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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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des öffentlichen, politischen Lebens. Es ist dieselbe Spannung der Senti-
mentalität, die erst der Gegensatz erzeugt, wie in der Landschaftmalerei. Der
gebildete Mensch erscheint unwahr und getheilt, man sucht den ungetheilten,
wahren und glücklichen da, wo man dagegen auf die größeren Interessen
verzichten muß; daher zieht sich denn diese Dicht-Art dem Stoffe nach immer
mehr zu den Ständen zurück, die so wenig als möglich vom Raffinement
der Bildung berührt werden, zu Landleuten, Hirten. Wir können, was
ihre frühere Geschichte betrifft, nur andeuten, wie jene Spielerei und Affec-
tation des Schäferwesens, worunter Höflinge versteckt waren, in Italien auf-
kommt, von da nach Spanien, Frankreich, Deutschland wandert, hier durch die
Nürnberger sich ganz zum Kindischen verschnörkelt, wie später Geßner sie zu
vereinfachen und zu veredeln meint, indem er die Sentimentalität, nicht in
jenem allgemeinen, ächten, sondern im spezifisch weichlichen, weinerlichen
Sinn ihr eingießt und aus Naturmenschen ihr empfindsames Gegentheil
macht. Sieht man diese Dichtungs-Form genauer an und fragt sich, was
der richtige Styl ihrer Behandlung in der modernen Zeit sei, so drängt sich
eine doppelte Beziehung auf: nach der einen Seite hat für uns die Idylle
einen classischen Charakter, denn sie zeigt ein ungebrochenes, naives Leben,
wie es im Ganzen und Großen dem Alterthum eigen war; nach der andern
Seite soll diese Beziehung zu keiner Unwahrheit, keiner falschen Idealisirung
führen und man soll sich wohl erinnern, daß gerade bei den Alten selbst die
Idylle es war, worin der realistische, charakteristische Styl ein Gefäß seiner
relativen Ausbildung fand. Es ergeben sich naturgemäß aus dieser doppelten
Beziehung zwei Stylrichtungen, die sich aber vor extremem Gegensatz hüten
müssen. Fr. Müller, der Maler, gab unter dem Einflusse des erwachten
Interesses für das Volkslied der Idylle zuerst realistische Wahrheit, später
floß dieser Auffassung der ganze Gewinn an innigem Einblick in die wahren
Heimlichkeiten des Landlebens zu, den die Dialekts-Poesie, namentlich die
Hebel'sche, brachte, man fieng überhaupt an, gesunder, objectiver zu schauen,
und daraus haben sich denn, nachdem Immermann mit dem trefflichen Dorf-
schulzen in seinem Münchhausen vorangegangen, die Idyllen in Novellen-
form, die Dorfgeschichten gebildet. Wir haben in anderem Zusammenhange
(§. 881, Anm. 1.) bereits das Wesentliche dieses Zweigs kurz bezeichnet.
Das Landleben erscheint hier nicht wie eine Oase, worin nur die Milch der
frommen Denkungsart fließt; hier gibt es Kabalen, Neid, Engherzigkeit,
Unsauberes aller Art, wie in der großen Welt, der Landmann wird auch
nicht mehr vom Städter unwahr abgeschieden, kommt vielmehr in Verkehr
und Conflicte mit ihm, es erfolgen Rücktritte, Uebertritte zwischen beiden
Ständen, kurz die Uebel der Gesellschaft und das Glück der ländlichen
Naivetät greifen ineinander über. Und dennoch muß der Kern der geschlossenen
Schönheit des kindlich Engen, der gemüthlichen Heimlichkeit im gesunden

des öffentlichen, politiſchen Lebens. Es iſt dieſelbe Spannung der Senti-
mentalität, die erſt der Gegenſatz erzeugt, wie in der Landſchaftmalerei. Der
gebildete Menſch erſcheint unwahr und getheilt, man ſucht den ungetheilten,
wahren und glücklichen da, wo man dagegen auf die größeren Intereſſen
verzichten muß; daher zieht ſich denn dieſe Dicht-Art dem Stoffe nach immer
mehr zu den Ständen zurück, die ſo wenig als möglich vom Raffinement
der Bildung berührt werden, zu Landleuten, Hirten. Wir können, was
ihre frühere Geſchichte betrifft, nur andeuten, wie jene Spielerei und Affec-
tation des Schäferweſens, worunter Höflinge verſteckt waren, in Italien auf-
kommt, von da nach Spanien, Frankreich, Deutſchland wandert, hier durch die
Nürnberger ſich ganz zum Kindiſchen verſchnörkelt, wie ſpäter Geßner ſie zu
vereinfachen und zu veredeln meint, indem er die Sentimentalität, nicht in
jenem allgemeinen, ächten, ſondern im ſpezifiſch weichlichen, weinerlichen
Sinn ihr eingießt und aus Naturmenſchen ihr empfindſames Gegentheil
macht. Sieht man dieſe Dichtungs-Form genauer an und fragt ſich, was
der richtige Styl ihrer Behandlung in der modernen Zeit ſei, ſo drängt ſich
eine doppelte Beziehung auf: nach der einen Seite hat für uns die Idylle
einen claſſiſchen Charakter, denn ſie zeigt ein ungebrochenes, naives Leben,
wie es im Ganzen und Großen dem Alterthum eigen war; nach der andern
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führen und man ſoll ſich wohl erinnern, daß gerade bei den Alten ſelbſt die
Idylle es war, worin der realiſtiſche, charakteriſtiſche Styl ein Gefäß ſeiner
relativen Ausbildung fand. Es ergeben ſich naturgemäß aus dieſer doppelten
Beziehung zwei Stylrichtungen, die ſich aber vor extremem Gegenſatz hüten
müſſen. Fr. Müller, der Maler, gab unter dem Einfluſſe des erwachten
Intereſſes für das Volkslied der Idylle zuerſt realiſtiſche Wahrheit, ſpäter
floß dieſer Auffaſſung der ganze Gewinn an innigem Einblick in die wahren
Heimlichkeiten des Landlebens zu, den die Dialekts-Poeſie, namentlich die
Hebel’ſche, brachte, man fieng überhaupt an, geſunder, objectiver zu ſchauen,
und daraus haben ſich denn, nachdem Immermann mit dem trefflichen Dorf-
ſchulzen in ſeinem Münchhauſen vorangegangen, die Idyllen in Novellen-
form, die Dorfgeſchichten gebildet. Wir haben in anderem Zuſammenhange
(§. 881, Anm. 1.) bereits das Weſentliche dieſes Zweigs kurz bezeichnet.
