Lyriker seine subjective Stimmung objectivirt. Sehen wir nun an einigen Beispielen, worin diese Anschauungsbilder, zunächst die directen im Unter- schiede von den indirecten, metaphorischen, bestehen und wie sie sich mit dem eigentlichen, unmittelbaren Gefühls-Ausdruck mischen. In "Schäfers Klage- lied" hören wir unmittelbar kein Wort von dem, was der Inhalt ist, dem in Liebesweh gebrochenen Herzen; er zeigt uns, wie er tausendmal an den Stab gebogen auf dem Berge steht, in das Thal hinabschaut, wie er in dunkler Bewußtlosigkeit hinabsteigt, die wenigen Worte "und weiß doch selber nicht wie" lassen uns aber nicht zweifeln, daß hier das Anschauungs- bild nur dient, um einen Zustand der tiefsten Versenkung des Gemüthslebens zu enthüllen; es folgt der Zug des unbewußten Blumenbrechens, des Harrens in Sturm und Wetter unter dem Baume, wir erfahren dann den Grund des innern Leidens mit den Worten: sie aber ist weggezogen u. s. w., und nun, wo man meinen könnte, daß die Schilderung des innern Zustandes anfangen werde, bringt das Gedicht zunächst noch einen äußern Zug: "vorüber, ihr Schafe, vorüber" und hat zum Schlusse nur Ein directes Wort für das, was Inhalt des Ganzen ist: "dem Schäfer ist gar so weh!" Mignon haucht ihre Sehnsucht nach dem schönen Heimathlande in An- schauungen Italiens aus, nur im Refrain bricht sie ausdrücklich durch, aber auch nicht rein direct, sondern als ein Wunsch, dahin zu ziehen, der eigentlich wieder ein Bild enthält. Gretchen im Faust sagt uns in den Strophen, die sie am Spinnrade singt, wie sie nur nach dem Geliebten aus dem Fenster schaut, aus dem Hause geht, schildert dann seine herrliche Erscheinung und schließt mit einem Bilde der heißen Umarmung, wie sich Herz und Phantasie danach drängt, sie spricht so die unendliche Sehnsucht in lauter Anschauungs- bildern aus; in jenem Liede des tiefsten Weh's, das sich als Gebet an die Maria wendet, zeichnet sie in wenigen Zügen zuerst das Bild der vom Schwerte durchbohrten, zum Himmel aufblickenden Mutter Gottes, vor dem sie kniet, sie erzählt nachher (wir sehen von den andern Strophen noch ab), wie sie die Blumenscherben mit Thränen bethaute, als sie Morgens die Blumen brach, die sie vor dem Bilde niederlegt, sie schildert, wie sie vor Aufgang der Sonne in ihrem Jammer schon aufgerichtet im Bette saß. Werther, ächt lyrisch, kann uns nur sagen, wie ihm die Augen der Ge- liebten vor der Stirne brennen: "hier, wenn ich die Augen schließe, hier in meiner Stirne, wo die innere Sehkraft sich vereinigt, stehen ihre schwarzen Augen. Hier! ich kann es dir nicht ausdrücken. Mache ich meine Augen zu, so sind sie da; wie ein Abgrund ruhen sie vor mir, in mir, füllen die Sinne meiner Stirn." Es unterscheiden sich aus diesen Beispielen bereits zweierlei Formen der objectiven Anschauung: das lyrische Subject führt uns erzählend, schildernd äußere Objecte vor, aber auch sein eigenes Bild, in- dem es sich vor seine und unsere Phantasie in einem bestimmten Zustand
Lyriker ſeine ſubjective Stimmung objectivirt. Sehen wir nun an einigen Beiſpielen, worin dieſe Anſchauungsbilder, zunächſt die directen im Unter- ſchiede von den indirecten, metaphoriſchen, beſtehen und wie ſie ſich mit dem eigentlichen, unmittelbaren Gefühls-Ausdruck miſchen. In „Schäfers Klage- lied“ hören wir unmittelbar kein Wort von dem, was der Inhalt iſt, dem in Liebesweh gebrochenen Herzen; er zeigt uns, wie er tauſendmal an den Stab gebogen auf dem Berge ſteht, in das Thal hinabſchaut, wie er in dunkler Bewußtloſigkeit hinabſteigt, die wenigen Worte „und weiß doch ſelber nicht wie“ laſſen uns aber nicht zweifeln, daß hier das Anſchauungs- bild nur dient, um einen Zuſtand der tiefſten Verſenkung des Gemüthslebens zu enthüllen; es folgt der Zug des unbewußten Blumenbrechens, des Harrens in Sturm und Wetter unter dem Baume, wir erfahren dann den Grund des innern Leidens mit den Worten: ſie aber iſt weggezogen u. ſ. w., und nun, wo man meinen könnte, daß die Schilderung des innern Zuſtandes anfangen werde, bringt das Gedicht zunächſt noch einen äußern Zug: „vorüber, ihr Schafe, vorüber“ und hat zum Schluſſe nur Ein directes Wort für das, was Inhalt des Ganzen iſt: „dem Schäfer iſt gar ſo weh!