ähnliche Stücke weit kürzer sein, weil der subjective Charakter hier überhaupt das Anschauungs-Element weit mehr in die Enge zusammenzieht, man kann sagen, weil sie ächter lyrisch ist. Die Einheit des lyrischen Gedichts ist denn wesentlich Ton-Einheit und es gleicht jener Richtung in der Ma- lerei, welche nicht nur die Schönheit der Zeichnung, sondern überhaupt den Werth der Gegenstände gegen den Stimmungston zurückstellt. Wir sind aber jetzt im Elemente des zeitlich Bewegten: die Ton-Einheit muß also in Ton-Unterschiede successiv auseinandergehen und kann als Einheit von diesen ebensosehr Bewegungs-Einheit heißen. Ein bestimmtes Gefühl soll im Liede den Weg gehen, den ihm seine Natur vorschreibt, und nicht ruhen, bis es erschöpft ist. Es bedarf keines Beweises, daß auch hier der Drei- schlag von Anfang, Mitte, Schluß, wie wir ihn für alle Composition als organisch gegeben aufgestellt haben, das Grundgesetz der Gliederung bilden wird: Anschwellen, Ausbrechen, sich Beruhigen ist der natürliche Verlauf jeder besonderen Stimmung. Doch können diese Elemente verschiedene Stellungen zu einander eingehen und zu der Verschiedenheit dieser Stellung kommt noch die Verschiedenheit der Mischung des Gefühlsklangs mit den Anschauungs-Elementen, dem Gedankenmäßigen (Gnomischen) und dem Hindringen gegen den Willens-Entschluß. Das letzte der drei Momente, die Beruhigung, kann natürlich die mannigfaltigsten Formen annehmen, ist nicht nothwendig eigentliche Besänftigung, besteht aber wesentlich immer darin, daß das Gefühl eben in der Selbstdarstellung sich läutert, idealisirt. Pilgers Morgenlied von Göthe (Nachgel. W. B. 16), das wir oben in anderem Zusammenhang angeführt, enthält den Dreischlag der Momente in der einfachen Weise, daß im ersten Satze der Anblick von Lila's Woh- nung, obwohl im Morgennebel verhüllt, Bilder seliger Erinnerung im Dichter weckt; nun folgt ein zweiter Satz, zuerst episch der ersten Begegnung gedenkend, dann rasch zu dem Gefühle der rauhen Wildheit des Trennungs- schmerzes übergehend und diesem Schmerze kühn den männlichen Willen entgegenstellend, im letzten Satze aber beruhigt sich dieser Sturm nicht im Erlöschen der schmerzvollen Stimmung, sondern im Verklären derselben zur allgegenwärtigen Liebe. Dieß ist allerdings die einfachste, allgemeinste Form des Verlaufs; allein die Beruhigung kann auch in einem vollen, stürmischen Ausbruch des Gefühls liegen und dann haben wir die Umstellung, daß das zweite der drei Momente, wie sie oben aufgeführt sind, an den Schluß tritt; so schließt Gretchen's Lied "Meine Ruh' ist hin" mit dem stürmischen Wunsche, an den Küssen des Geliebten, zu dem die wühlende Sehnsucht sie drängt, zu vergehen: vorher zurückgehalten, gepreßt, erstickt stürzt hier das Grundgefühl gewaltsam wie durch eine Schleuse hervor, die sich dadurch geöffnet hat, daß die arme Verlassene das Bild des Geliebten im vollen Glanze, wie die Liebe schaut, sich vergegenwärtigt hat. Dieß ist nun
ähnliche Stücke weit kürzer ſein, weil der ſubjective Charakter hier überhaupt das Anſchauungs-Element weit mehr in die Enge zuſammenzieht, man kann ſagen, weil ſie ächter lyriſch iſt. Die Einheit des lyriſchen Gedichts iſt denn weſentlich Ton-Einheit und es gleicht jener Richtung in der Ma- lerei, welche nicht nur die Schönheit der Zeichnung, ſondern überhaupt den Werth der Gegenſtände gegen den Stimmungston zurückſtellt. Wir ſind aber jetzt im Elemente des zeitlich Bewegten: die Ton-Einheit muß alſo in Ton-Unterſchiede ſucceſſiv auseinandergehen und kann als Einheit von dieſen ebenſoſehr Bewegungs-Einheit heißen. Ein beſtimmtes Gefühl ſoll im Liede den Weg gehen, den ihm ſeine Natur vorſchreibt, und nicht ruhen, bis es erſchöpft iſt. Es bedarf keines Beweiſes, daß auch hier der Drei- ſchlag von Anfang, Mitte, Schluß, wie wir ihn für alle Compoſition als organiſch gegeben aufgeſtellt haben, das Grundgeſetz der Gliederung bilden wird: Anſchwellen, Ausbrechen, ſich Beruhigen iſt der natürliche Verlauf jeder beſonderen Stimmung. Doch können dieſe Elemente verſchiedene Stellungen zu einander eingehen und zu der Verſchiedenheit dieſer Stellung kommt noch die Verſchiedenheit der Miſchung des Gefühlsklangs mit den Anſchauungs-Elementen, dem Gedankenmäßigen (Gnomiſchen) und dem Hindringen gegen den Willens-Entſchluß. Das letzte der drei Momente, die Beruhigung, kann natürlich die mannigfaltigſten Formen annehmen, iſt nicht nothwendig eigentliche Beſänftigung, beſteht aber weſentlich immer darin, daß das Gefühl eben in der Selbſtdarſtellung ſich