auf welche doch die ganze Dicht-Art, realistisch in ihrem innersten Wesen, gegründet ist. Der Volksroman, der Ableger des Sancho Pansa, be- gleitet wirklich den aristokratischen Roman, wie dieser den Don Quixote, von den spanischen Schelmen- und Räuber-Romanen bis heute, wo er sich in den Dorfgeschichten eine neue Gestalt gegeben. Räuber, Abentheurer aller Art, wandernde Musikanten, Studenten, Handwerksbursche, Bediente, arme Findlinge, die schließlich emporkommen, endlich Bauern: wir dürfen dieß ganze Personal im Volksromane zusammenfassen, der uns die Welt kennen lehrt, wie sie ist, wie sie mit rauhem Stoße den jungen Lehrling enttäuscht und ihm das Schulgeld grob und hart abfordert. Der Styl geht um so viel naturalistischer in diese Gröbe des Lebens, als der Geist der Wirklichkeit die ganze Grundlage bildet. Er ist in den frühesten Er- scheinungen noch ein Stück ächten Volkstons, namentlich in dem trefflichen Simplicissimus, auch in den "wahrhaftigen Gesichten Philander's von Sit- tewald," die zwar didaktisch sind, aber so viel ächt Episches enthalten: Werken, durch welche der Geist der Enttäuschung und Erfahrung, der Er- kenntniß der Argheit und "Hypokrisie" der Welt, der über das sechszehnte und siebenzehnte Jahrhundert kam, mit so scharfer Schneide geht. Wir können auch die Robinsonaden nach der einen Seite in unsern Zusammenhang ziehen, als Ausdruck einer Stimmung, welche die übersatte und üppige Cultur erfrischen wollte, indem sie ihr zeigte, wie schwer und interessant ihre An- fänge sind: sie sollte wieder Natur-Reiz erhalten durch das Bild eines Schiffbrüchigen, der von allen ihren Vortheilen getrennt ist und von vorn beginnen muß. Diese Classe steht aber zugleich in einem größern, bedeu- tenderen Zusammenhang und weist merkwürdig auf die Ideen-Strömung hin, die mit Rousseau ihren stärkeren Lauf anhob; sie verkündigt einfache, natur- gemäße, freie Staats- und Gesellschafts-Bildung. -- Die Dorfgeschichten der neueren Zeit gehören ihrem beschränkten Umfange nach eigentlich in die Geschichte der Idylle und sind bei der modernen Form derselben noch ein- mal aufzunehmen; doch ist nicht zu übersehen, daß diese selbst an dem hier vorliegenden Gegensatze Theil hat, indem das falsche Bild des Idyllischen in der bekannten Form des Schäferwesens von der höfisch aristokratischen Dichtung ausgeht, das denn auch im eigentlichen Romane dieses Geschmacks einen starken Einschlag bildet. Die Dorfgeschichte gibt dagegen wahre Land- leute, enthüllt die Härten, die Uebel des Bauernlebens, hält es nicht schlecht- hin abgeschlossen von der verderblichen Berührung mit der raffinirten Cultur, und doch rettet sie zugleich die Einfalt, die Schönheit des Heimlichen und Beschränkten. So gehört sie in den Zug der Opposition gegen die aristo- kratische Romanliteratur. -- Der bürgerliche Roman dagegen ist die eigentlich normale Spezies. Er vereinigt das Wahre des aristokratischen und des Volksromans, denn er führt uns in die mittlere Schichte der Ge-
auf welche doch die ganze Dicht-Art, realiſtiſch in ihrem innerſten Weſen, gegründet iſt. Der Volksroman, der Ableger des Sancho Panſa, be- gleitet wirklich den ariſtokratiſchen Roman, wie dieſer den Don Quixote, von den ſpaniſchen Schelmen- und Räuber-Romanen bis heute, wo er ſich in den Dorfgeſchichten eine neue Geſtalt gegeben. Räuber, Abentheurer aller Art, wandernde Muſikanten, Studenten, Handwerksburſche, Bediente, arme Findlinge, die ſchließlich emporkommen, endlich Bauern: wir dürfen dieß ganze Perſonal im Volksromane zuſammenfaſſen, der uns die Welt kennen lehrt, wie ſie iſt, wie ſie mit rauhem Stoße den jungen Lehrling enttäuſcht und ihm das Schulgeld grob und hart abfordert. Der Styl geht um ſo viel naturaliſtiſcher in dieſe Gröbe des Lebens, als der Geiſt der Wirklichkeit die ganze Grundlage bildet. Er iſt in den früheſten Er- ſcheinungen noch ein Stück ächten Volkstons, namentlich in dem trefflichen Simpliciſſimus, auch in den „wahrhaftigen Geſichten Philander’s von Sit- tewald,“ die zwar didaktiſch ſind, aber ſo viel ächt Epiſches enthalten: Werken, durch welche der Geiſt der Enttäuſchung und Erfahrung, der Er- kenntniß der Argheit und „Hypokriſie“ der Welt, der über das ſechszehnte und ſiebenzehnte Jahrhundert kam, mit ſo ſcharfer Schneide geht. Wir können auch die Robinſonaden nach der einen Seite in unſern Zuſammenhang ziehen, als Ausdruck einer Stimmung, welche die überſatte und üppige Cultur erfriſchen wollte, indem ſie ihr zeigte, wie ſchwer und intereſſant ihre An- fänge ſind: ſie ſollte wieder Natur-Reiz