“ Mignon haucht ihre Sehnſucht nach dem ſchönen Heimathlande in An- ſchauungen Italiens aus, nur im Refrain bricht ſie ausdrücklich durch, aber auch nicht rein direct, ſondern als ein Wunſch, dahin zu ziehen, der eigentlich wieder ein Bild enthält. Gretchen im Fauſt ſagt uns in den Strophen, die ſie am Spinnrade ſingt, wie ſie nur nach dem Geliebten aus dem Fenſter ſchaut, aus dem Hauſe geht, ſchildert dann ſeine herrliche Erſcheinung und ſchließt mit einem Bilde der heißen Umarmung, wie ſich Herz und Phantaſie danach drängt, ſie ſpricht ſo die unendliche Sehnſucht in lauter Anſchauungs- bildern aus; in jenem Liede des tiefſten Weh’s, das ſich als Gebet an die Maria wendet, zeichnet ſie in wenigen Zügen zuerſt das Bild der vom Schwerte durchbohrten, zum Himmel aufblickenden Mutter Gottes, vor dem ſie kniet, ſie erzählt nachher (wir ſehen von den andern Strophen noch ab), wie ſie die Blumenſcherben mit Thränen bethaute, als ſie Morgens die Blumen brach, die ſie vor dem Bilde niederlegt, ſie ſchildert, wie ſie vor Aufgang der Sonne in ihrem Jammer ſchon aufgerichtet im Bette ſaß. Werther, ächt lyriſch, kann uns nur ſagen, wie ihm die Augen der Ge- liebten vor der Stirne brennen: „hier, wenn ich die Augen ſchließe, hier in meiner Stirne, wo die innere Sehkraft ſich vereinigt, ſtehen ihre ſchwarzen Augen. Hier! ich kann es dir nicht ausdrücken. Mache ich meine Augen zu, ſo ſind ſie da; wie ein Abgrund ruhen ſie vor mir, in mir, füllen die Sinne meiner Stirn.“ Es unterſcheiden ſich aus dieſen Beiſpielen bereits zweierlei Formen der objectiven Anſchauung: das lyriſche Subject führt uns erzählend, ſchildernd äußere Objecte vor, aber auch ſein eigenes Bild, in- dem es ſich vor ſeine und unſere Phantaſie in einem beſtimmten Zuſtand
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Lyriker ſeine ſubjective Stimmung objectivirt. Sehen wir nun an einigen
Beiſpielen, worin dieſe Anſchauungsbilder, zunächſt die directen im Unter-
ſchiede von den indirecten, metaphoriſchen, beſtehen und wie ſie ſich mit dem
eigentlichen, unmittelbaren Gefühls-Ausdruck miſchen. In „Schäfers Klage-
lied“ hören wir unmittelbar kein Wort von dem, was der Inhalt iſt, dem
in Liebesweh gebrochenen Herzen; er zeigt uns, wie er tauſendmal an den
Stab gebogen auf dem Berge ſteht, in das Thal hinabſchaut, wie er in
dunkler Bewußtloſigkeit hinabſteigt, die wenigen Worte „und weiß doch
ſelber nicht wie“ laſſen uns aber nicht zweifeln, daß hier das Anſchauungs-
bild nur dient, um einen Zuſtand der tiefſten Verſenkung des Gemüthslebens
zu enthüllen; es folgt der Zug des unbewußten Blumenbrechens, des Harrens
in Sturm und Wetter unter dem Baume, wir erfahren dann den Grund
des innern Leidens mit den Worten: ſie aber iſt weggezogen u. ſ. w., und
nun, wo man meinen könnte, daß die Schilderung des innern Zuſtandes
anfangen werde, bringt das Gedicht zunächſt noch einen äußern Zug:
„vorüber, ihr Schafe, vorüber“ und hat zum Schluſſe nur Ein directes
Wort für das, was Inhalt des Ganzen iſt: „dem Schäfer iſt gar ſo weh!“
Mignon haucht ihre Sehnſucht nach dem ſchönen Heimathlande in An-
ſchauungen Italiens aus, nur im Refrain bricht ſie ausdrücklich durch, aber
auch nicht rein direct, ſondern als ein Wunſch, dahin zu ziehen, der eigentlich
wieder ein Bild enthält. Gretchen im Fauſt ſagt uns in den Strophen, die
ſie am Spinnrade ſingt, wie ſie nur nach dem Geliebten aus dem Fenſter
ſchaut, aus dem Hauſe geht, ſchildert dann ſeine herrliche Erſcheinung und
ſchließt mit einem Bilde der heißen Umarmung, wie ſich Herz und Phantaſie
danach drängt, ſie ſpricht ſo die unendliche Sehnſucht in lauter Anſchauungs-
bildern aus; in jenem Liede des tiefſten Weh’s, das ſich als Gebet an die
Maria wendet, zeichnet ſie in wenigen Zügen zuerſt das Bild der vom
Schwerte durchbohrten, zum Himmel aufblickenden Mutter Gottes, vor dem
ſie kniet, ſie erzählt nachher (wir ſehen von den andern Strophen noch ab),
wie ſie die Blumenſcherben mit Thränen bethaute, als ſie Morgens die
Blumen brach, die ſie vor dem Bilde niederlegt, ſie ſchildert, wie ſie vor
Aufgang der Sonne in ihrem Jammer ſchon aufgerichtet im Bette ſaß.
Werther, ächt lyriſch, kann uns nur ſagen, wie ihm die Augen der Ge-
liebten vor der Stirne brennen: „hier, wenn ich die Augen ſchließe, hier in
meiner Stirne, wo die innere Sehkraft ſich vereinigt, ſtehen ihre ſchwarzen
Augen. Hier! ich kann es dir nicht ausdrücken. Mache ich meine Augen
zu, ſo ſind ſie da; wie ein Abgrund ruhen ſie vor mir, in mir, füllen die
Sinne meiner Stirn.“ Es unterſcheiden ſich aus dieſen Beiſpielen bereits
zweierlei Formen der objectiven Anſchauung: das lyriſche Subject führt uns
erzählend, ſchildernd äußere Objecte vor, aber auch ſein eigenes Bild, in-
dem es ſich vor ſeine und unſere Phantaſie in einem beſtimmten Zuſtand
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/190>, abgerufen am 28.11.2024.
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