bildlichen, gnomischen, überhaupt einen Gegenstand nennenden Elemente kennen gelernt; aber sie kann das Object nicht entwickeln, nicht ausbreiten. Ist ihr zeitliches Element die Gegenwart, also der Augenblick, so ist in Beziehung auf ihren Verkehr mit den Gegenständen ihr Charakter die Punctualität; sie ist ein punctuelles Zünden der Welt im Subjecte: in diesem Moment erfaßt die Erfahrung dieses Subject auf diese Weise. Wir haben in §. 393, 1. für alle Phantasiethätigkeit gefordert, daß sie von der zufälligen Anregung durch irgend ein Naturschönes ausgehe, allein in den andern Gebieten wird an dem so gegebenen Stoffe fortgebildet, bis er ein größeres Weltbild darstellt, das eine zweite, ideale Natur ist und worüber man den Ausgangspunct rein vergißt; die Musik fällt hier weg, da sie gar kein Mittel hat, den Anstoß, wovon die erfindende Stimmung ausgegangen, erkennbar durchblicken zu lassen; der lyrische Dichter aber sagt es recht ausdrücklich, daß er bei dem und dem Anlaß, hier am Fluß, im Gebirge, hier, wo er die Geliebte zum ersten oder letzten Mal gesehen, wo er am Todtenbette des Freunds gestanden u. s. w., den Grundgehalt des Lebens so oder so gefühlt hat; wir sehen ihn im Nachen auf dem Strom, über den er vor Jahren schon einmal gefahren, von den Manen derer, die damals mit ihm waren, begleitet; wir sehen ihn dem Schnee, dem Regen entgegenstürzen, um die Brust zu kühlen, mit schlagendem Herzen geschwind zu Pferde steigen, das Rebengeländer an seinem Fenster mit Thränen be- feuchten; das Mägdlein steht am Herde, muß Feuer zünden früh, wenn die Hähne kräh'n, und wie sie in's Feuer blickt, fällt ihr ein, daß sie die Nacht vom treulosen Knaben geträumt hat, die Verlassene schleicht durch's Wiesenthal als im Traum verloren. So accentuirt der Lyriker die Situation und eben weil er sie als solche accentuirt, mit einem raschen Lichte beleuchtet, geht er nicht zu der Ausführung fort, worin sie ihre Bedeutung verlöre. Daher gilt von der lyrischen Dichtart wie von keiner andern das Göthe'sche Wort, daß ein wahres Gedicht Gelegenheitsgedicht im höheren Sinne des Wortes sei, daher konnte aber auch in keinem Kunstgebiete das Wahre dieses Wortes sich so sehr dahin verkehren, daß man unter Gelegenheit einen Anlaß verstand, von dem nicht freie Gunst der Muse, sondern die Absicht des Machens, etwa gar auf Bestellung, ausgeht. Die Gelegenheit ist der Zufall des Anlasses, der die Phantasie absichtslos in Bewegung setzt. Alles ästhetische Erfinden ist zufällig, aber in keinem Gebiete betont sich der Begriff der Zufälligkeit so, wie im lyrischen, eben weil der außer aller Be- rechnung liegende Ausgangspunct als solcher in der Situation premirt und erhalten wird. Die Situation ist der Moment, wo Subject und Object sich erfassen, dieß in jenem zündet, jenes dieß ergreift und sein Weltgefühl in einem Einzelgefühl ausspricht. Treffende und feine Bemerkungen über diesen Lebenspunct der ächten Lyrik gibt Gervinus in seiner meisterhaften
bildlichen, gnomiſchen, überhaupt einen Gegenſtand nennenden Elemente kennen gelernt; aber ſie kann das Object nicht entwickeln, nicht ausbreiten. Iſt ihr zeitliches Element die Gegenwart, alſo der Augenblick, ſo iſt in Beziehung auf ihren Verkehr mit den Gegenſtänden ihr Charakter die Punctualität; ſie iſt ein punctuelles Zünden der Welt im Subjecte: in dieſem Moment erfaßt die Erfahrung dieſes Subject auf dieſe Weiſe. Wir haben in §. 393, 1. für alle Phantaſiethätigkeit gefordert, daß ſie von der zufälligen Anregung durch irgend ein Naturſchönes ausgehe, allein in den andern Gebieten wird an dem ſo gegebenen Stoffe fortgebildet, bis er ein größeres Weltbild darſtellt, das eine zweite, ideale Natur iſt und worüber man den Ausgangspunct rein vergißt; die Muſik fällt hier weg, da ſie gar kein Mittel hat, den Anſtoß, wovon die erfindende Stimmung ausgegangen, erkennbar durchblicken zu laſſen; der lyriſche Dichter aber ſagt es recht ausdrücklich, daß er bei dem und dem Anlaß, hier am Fluß, im Gebirge, hier, wo er die Geliebte zum erſten oder letzten Mal geſehen, wo er am Todtenbette des Freunds geſtanden u. ſ. w., den Grundgehalt des Lebens ſo oder ſo gefühlt hat; wir ſehen ihn im Nachen auf dem Strom, über den er vor Jahren ſchon einmal gefahren, von den Manen derer, die damals mit ihm waren, begleitet; wir ſehen ihn dem Schnee, dem Regen entgegenſtürzen, um die Bruſt zu kühlen, mit ſchlagendem Herzen geſchwind zu Pferde ſteigen, das Rebengeländer an ſeinem Fenſter mit Thränen be- feuchten; das Mägdlein ſteht am Herde, muß Feuer zünden früh, wenn die Hähne