich schließlich doch immer um Eines. Göthe's heiteres
Greisenalter hat in der entsprechenden Stimmung des freien Schwebens
und Betrachtens in diesen Formen gedichtet und sie noch einmal zur Wahr-
heit gemacht.

Auch der weitere Sprung zu der subjectiven Lyrik der romanischen
Völker läßt sich unschwer rechtfertigen. Hier ist eine Welt der Innigkeit
aufgegangen, wie sie der Orient und das Alterthum nicht kannte, der pla-
tonische Idealismus und die Mystik fließt als Element in den ethisch ge-
sammelten occidentalischen Geist ein und vereinigt sich mit einem Volks-
naturell, das doch flüssiger, weltlich freier, sinnlich biegsamer ist, als der
noch tiefere, aber weltlosere, härter in sich gedrängte germanische Charakter.
Allein dieser Genius theilt auch mit dem antiken die Eigenschaft, daß ein
großer Theil der innern Wärme nach der Seite der Form hindrängt, um
sich hier als eine Schönheit für sich niederzuschlagen; dieß ist nun natürlich
in der ursprünglichen Art der Stimmung gesetzt und wirkt ebensosehr in der
Ausführung wieder auf sie zurück: die reich verschlungenen Formen des
Sonetts, der Canzone, Terzine, Sestine, der achtzeiligen Stanze, des Trio-
letts, Rondeau's, Madrigal's u. s. w. stellen ein Spiel der Verschiebungen
dar wie maurische Arabesken; das Gefühl des Dichters kann in der Künst-
lichkeit dieses Spiels die Unmittelbarkeit nicht bewahren, sondern wird noth-
wendig zu einem Witze der Empfindung, wiewohl im guten und ernsten
Sinne des Worts; er schaukelt sich wie ein geschickter Ruderer mit kunst-

Liebesrauſche gibt ſich nun der Dichter unter Wohlgerüchen von Veilchen,
Jasmin, Roſen und Moſchus der Geliebten, in deren Wangengrübchen der
Weltengeiſt gefallen iſt, dem Weine hin, in deſſen Feuer das ewige Ge-
heimniß glüht; er iſt aber in dieſer Hingebung ganz frei, denn das Welt-
trunkene Gemüth iſt daſſelbe, das ſich auch rein geiſtig mit dem Unendlichen
verſöhnt und in der Reinheit dieſer Verſöhnung nur von jedem Dogma
und Sektenvorurtheil befreit hat; er taucht ſich ganz in den Genuß und
ſchwebt doch frei und heiter über ihm und er ſpricht mit hellem Bewußt-
ſein die Einheit der beiden Wege des Aufgehens in der Unendlichkeit überall
und in immer neuen Wendungen aus. Dieſe Form iſt daher in aller un-
geheuchelten Fülle der Sinnlichkeit doch zugleich betrachtend, das Gefühl
ſelbſt löst ſich hier beſonders ſichtbar in die zwei Seiten des Seins in der
Sache und der heiteren Beſchauung dieſes Seins auf; es iſt dieß durchaus
elegiſch und man wird auch an die Flüchtigkeit des ſchönen Augenblicks
oft genug ſo ausdrücklich gemahnt, als es die Elegie im engeren Sinne
des Worts nur thun kann. Dieſem Spiele mit der ſtetigen Wiederkehr
zum myſtiſchen Centrum entſpricht das reiche Formenſpiel und namentlich
das Ghaſel mit ſeinem durchgehenden Reimbande. In den einzelnen
Mitteln iſt dieſe Dichtung die vorherrſchend bilderreiche; ſie bedarf es aber
auch, denn ſie dreht ſich ſchließlich doch immer um Eines. Göthe’s heiteres
Greiſenalter hat in der entſprechenden Stimmung des freien Schwebens
und Betrachtens in dieſen Formen gedichtet und ſie noch einmal zur Wahr-
heit gemacht.

