Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

ähnliche Stücke weit kürzer sein, weil der subjective Charakter hier überhaupt
das Anschauungs-Element weit mehr in die Enge zusammenzieht, man
kann sagen, weil sie ächter lyrisch ist. Die Einheit des lyrischen Gedichts
ist denn wesentlich Ton-Einheit und es gleicht jener Richtung in der Ma-
lerei, welche nicht nur die Schönheit der Zeichnung, sondern überhaupt den
Werth der Gegenstände gegen den Stimmungston zurückstellt. Wir sind
aber jetzt im Elemente des zeitlich Bewegten: die Ton-Einheit muß also
in Ton-Unterschiede successiv auseinandergehen und kann als Einheit von
diesen ebensosehr Bewegungs-Einheit heißen. Ein bestimmtes Gefühl soll
im Liede den Weg gehen, den ihm seine Natur vorschreibt, und nicht ruhen,
bis es erschöpft ist. Es bedarf keines Beweises, daß auch hier der Drei-
schlag von Anfang, Mitte, Schluß, wie wir ihn für alle Composition als
organisch gegeben aufgestellt haben, das Grundgesetz der Gliederung bilden
wird: Anschwellen, Ausbrechen, sich Beruhigen ist der natürliche Verlauf
jeder besonderen Stimmung. Doch können diese Elemente verschiedene
Stellungen zu einander eingehen und zu der Verschiedenheit dieser Stellung
kommt noch die Verschiedenheit der Mischung des Gefühlsklangs mit den
Anschauungs-Elementen, dem Gedankenmäßigen (Gnomischen) und dem
Hindringen gegen den Willens-Entschluß. Das letzte der drei Momente,
die Beruhigung, kann natürlich die mannigfaltigsten Formen annehmen, ist
nicht nothwendig eigentliche Besänftigung, besteht aber wesentlich immer
darin, daß das Gefühl eben in der Selbstdarstellung sich läutert, idealisirt.
Pilgers Morgenlied von Göthe (Nachgel. W. B. 16), das wir oben in
anderem Zusammenhang angeführt, enthält den Dreischlag der Momente
in der einfachen Weise, daß im ersten Satze der Anblick von Lila's Woh-
nung, obwohl im Morgennebel verhüllt, Bilder seliger Erinnerung im
Dichter weckt; nun folgt ein zweiter Satz, zuerst episch der ersten Begegnung
gedenkend, dann rasch zu dem Gefühle der rauhen Wildheit des Trennungs-
schmerzes übergehend und diesem Schmerze kühn den männlichen Willen
entgegenstellend, im letzten Satze aber beruhigt sich dieser Sturm nicht im
Erlöschen der schmerzvollen Stimmung, sondern im Verklären derselben zur
allgegenwärtigen Liebe. Dieß ist allerdings die einfachste, allgemeinste Form
des Verlaufs; allein die Beruhigung kann auch in einem vollen, stürmischen
Ausbruch des Gefühls liegen und dann haben wir die Umstellung, daß das
zweite der drei Momente, wie sie oben aufgeführt sind, an den Schluß
tritt; so schließt Gretchen's Lied "Meine Ruh' ist hin" mit dem stürmischen
Wunsche, an den Küssen des Geliebten, zu dem die wühlende Sehnsucht
sie drängt, zu vergehen: vorher zurückgehalten, gepreßt, erstickt stürzt hier
das Grundgefühl gewaltsam wie durch eine Schleuse hervor, die sich dadurch
geöffnet hat, daß die arme Verlassene das Bild des Geliebten im vollen
Glanze, wie die Liebe schaut, sich vergegenwärtigt hat. Dieß ist nun

ähnliche Stücke weit kürzer ſein, weil der ſubjective Charakter hier überhaupt
das Anſchauungs-Element weit mehr in die Enge zuſammenzieht, man
kann ſagen, weil ſie ächter lyriſch iſt. Die Einheit des lyriſchen Gedichts
iſt denn weſentlich Ton-Einheit und es gleicht jener Richtung in der Ma-