Das Landleben erſcheint hier nicht wie eine Oaſe, worin nur die Milch der
frommen Denkungsart fließt; hier gibt es Kabalen, Neid, Engherzigkeit,
Unſauberes aller Art, wie in der großen Welt, der Landmann wird auch
nicht mehr vom Städter unwahr abgeſchieden, kommt vielmehr in Verkehr
und Conflicte mit ihm, es erfolgen Rücktritte, Uebertritte zwiſchen beiden
Ständen, kurz die Uebel der Geſellſchaft und das Glück der ländlichen
Naivetät greifen ineinander über. Und dennoch muß der Kern der geſchloſſenen
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[1320/0184] des öffentlichen, politiſchen Lebens. Es iſt dieſelbe Spannung der Senti- mentalität, die erſt der Gegenſatz erzeugt, wie in der Landſchaftmalerei. Der gebildete Menſch erſcheint unwahr und getheilt, man ſucht den ungetheilten, wahren und glücklichen da, wo man dagegen auf die größeren Intereſſen verzichten muß; daher zieht ſich denn dieſe Dicht-Art dem Stoffe nach immer mehr zu den Ständen zurück, die ſo wenig als möglich vom Raffinement der Bildung berührt werden, zu Landleuten, Hirten. Wir können, was ihre frühere Geſchichte betrifft, nur andeuten, wie jene Spielerei und Affec- tation des Schäferweſens, worunter Höflinge verſteckt waren, in Italien auf- kommt, von da nach Spanien, Frankreich, Deutſchland wandert, hier durch die Nürnberger ſich ganz zum Kindiſchen verſchnörkelt, wie ſpäter Geßner ſie zu vereinfachen und zu veredeln meint, indem er die Sentimentalität, nicht in jenem allgemeinen, ächten, ſondern im ſpezifiſch weichlichen, weinerlichen Sinn ihr eingießt und aus Naturmenſchen ihr empfindſames Gegentheil macht. Sieht man dieſe Dichtungs-Form genauer an und fragt ſich, was der richtige Styl ihrer Behandlung in der modernen Zeit ſei, ſo drängt ſich eine doppelte Beziehung auf: nach der einen Seite hat für uns die Idylle einen claſſiſchen Charakter, denn ſie zeigt ein ungebrochenes, naives Leben, wie es im Ganzen und Großen dem Alterthum eigen war; nach der andern Seite ſoll dieſe Beziehung zu keiner Unwahrheit, keiner falſchen Idealiſirung führen und man ſoll ſich wohl erinnern, daß gerade bei den Alten ſelbſt die Idylle es war, worin der realiſtiſche, charakteriſtiſche Styl ein Gefäß ſeiner relativen Ausbildung fand. Es ergeben ſich naturgemäß aus dieſer doppelten Beziehung zwei Stylrichtungen, die ſich aber vor extremem Gegenſatz hüten müſſen. Fr. Müller, der Maler, gab unter dem Einfluſſe des erwachten Intereſſes für das Volkslied der Idylle zuerſt realiſtiſche Wahrheit, ſpäter floß dieſer Auffaſſung der ganze Gewinn an innigem Einblick in die wahren Heimlichkeiten des Landlebens zu, den die Dialekts-Poeſie, namentlich die Hebel’ſche, brachte, man fieng überhaupt an, geſunder, objectiver zu ſchauen, und daraus haben ſich denn, nachdem Immermann mit dem trefflichen Dorf- ſchulzen in ſeinem Münchhauſen vorangegangen, die Idyllen in Novellen- form, die Dorfgeſchichten gebildet. Wir haben in anderem Zuſammenhange (§. 881, Anm. 1.) bereits das Weſentliche dieſes Zweigs kurz bezeichnet. Das Landleben erſcheint hier nicht wie eine Oaſe, worin nur die Milch der frommen Denkungsart fließt; hier gibt es Kabalen, Neid, Engherzigkeit, Unſauberes aller Art, wie in der großen Welt, der Landmann wird auch nicht mehr vom Städter unwahr abgeſchieden, kommt vielmehr in Verkehr und Conflicte mit ihm, es erfolgen Rücktritte, Uebertritte zwiſchen beiden Ständen, kurz die Uebel der Geſellſchaft und das Glück der ländlichen Naivetät greifen ineinander über. Und dennoch muß der Kern der geſchloſſenen Schönheit des kindlich Engen, der gemüthlichen Heimlichkeit im geſunden

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/184>, abgerufen am 29.11.2024.