kräh’n, und wie ſie in’s Feuer blickt, fällt ihr ein, daß ſie die Nacht vom treuloſen Knaben geträumt hat, die Verlaſſene ſchleicht durch’s Wieſenthal als im Traum verloren. So accentuirt der Lyriker die Situation und eben weil er ſie als ſolche accentuirt, mit einem raſchen Lichte beleuchtet, geht er nicht zu der Ausführung fort, worin ſie ihre Bedeutung verlöre. Daher gilt von der lyriſchen Dichtart wie von keiner andern das Göthe’ſche Wort, daß ein wahres Gedicht Gelegenheitsgedicht im höheren Sinne des Wortes ſei, daher konnte aber auch in keinem Kunſtgebiete das Wahre dieſes Wortes ſich ſo ſehr dahin verkehren, daß man unter Gelegenheit einen Anlaß verſtand, von dem nicht freie Gunſt der Muſe, ſondern die Abſicht des Machens, etwa gar auf Beſtellung, ausgeht. Die Gelegenheit iſt der Zufall des Anlaſſes, der die Phantaſie abſichtslos in Bewegung ſetzt. Alles äſthetiſche Erfinden iſt zufällig, aber in keinem Gebiete betont ſich der Begriff der Zufälligkeit ſo, wie im lyriſchen, eben weil der außer aller Be- rechnung liegende Ausgangspunct als ſolcher in der Situation premirt und erhalten wird. Die Situation iſt der Moment, wo Subject und Object ſich erfaſſen, dieß in jenem zündet, jenes dieß ergreift und ſein Weltgefühl in einem Einzelgefühl ausſpricht. Treffende und feine Bemerkungen über dieſen Lebenspunct der ächten Lyrik gibt Gervinus in ſeiner meiſterhaften
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[1331/0195]
bildlichen, gnomiſchen, überhaupt einen Gegenſtand nennenden Elemente
kennen gelernt; aber ſie kann das Object nicht entwickeln, nicht ausbreiten.
Iſt ihr zeitliches Element die Gegenwart, alſo der Augenblick, ſo iſt in
Beziehung auf ihren Verkehr mit den Gegenſtänden ihr Charakter die
Punctualität; ſie iſt ein punctuelles Zünden der Welt im Subjecte:
in dieſem Moment erfaßt die Erfahrung dieſes Subject auf dieſe Weiſe.
Wir haben in §. 393, 1. für alle Phantaſiethätigkeit gefordert, daß ſie von
der zufälligen Anregung durch irgend ein Naturſchönes ausgehe, allein in
den andern Gebieten wird an dem ſo gegebenen Stoffe fortgebildet, bis er
ein größeres Weltbild darſtellt, das eine zweite, ideale Natur iſt und
worüber man den Ausgangspunct rein vergißt; die Muſik fällt hier weg,
da ſie gar kein Mittel hat, den Anſtoß, wovon die erfindende Stimmung
ausgegangen, erkennbar durchblicken zu laſſen; der lyriſche Dichter aber ſagt
es recht ausdrücklich, daß er bei dem und dem Anlaß, hier am Fluß, im
Gebirge, hier, wo er die Geliebte zum erſten oder letzten Mal geſehen,
wo er am Todtenbette des Freunds geſtanden u. ſ. w., den Grundgehalt des
Lebens ſo oder ſo gefühlt hat; wir ſehen ihn im Nachen auf dem Strom,
über den er vor Jahren ſchon einmal gefahren, von den Manen derer, die
damals mit ihm waren, begleitet; wir ſehen ihn dem Schnee, dem Regen
entgegenſtürzen, um die Bruſt zu kühlen, mit ſchlagendem Herzen geſchwind
zu Pferde ſteigen, das Rebengeländer an ſeinem Fenſter mit Thränen be-
feuchten; das Mägdlein ſteht am Herde, muß Feuer zünden früh, wenn
die Hähne kräh’n, und wie ſie in’s Feuer blickt, fällt ihr ein, daß ſie die
Nacht vom treuloſen Knaben geträumt hat, die Verlaſſene ſchleicht durch’s
Wieſenthal als im Traum verloren. So accentuirt der Lyriker die Situation
und eben weil er ſie als ſolche accentuirt, mit einem raſchen Lichte beleuchtet,
geht er nicht zu der Ausführung fort, worin ſie ihre Bedeutung verlöre.
Daher gilt von der lyriſchen Dichtart wie von keiner andern das Göthe’ſche
Wort, daß ein wahres Gedicht Gelegenheitsgedicht im höheren Sinne
des Wortes ſei, daher konnte aber auch in keinem Kunſtgebiete das Wahre
dieſes Wortes ſich ſo ſehr dahin verkehren, daß man unter Gelegenheit einen
Anlaß verſtand, von dem nicht freie Gunſt der Muſe, ſondern die Abſicht
des Machens, etwa gar auf Beſtellung, ausgeht. Die Gelegenheit iſt
der Zufall des Anlaſſes, der die Phantaſie abſichtslos in Bewegung ſetzt.
Alles äſthetiſche Erfinden iſt zufällig, aber in keinem Gebiete betont ſich der
Begriff der Zufälligkeit ſo, wie im lyriſchen, eben weil der außer aller Be-
rechnung liegende Ausgangspunct als ſolcher in der Situation premirt und
erhalten wird. Die Situation iſt der Moment, wo Subject und Object
ſich erfaſſen, dieß in jenem zündet, jenes dieß ergreift und ſein Weltgefühl
in einem Einzelgefühl ausſpricht. Treffende und feine Bemerkungen über
dieſen Lebenspunct der ächten Lyrik gibt Gervinus in ſeiner meiſterhaften
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/195>, abgerufen am 27.11.2024.
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