lerei, welche nicht nur die Schönheit der Zeichnung, ſondern überhaupt den
Werth der Gegenſtände gegen den Stimmungston zurückſtellt. Wir ſind
aber jetzt im Elemente des zeitlich Bewegten: die Ton-Einheit muß alſo
in Ton-Unterſchiede ſucceſſiv auseinandergehen und kann als Einheit von
dieſen ebenſoſehr Bewegungs-Einheit heißen. Ein beſtimmtes Gefühl ſoll
im Liede den Weg gehen, den ihm ſeine Natur vorſchreibt, und nicht ruhen,
bis es erſchöpft iſt. Es bedarf keines Beweiſes, daß auch hier der Drei-
ſchlag von Anfang, Mitte, Schluß, wie wir ihn für alle Compoſition als
organiſch gegeben aufgeſtellt haben, das Grundgeſetz der Gliederung bilden
wird: Anſchwellen, Ausbrechen, ſich Beruhigen iſt der natürliche Verlauf
jeder beſonderen Stimmung. Doch können dieſe Elemente verſchiedene
Stellungen zu einander eingehen und zu der Verſchiedenheit dieſer Stellung
kommt noch die Verſchiedenheit der Miſchung des Gefühlsklangs mit den
Anſchauungs-Elementen, dem Gedankenmäßigen (Gnomiſchen) und dem
Hindringen gegen den Willens-Entſchluß. Das letzte der drei Momente,
die Beruhigung, kann natürlich die mannigfaltigſten Formen annehmen, iſt
nicht nothwendig eigentliche Beſänftigung, beſteht aber weſentlich immer
darin, daß das Gefühl eben in der Selbſtdarſtellung ſich läutert, idealiſirt.
Pilgers Morgenlied von Göthe (Nachgel. W. B. 16), das wir oben in
anderem Zuſammenhang angeführt, enthält den Dreiſchlag der Momente
in der einfachen Weiſe, daß im erſten Satze der Anblick von Lila’s Woh-
nung, obwohl im Morgennebel verhüllt, Bilder ſeliger Erinnerung im
Dichter weckt; nun folgt ein zweiter Satz, zuerſt epiſch der erſten Begegnung
gedenkend, dann raſch zu dem Gefühle der rauhen Wildheit des Trennungs-
ſchmerzes übergehend und dieſem Schmerze kühn den männlichen Willen
entgegenſtellend, im letzten Satze aber beruhigt ſich dieſer Sturm nicht im
Erlöſchen der ſchmerzvollen Stimmung, ſondern im Verklären derſelben zur
allgegenwärtigen Liebe. Dieß iſt allerdings die einfachſte, allgemeinſte Form
des Verlaufs; allein die Beruhigung kann auch in einem vollen, ſtürmiſchen
Ausbruch des Gefühls liegen und dann haben wir die Umſtellung, daß das
zweite der drei Momente, wie ſie oben aufgeführt ſind, an den Schluß
tritt; ſo ſchließt Gretchen’s Lied „Meine Ruh’ iſt hin“ mit dem ſtürmiſchen
Wunſche, an den Küſſen des Geliebten, zu dem die wühlende Sehnſucht
ſie drängt, zu vergehen: vorher zurückgehalten, gepreßt, erſtickt ſtürzt hier
das Grundgefühl gewaltſam wie durch eine Schleuſe hervor, die ſich dadurch
geöffnet hat, daß die arme Verlaſſene das Bild des Geliebten im vollen
Glanze, wie die Liebe ſchaut, ſich vergegenwärtigt hat. Dieß iſt nun

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p>
                  <pb facs="#f0200" n="1336"/> <hi rendition="#et">ähnliche Stücke weit kürzer &#x017F;ein, weil der &#x017F;ubjective Charakter hier überhaupt<lb/>
das An&#x017F;chauungs-Element weit mehr in die Enge zu&#x017F;ammenzieht, man<lb/>
kann &#x017F;agen, weil &#x017F;ie ächter lyri&#x017F;ch i&#x017F;t. Die Einheit des lyri&#x017F;chen Gedichts<lb/>
i&#x017F;t denn we&#x017F;entlich Ton-Einheit und es gleicht jener Richtung in der Ma-<lb/>
lerei, welche nicht nur die Schönheit der Zeichnung, &#x017F;ondern überhaupt den<lb/>
