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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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rasch, abgebrochen fortzuschreiten. Die Composition verknüpft die Vor-
stellungen nicht nach ihrer objectiven Ordnung, sondern liebt Absprünge, die
ihren Zusammenhang in der subjectiven Einheit des Gefühls haben und nur
entfernt der relativen Selbständigkeit der Episode sich nähern können. Die
wirkliche Einheit liegt darin, daß sie ein organisches Bild des Verlaufs einer
Stimmung gibt, worin eine Bewegung durch drei Hauptmomente (vergl. §. 500, 2.)
sich vernehmlich durchziehen wird. Diesem Gange sagt die unterbrechende und
abschließende Rückkehr zum Grundtone durch den Refrain zu. Die Natur
des Gefühls fordert Kürze des Ganzen.

Es wird sich zeigen, daß der Unterschied der Style in der lyrischen
Poesie nicht in der durchgreifenden Bedeutung auftreten kann, wie in der
epischen; wir erwähnen ihn vorläufig schon hier, um zuzugeben, daß die
direct ideale, plastische Richtung allerdings den stammelnden, sprungweisen,
andeutenden Charakter nicht in dem Maaße tragen wird, wie die natura-
listische und individualisirende; allein es wird dieß nur ein sehr relativer
Maaß-Unterschied sein, denn die spezifische Natur des Gefühls ist sich überall
gleich: sie kann sich eigentlich nicht in Worten ausdrücken und wenn sie
es doch versucht, muß sie es so thun, daß man den Worten ansieht, es sei
immer noch mehr zurück, als ausgesprochen ist. Je mehr ich mein Gefühl
zur klaren Gestalt beredt und in flüssigem Zusammenhang herausbilden
kann, desto mehr hört es schon auf, Gefühl zu sein. Wir haben gesehen,
daß epische Anschauungs-Elemente, Gedanken und Willensbewegungen her-
beigezogen werden, um einen Anhalt zu geben, an dem das Unergründliche
zur Aeußerung gelange; es muß aber eben zugleich die Unzulänglichkeit
dieses Anhalts zu Tage treten, es sind Lichter, die das Dunkel nicht ganz
erleuchten, sondern wieder zerrinnen und so ein Helldunkel erzeugen. Na-
mentlich muß sich dieß an dem indirect bildlichen Elemente, den Tropen,
bewähren: die lyrische Poesie wird die kühn verwechselnde Metapher dem
begründenden, entwickelnden Gleichnisse vorziehen, das gerne dem Bilde die
Ausführlichkeit einer über den Vergleichungszweck hinausgehenden selbstän-
digen Schönheit zuwendet. Es bleibt also dabei, daß das ahnungsvoll
nach innen Deutende, Springende, Unentwickelte recht im vollen Gegensatze
gegen das Epische den allgemeinen lyrischen Stylcharakter bildet. Man
sehe darauf jenes Lied und lied-artige Gebet Gretchen's in Göthe's Faust
an und beobachte, wie hier das ächt lyrische Gefühl von jedem Versuche
der Entfaltung, der Ausbreitung wieder in seine unerschöpfliche Tiefe zu-
rücksinkt. Dieß Stylgesetz wird sich am meisten da bewähren, wo es am
meisten in Gefahr sein wird, nämlich in den Formen, die innerhalb der
lyrischen Poesie episch zu nennen sind, also die Aufgabe haben, im Zusam-
menhang erzählend darzustellen; hier wird der lyrische Charakter der scheinbar

raſch, abgebrochen fortzuſchreiten. Die Compoſition verknüpft die Vor-
ſtellungen nicht nach ihrer objectiven Ordnung, ſondern liebt Abſprünge, die
ihren Zuſammenhang in der ſubjectiven Einheit des Gefühls haben und nur
entfernt der relativen Selbſtändigkeit der Epiſode ſich nähern können. Die
wirkliche Einheit liegt darin, daß ſie ein organiſches Bild des Verlaufs einer
Stimmung gibt, worin eine Bewegung durch drei Hauptmomente (vergl. §. 500, 2.)
ſich vernehmlich durchziehen wird. Dieſem Gange ſagt die unterbrechende und
abſchließende Rückkehr zum Grundtone durch den Refrain zu. Die Natur
des Gefühls fordert Kürze des Ganzen.