Auch der weitere Sprung zu der ſubjectiven Lyrik der romaniſchen
Völker läßt ſich unſchwer rechtfertigen. Hier iſt eine Welt der Innigkeit
aufgegangen, wie ſie der Orient und das Alterthum nicht kannte, der pla-
toniſche Idealiſmus und die Myſtik fließt als Element in den ethiſch ge-
ſammelten occidentaliſchen Geiſt ein und vereinigt ſich mit einem Volks-
naturell, das doch flüſſiger, weltlich freier, ſinnlich biegſamer iſt, als der
noch tiefere, aber weltloſere, härter in ſich gedrängte germaniſche Charakter.
Allein dieſer Genius theilt auch mit dem antiken die Eigenſchaft, daß ein
großer Theil der innern Wärme nach der Seite der Form hindrängt, um
ſich hier als eine Schönheit für ſich niederzuſchlagen; dieß iſt nun natürlich
in der urſprünglichen Art der Stimmung geſetzt und wirkt ebenſoſehr in der
Ausführung wieder auf ſie zurück: die reich verſchlungenen Formen des
Sonetts, der Canzone, Terzine, Seſtine, der achtzeiligen Stanze, des Trio-
letts, Rondeau’s, Madrigal’s u. ſ. w. ſtellen ein Spiel der Verſchiebungen
dar wie mauriſche Arabesken; das Gefühl des Dichters kann in der Künſt-
lichkeit dieſes Spiels die Unmittelbarkeit nicht bewahren, ſondern wird noth-
wendig zu einem Witze der Empfindung, wiewohl im guten und ernſten
Sinne des Worts; er ſchaukelt ſich wie ein geſchickter Ruderer mit kunſt-

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[1372/0236] Liebesrauſche gibt ſich nun der Dichter unter Wohlgerüchen von Veilchen, Jasmin, Roſen und Moſchus der Geliebten, in deren Wangengrübchen der Weltengeiſt gefallen iſt, dem Weine hin, in deſſen Feuer das ewige Ge- heimniß glüht; er iſt aber in dieſer Hingebung ganz frei, denn das Welt- trunkene Gemüth iſt daſſelbe, das ſich auch rein geiſtig mit dem Unendlichen verſöhnt und in der Reinheit dieſer Verſöhnung nur von jedem Dogma und Sektenvorurtheil befreit hat; er taucht ſich ganz in den Genuß und ſchwebt doch frei und heiter über ihm und er ſpricht mit hellem Bewußt- ſein die Einheit der beiden Wege des Aufgehens in der Unendlichkeit überall und in immer neuen Wendungen aus. Dieſe Form iſt daher in aller un- geheuchelten Fülle der Sinnlichkeit doch zugleich betrachtend, das Gefühl ſelbſt löst ſich hier beſonders ſichtbar in die zwei Seiten des Seins in der Sache und der heiteren Beſchauung dieſes Seins auf; es iſt dieß durchaus elegiſch und man wird auch an die Flüchtigkeit des ſchönen Augenblicks oft genug ſo ausdrücklich gemahnt, als es die Elegie im engeren Sinne des Worts nur thun kann. Dieſem Spiele mit der ſtetigen Wiederkehr zum myſtiſchen Centrum entſpricht das reiche Formenſpiel und namentlich das Ghaſel mit ſeinem durchgehenden Reimbande. In den einzelnen Mitteln iſt dieſe Dichtung die vorherrſchend bilderreiche; ſie bedarf es aber auch, denn ſie dreht ſich ſchließlich doch immer um Eines. Göthe’s heiteres Greiſenalter hat in der entſprechenden Stimmung des freien Schwebens und Betrachtens in dieſen Formen gedichtet und ſie noch einmal zur Wahr- heit gemacht. Auch der weitere Sprung zu der ſubjectiven Lyrik der romaniſchen Völker läßt ſich unſchwer rechtfertigen. Hier iſt eine Welt der Innigkeit aufgegangen, wie ſie der Orient und das Alterthum nicht kannte, der pla- toniſche Idealiſmus und die Myſtik fließt als Element in den ethiſch ge- ſammelten occidentaliſchen Geiſt ein und vereinigt ſich mit einem Volks- naturell, das doch flüſſiger, weltlich freier, ſinnlich biegſamer iſt, als der noch tiefere, aber weltloſere, härter in ſich gedrängte germaniſche Charakter. Allein dieſer Genius theilt auch mit dem antiken die Eigenſchaft, daß ein großer Theil der innern Wärme nach der Seite der Form hindrängt, um ſich hier als eine Schönheit für ſich niederzuſchlagen; dieß iſt nun natürlich in der urſprünglichen Art der Stimmung geſetzt und wirkt ebenſoſehr in der Ausführung wieder auf ſie zurück: die reich verſchlungenen Formen des Sonetts, der Canzone, Terzine, Seſtine, der achtzeiligen Stanze, des Trio- letts, Rondeau’s, Madrigal’s u. ſ. w. ſtellen ein Spiel der Verſchiebungen dar wie mauriſche Arabesken; das Gefühl des Dichters kann in der Künſt- lichkeit dieſes Spiels die Unmittelbarkeit nicht bewahren, ſondern wird noth- wendig zu einem Witze der Empfindung, wiewohl im guten und ernſten Sinne des Worts; er ſchaukelt ſich wie ein geſchickter Ruderer mit kunſt-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/236>, abgerufen am 23.11.2024.