Werth der Gegen&#x017F;tände gegen den Stimmungston zurück&#x017F;tellt. Wir &#x017F;ind<lb/>
aber jetzt im Elemente des zeitlich Bewegten: die Ton-Einheit muß al&#x017F;o<lb/>
in Ton-Unter&#x017F;chiede &#x017F;ucce&#x017F;&#x017F;iv auseinandergehen und kann als Einheit von<lb/>
die&#x017F;en eben&#x017F;o&#x017F;ehr Bewegungs-Einheit heißen. Ein be&#x017F;timmtes Gefühl &#x017F;oll<lb/>
im Liede den Weg gehen, den ihm &#x017F;eine Natur vor&#x017F;chreibt, und nicht ruhen,<lb/>
bis es er&#x017F;chöpft i&#x017F;t. Es bedarf keines Bewei&#x017F;es, daß auch hier der Drei-<lb/>
&#x017F;chlag von Anfang, Mitte, Schluß, wie wir ihn für alle Compo&#x017F;ition als<lb/>
organi&#x017F;ch gegeben aufge&#x017F;tellt haben, das Grundge&#x017F;etz der Gliederung bilden<lb/>
wird: An&#x017F;chwellen, Ausbrechen, &#x017F;ich Beruhigen i&#x017F;t der natürliche Verlauf<lb/>
jeder be&#x017F;onderen Stimmung. Doch können die&#x017F;e Elemente ver&#x017F;chiedene<lb/>
Stellungen zu einander eingehen und zu der Ver&#x017F;chiedenheit die&#x017F;er Stellung<lb/>
kommt noch die Ver&#x017F;chiedenheit der Mi&#x017F;chung des Gefühlsklangs mit den<lb/>
An&#x017F;chauungs-Elementen, dem Gedankenmäßigen (Gnomi&#x017F;chen) und dem<lb/>
Hindringen gegen den Willens-Ent&#x017F;chluß. Das letzte der drei Momente,<lb/>
die Beruhigung, kann natürlich die mannigfaltig&#x017F;ten Formen annehmen, i&#x017F;t<lb/>
nicht nothwendig eigentliche Be&#x017F;änftigung, be&#x017F;teht aber we&#x017F;entlich immer<lb/>
darin, daß das Gefühl eben in der Selb&#x017F;tdar&#x017F;tellung &#x017F;ich läutert, ideali&#x017F;irt.<lb/>
Pilgers Morgenlied von Göthe (Nachgel. W. B. 16), das wir oben in<lb/>
anderem Zu&#x017F;ammenhang angeführt, enthält den Drei&#x017F;chlag der Momente<lb/>
in der einfachen Wei&#x017F;e, daß im er&#x017F;ten Satze der Anblick von Lila&#x2019;s Woh-<lb/>
nung, obwohl im Morgennebel verhüllt, Bilder &#x017F;eliger Erinnerung im<lb/>
Dichter weckt; nun folgt ein zweiter Satz, zuer&#x017F;t epi&#x017F;ch der er&#x017F;ten Begegnung<lb/>
gedenkend, dann ra&#x017F;ch zu dem Gefühle der rauhen Wildheit des Trennungs-<lb/>
&#x017F;chmerzes übergehend und die&#x017F;em Schmerze kühn den männlichen Willen<lb/>
entgegen&#x017F;tellend, im letzten Satze aber beruhigt &#x017F;ich die&#x017F;er Sturm nicht im<lb/>
Erlö&#x017F;chen der &#x017F;chmerzvollen Stimmung, &#x017F;ondern im Verklären der&#x017F;elben zur<lb/>
allgegenwärtigen Liebe. Dieß i&#x017F;t allerdings die einfach&#x017F;te, allgemein&#x017F;te Form<lb/>
des Verlaufs; allein die Beruhigung kann auch in einem vollen, &#x017F;türmi&#x017F;chen<lb/>
Ausbruch des Gefühls liegen und dann haben wir die Um&#x017F;tellung, daß das<lb/>
zweite der drei Momente, wie &#x017F;ie oben aufgeführt &#x017F;ind, an den Schluß<lb/>
tritt; &#x017F;o &#x017F;chließt Gretchen&#x2019;s Lied &#x201E;Meine Ruh&#x2019; i&#x017F;t hin&#x201C; mit dem &#x017F;türmi&#x017F;chen<lb/>
Wun&#x017F;che, an den Kü&#x017F;&#x017F;en des Geliebten, zu dem die wühlende Sehn&#x017F;ucht<lb/>
&#x017F;ie drängt, zu vergehen: vorher zurückgehalten, gepreßt, er&#x017F;tickt &#x017F;türzt hier<lb/>
das Grundgefühl gewalt&#x017F;am wie durch eine Schleu&#x017F;e hervor, die &#x017F;ich dadurch<lb/>
geöffnet hat, daß die arme Verla&#x017F;&#x017F;ene das Bild des Geliebten im vollen<lb/>