läutert, idealiſirt. Pilgers Morgenlied von Göthe (Nachgel. W. B. 16), das wir oben in anderem Zuſammenhang angeführt, enthält den Dreiſchlag der Momente in der einfachen Weiſe, daß im erſten Satze der Anblick von Lila’s Woh- nung, obwohl im Morgennebel verhüllt, Bilder ſeliger Erinnerung im Dichter weckt; nun folgt ein zweiter Satz, zuerſt epiſch der erſten Begegnung gedenkend, dann raſch zu dem Gefühle der rauhen Wildheit des Trennungs- ſchmerzes übergehend und dieſem Schmerze kühn den männlichen Willen entgegenſtellend, im letzten Satze aber beruhigt ſich dieſer Sturm nicht im Erlöſchen der ſchmerzvollen Stimmung, ſondern im Verklären derſelben zur allgegenwärtigen Liebe. Dieß iſt allerdings die einfachſte, allgemeinſte Form des Verlaufs; allein die Beruhigung kann auch in einem vollen, ſtürmiſchen Ausbruch des Gefühls liegen und dann haben wir die Umſtellung, daß das zweite der drei Momente, wie ſie oben aufgeführt ſind, an den Schluß tritt; ſo ſchließt Gretchen’s Lied „Meine Ruh’ iſt hin“ mit dem ſtürmiſchen Wunſche, an den Küſſen des Geliebten, zu dem die wühlende Sehnſucht ſie drängt, zu vergehen: vorher zurückgehalten, gepreßt, erſtickt ſtürzt hier das Grundgefühl gewaltſam wie durch eine Schleuſe hervor, die ſich dadurch geöffnet hat, daß die arme Verlaſſene das Bild des Geliebten im vollen Glanze, wie die Liebe ſchaut, ſich vergegenwärtigt hat. Dieß iſt nun
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ähnliche Stücke weit kürzer ſein, weil der ſubjective Charakter hier überhaupt
das Anſchauungs-Element weit mehr in die Enge zuſammenzieht, man
kann ſagen, weil ſie ächter lyriſch iſt. Die Einheit des lyriſchen Gedichts
iſt denn weſentlich Ton-Einheit und es gleicht jener Richtung in der Ma-
lerei, welche nicht nur die Schönheit der Zeichnung, ſondern überhaupt den
Werth der Gegenſtände gegen den Stimmungston zurückſtellt. Wir ſind
aber jetzt im Elemente des zeitlich Bewegten: die Ton-Einheit muß alſo
in Ton-Unterſchiede ſucceſſiv auseinandergehen und kann als Einheit von
dieſen ebenſoſehr Bewegungs-Einheit heißen. Ein beſtimmtes Gefühl ſoll
im Liede den Weg gehen, den ihm ſeine Natur vorſchreibt, und nicht ruhen,
bis es erſchöpft iſt. Es bedarf keines Beweiſes, daß auch hier der Drei-
ſchlag von Anfang, Mitte, Schluß, wie wir ihn für alle Compoſition als
organiſch gegeben aufgeſtellt haben, das Grundgeſetz der Gliederung bilden
wird: Anſchwellen, Ausbrechen, ſich Beruhigen iſt der natürliche Verlauf
jeder beſonderen Stimmung. Doch können dieſe Elemente verſchiedene
Stellungen zu einander eingehen und zu der Verſchiedenheit dieſer Stellung
kommt noch die Verſchiedenheit der Miſchung des Gefühlsklangs mit den
Anſchauungs-Elementen, dem Gedankenmäßigen (Gnomiſchen) und dem
Hindringen gegen den Willens-Entſchluß. Das letzte der drei Momente,
die Beruhigung, kann natürlich die mannigfaltigſten Formen annehmen, iſt
nicht nothwendig eigentliche Beſänftigung, beſteht aber weſentlich immer
darin, daß das Gefühl eben in der Selbſtdarſtellung ſich läutert, idealiſirt.
Pilgers Morgenlied von Göthe (Nachgel. W. B. 16), das wir oben in
anderem Zuſammenhang angeführt, enthält den Dreiſchlag der Momente
in der einfachen Weiſe, daß im erſten Satze der Anblick von Lila’s Woh-
nung, obwohl im Morgennebel verhüllt, Bilder ſeliger Erinnerung im
Dichter weckt; nun folgt ein zweiter Satz, zuerſt epiſch der erſten Begegnung
gedenkend, dann raſch zu dem Gefühle der rauhen Wildheit des Trennungs-
ſchmerzes übergehend und dieſem Schmerze kühn den männlichen Willen
entgegenſtellend, im letzten Satze aber beruhigt ſich dieſer Sturm nicht im
Erlöſchen der ſchmerzvollen Stimmung, ſondern im Verklären derſelben zur
allgegenwärtigen Liebe. Dieß iſt allerdings die einfachſte, allgemeinſte Form
des Verlaufs; allein die Beruhigung kann auch in einem vollen, ſtürmiſchen
Ausbruch des Gefühls liegen und dann haben wir die Umſtellung, daß das
zweite der drei Momente, wie ſie oben aufgeführt ſind, an den Schluß
tritt; ſo ſchließt Gretchen’s Lied „Meine Ruh’ iſt hin“ mit dem ſtürmiſchen
Wunſche, an den Küſſen des Geliebten, zu dem die wühlende Sehnſucht
ſie drängt, zu vergehen: vorher zurückgehalten, gepreßt, erſtickt ſtürzt hier
das Grundgefühl gewaltſam wie durch eine Schleuſe hervor, die ſich dadurch
geöffnet hat, daß die arme Verlaſſene das Bild des Geliebten im vollen
Glanze, wie die Liebe ſchaut, ſich vergegenwärtigt hat. Dieß iſt nun
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/200>, abgerufen am 23.11.2024.
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