erhalten durch das Bild eines Schiffbrüchigen, der von allen ihren Vortheilen getrennt iſt und von vorn beginnen muß. Dieſe Claſſe ſteht aber zugleich in einem größern, bedeu- tenderen Zuſammenhang und weist merkwürdig auf die Ideen-Strömung hin, die mit Rouſſeau ihren ſtärkeren Lauf anhob; ſie verkündigt einfache, natur- gemäße, freie Staats- und Geſellſchafts-Bildung. — Die Dorfgeſchichten der neueren Zeit gehören ihrem beſchränkten Umfange nach eigentlich in die Geſchichte der Idylle und ſind bei der modernen Form derſelben noch ein- mal aufzunehmen; doch iſt nicht zu überſehen, daß dieſe ſelbſt an dem hier vorliegenden Gegenſatze Theil hat, indem das falſche Bild des Idylliſchen in der bekannten Form des Schäferweſens von der höfiſch ariſtokratiſchen Dichtung ausgeht, das denn auch im eigentlichen Romane dieſes Geſchmacks einen ſtarken Einſchlag bildet. Die Dorfgeſchichte gibt dagegen wahre Land- leute, enthüllt die Härten, die Uebel des Bauernlebens, hält es nicht ſchlecht- hin abgeſchloſſen von der verderblichen Berührung mit der raffinirten Cultur, und doch rettet ſie zugleich die Einfalt, die Schönheit des Heimlichen und Beſchränkten. So gehört ſie in den Zug der Oppoſition gegen die ariſto- kratiſche Romanliteratur. — Der bürgerliche Roman dagegen iſt die eigentlich normale Spezies. Er vereinigt das Wahre des ariſtokratiſchen und des Volksromans, denn er führt uns in die mittlere Schichte der Ge-
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gegründet iſt. Der Volksroman, der Ableger des Sancho Panſa, be-
gleitet wirklich den ariſtokratiſchen Roman, wie dieſer den Don Quixote,
von den ſpaniſchen Schelmen- und Räuber-Romanen bis heute, wo er ſich
in den Dorfgeſchichten eine neue Geſtalt gegeben. Räuber, Abentheurer
aller Art, wandernde Muſikanten, Studenten, Handwerksburſche, Bediente,
arme Findlinge, die ſchließlich emporkommen, endlich Bauern: wir dürfen
dieß ganze Perſonal im Volksromane zuſammenfaſſen, der uns die Welt
kennen lehrt, wie ſie iſt, wie ſie mit rauhem Stoße den jungen Lehrling
enttäuſcht und ihm das Schulgeld grob und hart abfordert. Der Styl
geht um ſo viel naturaliſtiſcher in dieſe Gröbe des Lebens, als der Geiſt
der Wirklichkeit die ganze Grundlage bildet. Er iſt in den früheſten Er-
ſcheinungen noch ein Stück ächten Volkstons, namentlich in dem trefflichen
Simpliciſſimus, auch in den „wahrhaftigen Geſichten Philander’s von Sit-
tewald,“ die zwar didaktiſch ſind, aber ſo viel ächt Epiſches enthalten:
Werken, durch welche der Geiſt der Enttäuſchung und Erfahrung, der Er-
kenntniß der Argheit und „Hypokriſie“ der Welt, der über das ſechszehnte
und ſiebenzehnte Jahrhundert kam, mit ſo ſcharfer Schneide geht. Wir können
auch die Robinſonaden nach der einen Seite in unſern Zuſammenhang ziehen,
als Ausdruck einer Stimmung, welche die überſatte und üppige Cultur
erfriſchen wollte, indem ſie ihr zeigte, wie ſchwer und intereſſant ihre An-
fänge ſind: ſie ſollte wieder Natur-Reiz erhalten durch das Bild eines
Schiffbrüchigen, der von allen ihren Vortheilen getrennt iſt und von vorn
beginnen muß. Dieſe Claſſe ſteht aber zugleich in einem größern, bedeu-
tenderen Zuſammenhang und weist merkwürdig auf die Ideen-Strömung hin,
die mit Rouſſeau ihren ſtärkeren Lauf anhob; ſie verkündigt einfache, natur-
gemäße, freie Staats- und Geſellſchafts-Bildung. — Die Dorfgeſchichten
der neueren Zeit gehören ihrem beſchränkten Umfange nach eigentlich in die
Geſchichte der Idylle und ſind bei der modernen Form derſelben noch ein-
mal aufzunehmen; doch iſt nicht zu überſehen, daß dieſe ſelbſt an dem hier
vorliegenden Gegenſatze Theil hat, indem das falſche Bild des Idylliſchen
in der bekannten Form des Schäferweſens von der höfiſch ariſtokratiſchen
Dichtung ausgeht, das denn auch im eigentlichen Romane dieſes Geſchmacks
einen ſtarken Einſchlag bildet. Die Dorfgeſchichte gibt dagegen wahre Land-
leute, enthüllt die Härten, die Uebel des Bauernlebens, hält es nicht ſchlecht-
hin abgeſchloſſen von der verderblichen Berührung mit der raffinirten Cultur,
und doch rettet ſie zugleich die Einfalt, die Schönheit des Heimlichen und
Beſchränkten. So gehört ſie in den Zug der Oppoſition gegen die ariſto-
kratiſche Romanliteratur. — Der bürgerliche Roman dagegen iſt die
eigentlich normale Spezies. Er vereinigt das Wahre des ariſtokratiſchen
und des Volksromans, denn er führt uns in die mittlere Schichte der Ge-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/177>, abgerufen am 23.11.2024.
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