Glanze, wie die Liebe &#x017F;chaut, &#x017F;ich vergegenwärtigt hat. Dieß i&#x017F;t nun<lb/></hi> </p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1336/0200] ähnliche Stücke weit kürzer ſein, weil der ſubjective Charakter hier überhaupt das Anſchauungs-Element weit mehr in die Enge zuſammenzieht, man kann ſagen, weil ſie ächter lyriſch iſt. Die Einheit des lyriſchen Gedichts iſt denn weſentlich Ton-Einheit und es gleicht jener Richtung in der Ma- lerei, welche nicht nur die Schönheit der Zeichnung, ſondern überhaupt den Werth der Gegenſtände gegen den Stimmungston zurückſtellt. Wir ſind aber jetzt im Elemente des zeitlich Bewegten: die Ton-Einheit muß alſo in Ton-Unterſchiede ſucceſſiv auseinandergehen und kann als Einheit von dieſen ebenſoſehr Bewegungs-Einheit heißen. Ein beſtimmtes Gefühl ſoll im Liede den Weg gehen, den ihm ſeine Natur vorſchreibt, und nicht ruhen, bis es erſchöpft iſt. Es bedarf keines Beweiſes, daß auch hier der Drei- ſchlag von Anfang, Mitte, Schluß, wie wir ihn für alle Compoſition als organiſch gegeben aufgeſtellt haben, das Grundgeſetz der Gliederung bilden wird: Anſchwellen, Ausbrechen, ſich Beruhigen iſt der natürliche Verlauf jeder beſonderen Stimmung. Doch können dieſe Elemente verſchiedene Stellungen zu einander eingehen und zu der Verſchiedenheit dieſer Stellung kommt noch die Verſchiedenheit der Miſchung des Gefühlsklangs mit den Anſchauungs-Elementen, dem Gedankenmäßigen (Gnomiſchen) und dem Hindringen gegen den Willens-Entſchluß. Das letzte der drei Momente, die Beruhigung, kann natürlich die mannigfaltigſten Formen annehmen, iſt nicht nothwendig eigentliche Beſänftigung, beſteht aber weſentlich immer darin, daß das Gefühl eben in der Selbſtdarſtellung ſich läutert, idealiſirt. Pilgers Morgenlied von Göthe (Nachgel. W. B. 16), das wir oben in anderem Zuſammenhang angeführt, enthält den Dreiſchlag der Momente in der einfachen Weiſe, daß im erſten Satze der Anblick von Lila’s Woh- nung, obwohl im Morgennebel verhüllt, Bilder ſeliger Erinnerung im Dichter weckt; nun folgt ein zweiter Satz, zuerſt epiſch der erſten Begegnung gedenkend, dann raſch zu dem Gefühle der rauhen Wildheit des Trennungs- ſchmerzes übergehend und dieſem Schmerze kühn den männlichen Willen entgegenſtellend, im letzten Satze aber beruhigt ſich dieſer Sturm nicht im Erlöſchen der ſchmerzvollen Stimmung, ſondern im Verklären derſelben zur allgegenwärtigen Liebe. Dieß iſt allerdings die einfachſte, allgemeinſte Form des Verlaufs; allein die Beruhigung kann auch in einem vollen, ſtürmiſchen Ausbruch des Gefühls liegen und dann haben wir die Umſtellung, daß das zweite der drei Momente, wie ſie oben aufgeführt ſind, an den Schluß tritt; ſo ſchließt Gretchen’s Lied „Meine Ruh’ iſt hin“ mit dem ſtürmiſchen Wunſche, an den Küſſen des Geliebten, zu dem die wühlende Sehnſucht ſie drängt, zu vergehen: vorher zurückgehalten, gepreßt, erſtickt ſtürzt hier das Grundgefühl gewaltſam wie durch eine Schleuſe hervor, die ſich dadurch geöffnet hat, daß die arme Verlaſſene das Bild des Geliebten im vollen Glanze, wie die Liebe ſchaut, ſich vergegenwärtigt hat. Dieß iſt nun

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/200
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/200>, abgerufen am 23.11.2024.