Es wird ſich zeigen, daß der Unterſchied der Style in der lyriſchen
Poeſie nicht in der durchgreifenden Bedeutung auftreten kann, wie in der
epiſchen; wir erwähnen ihn vorläufig ſchon hier, um zuzugeben, daß die
direct ideale, plaſtiſche Richtung allerdings den ſtammelnden, ſprungweiſen,
andeutenden Charakter nicht in dem Maaße tragen wird, wie die natura-
liſtiſche und individualiſirende; allein es wird dieß nur ein ſehr relativer
Maaß-Unterſchied ſein, denn die ſpezifiſche Natur des Gefühls iſt ſich überall
gleich: ſie kann ſich eigentlich nicht in Worten ausdrücken und wenn ſie
es doch verſucht, muß ſie es ſo thun, daß man den Worten anſieht, es ſei
immer noch mehr zurück, als ausgeſprochen iſt. Je mehr ich mein Gefühl
zur klaren Geſtalt beredt und in flüſſigem Zuſammenhang herausbilden
kann, deſto mehr hört es ſchon auf, Gefühl zu ſein. Wir haben geſehen,
daß epiſche Anſchauungs-Elemente, Gedanken und Willensbewegungen her-
beigezogen werden, um einen Anhalt zu geben, an dem das Unergründliche
zur Aeußerung gelange; es muß aber eben zugleich die Unzulänglichkeit
dieſes Anhalts zu Tage treten, es ſind Lichter, die das Dunkel nicht ganz
erleuchten, ſondern wieder zerrinnen und ſo ein Helldunkel erzeugen. Na-
mentlich muß ſich dieß an dem indirect bildlichen Elemente, den Tropen,
bewähren: die lyriſche Poeſie wird die kühn verwechſelnde Metapher dem
begründenden, entwickelnden Gleichniſſe vorziehen, das gerne dem Bilde die
Ausführlichkeit einer über den Vergleichungszweck hinausgehenden ſelbſtän-
digen Schönheit zuwendet. Es bleibt alſo dabei, daß das ahnungsvoll
nach innen Deutende, Springende, Unentwickelte recht im vollen Gegenſatze
gegen das Epiſche den allgemeinen lyriſchen Stylcharakter bildet. Man
ſehe darauf jenes Lied und lied-artige Gebet Gretchen’s in Göthe’s Fauſt
an und beobachte, wie hier das ächt lyriſche Gefühl von jedem Verſuche
der Entfaltung, der Ausbreitung wieder in ſeine unerſchöpfliche Tiefe zu-
rückſinkt. Dieß Stylgeſetz wird ſich am meiſten da bewähren, wo es am
meiſten in Gefahr ſein wird, nämlich in den Formen, die innerhalb der
lyriſchen Poeſie epiſch zu nennen ſind, alſo die Aufgabe haben, im Zuſam-
menhang erzählend darzuſtellen; hier wird der lyriſche Charakter der ſcheinbar

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[1334/0198] raſch, abgebrochen fortzuſchreiten. Die Compoſition verknüpft die Vor- ſtellungen nicht nach ihrer objectiven Ordnung, ſondern liebt Abſprünge, die ihren Zuſammenhang in der ſubjectiven Einheit des Gefühls haben und nur entfernt der relativen Selbſtändigkeit der Epiſode ſich nähern können. Die wirkliche Einheit liegt darin, daß ſie ein organiſches Bild des Verlaufs einer Stimmung gibt, worin eine Bewegung durch drei Hauptmomente (vergl. §. 500, 2.) ſich vernehmlich durchziehen wird. Dieſem Gange ſagt die unterbrechende und abſchließende Rückkehr zum Grundtone durch den Refrain zu. Die Natur des Gefühls fordert Kürze des Ganzen. Es wird ſich zeigen, daß der Unterſchied der Style in der lyriſchen Poeſie nicht in der durchgreifenden Bedeutung auftreten kann, wie in der epiſchen; wir erwähnen ihn vorläufig ſchon hier, um zuzugeben, daß die direct ideale, plaſtiſche Richtung allerdings den ſtammelnden, ſprungweiſen, andeutenden Charakter nicht in dem Maaße tragen wird, wie die natura- liſtiſche und individualiſirende; allein es wird dieß nur ein ſehr relativer Maaß-Unterſchied ſein, denn die ſpezifiſche Natur des Gefühls iſt ſich überall gleich: ſie kann ſich eigentlich nicht in Worten ausdrücken und wenn ſie es doch verſucht, muß ſie es ſo thun, daß man den Worten anſieht, es ſei immer noch mehr zurück, als ausgeſprochen iſt. Je mehr ich mein Gefühl zur klaren Geſtalt beredt und in flüſſigem Zuſammenhang herausbilden kann, deſto mehr hört es ſchon auf, Gefühl zu ſein. Wir haben geſehen, daß epiſche Anſchauungs-Elemente, Gedanken und Willensbewegungen her- beigezogen werden, um einen Anhalt zu geben, an dem das Unergründliche zur Aeußerung gelange; es muß aber eben zugleich die Unzulänglichkeit dieſes Anhalts zu Tage treten, es ſind Lichter, die das Dunkel nicht ganz erleuchten, ſondern wieder zerrinnen und ſo ein Helldunkel erzeugen. Na- mentlich muß ſich dieß an dem indirect bildlichen Elemente, den Tropen, bewähren: die lyriſche Poeſie wird die kühn verwechſelnde Metapher dem begründenden, entwickelnden Gleichniſſe vorziehen, das gerne dem Bilde die Ausführlichkeit einer über den Vergleichungszweck hinausgehenden ſelbſtän- digen Schönheit zuwendet. Es bleibt alſo dabei, daß das ahnungsvoll nach innen Deutende, Springende, Unentwickelte recht im vollen Gegenſatze gegen das Epiſche den allgemeinen lyriſchen Stylcharakter bildet. Man ſehe darauf jenes Lied und lied-artige Gebet Gretchen’s in Göthe’s Fauſt an und beobachte, wie hier das ächt lyriſche Gefühl von jedem Verſuche der Entfaltung, der Ausbreitung wieder in ſeine unerſchöpfliche Tiefe zu- rückſinkt. Dieß Stylgeſetz wird ſich am meiſten da bewähren, wo es am meiſten in Gefahr ſein wird, nämlich in den Formen, die innerhalb der lyriſchen Poeſie epiſch zu nennen ſind, alſo die Aufgabe haben, im Zuſam- menhang erzählend darzuſtellen; hier wird der lyriſche Charakter der ſcheinbar

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/198>, abgerufen am 24.11.2024.