des an sich Möglichen, aber Seltenen und Unwahrscheinlichen blieb, und der Roman, sofern er sich auf diese Richtung wirft, hat daher den Begriff des Romanhaften begründet, d. h. eines Weltbildes, wo in jedem Momente der Zufall Unterbrechungen des gewöhnlichen Gangs der Dinge bereit hält, die der Eitelkeit des Herzens, den Wünschen der Phantasie ent- gegenkommen, wie die Vorstellung, als dürfe man nur in den nächsten besten Postwagen sitzen, um eine verkappte Prinzessin darin zu finden, die man dann von einem Schock Räuber befreit, u. dergl. Dieß Abentheuerliche lag allerdings schon in den griechischen Anfängen des Romans, auf die wir, als auf verlorene Vorposten, nicht weiter eingehen können. Gewöhnt sich der Leser, die Welt so aufzufassen, so wird ihm alsgemach das Hirn ver- brannt und da er sich in die Rolle der Helden denkt, in die sich Alles ver- liebt, wie sie nur die Schnalle einer Thüre aufdrücken, so verliert er die Ein- fachheit des Unbewußten und sieht sich stets im Spiegel. Wir haben hier schon eine Seite, die dem Roman etwas Bedenkliches gibt und ihn aus dem Gebiete der Aesthetik unter das Tribunal der Pädagogik zu ziehen droht; wir reden wohl zunächst von dem schlechten Roman, allein auch der gute streift unwillkürlich an diese Nährung eines abentheuerlichen, selbst- bewußt eiteln Weltbildes. Endlich ist derjenige Weg der Herausarbeitung des Idealen aus der Prosa zu nennen, der eigentlich mit allen andern sich vereinigt, aber ebensosehr, wie wir sehen werden, auch eine besondere Rich- tung begründet: der Roman sucht die poetische Lebendigkeit da, wohin sie sich bei wachsender Vertrocknung des öffentlichen geflüchtet hat: im engeren Kreise, der Familie, dem Privatleben, in der Individualität, im Innern (vergl. §. 375). Es folgt aus dem Obigen, daß hier, im Conflicte dieser innern Lebendigkeit mit der Härte der äußern Welt, das eigentliche Thema des Romans liegt. Wir werden dieß im Folgenden wieder auffassen.
3. Der Romandichter mag einen gegebenen Stoff aus der Wirklichkeit behandeln, dieß wird hier wie überall das Bessere, das Naturgemäße sein. Allein er kann Nebenhandlungen, ja die Haupthandlung frei erfinden, gänzlich umbilden, wogegen der epische Dichter an die Umbildung, welche ein Stoff durch die feststehende Sage erfahren hat, gebunden und nur in der Durch- führung, Entwicklung, Vergegenwärtigung frei ist. Der Romandichter ist also weit mehr freier Erfinder und schon in dieser Beziehung reiner Kunst- poet. Es ist nun aber auf den in §. 865 aufgestellten Satz zurückzuver- weisen: "der Dichter weiß oder behauptet sein Product nicht als solches." Die epische Objectivität fordert, daß auch der frei schaltende Romandichter sich stelle, als thue er nichts dazu, als mache sich die Fabel von selbst oder zwinge ihn, weil sie einmal thatsächlich sei, so und nicht anders zu erzählen. Es ist dieß eine stillschweigende Convention zwischen ihm und dem Leser. Dadurch tritt ein neuer, besonderer Zug von Ironie zu derjenigen,
des an ſich Möglichen, aber Seltenen und Unwahrſcheinlichen blieb, und der Roman, ſofern er ſich auf dieſe Richtung wirft, hat daher den Begriff des Romanhaften begründet, d. h. eines Weltbildes, wo in jedem Momente der Zufall Unterbrechungen des gewöhnlichen Gangs der Dinge bereit hält, die der Eitelkeit des Herzens, den Wünſchen der Phantaſie ent- gegenkommen, wie die Vorſtellung, als dürfe man nur in den nächſten beſten Poſtwagen ſitzen, um eine verkappte Prinzeſſin darin zu finden, die man dann von einem Schock Räuber befreit, u. dergl. Dieß Abentheuerliche lag allerdings ſchon in den griechiſchen Anfängen des Romans, auf die wir, als auf verlorene Vorpoſten, nicht weiter eingehen können. Gewöhnt ſich der Leſer, die Welt ſo aufzufaſſen, ſo wird ihm alsgemach das Hirn ver- brannt und da er ſich in die Rolle der Helden denkt, in die ſich Alles ver- liebt, wie ſie nur die Schnalle einer Thüre aufdrücken, ſo verliert er die Ein- fachheit des Unbewußten und ſieht ſich ſtets im Spiegel. Wir haben hier ſchon eine Seite, die dem Roman etwas Bedenkliches gibt und ihn aus dem Gebiete der Aeſthetik unter das Tribunal der Pädagogik zu ziehen droht; wir reden wohl zunächſt von dem ſchlechten Roman, allein auch der gute ſtreift unwillkürlich an dieſe Nährung eines abentheuerlichen, ſelbſt- bewußt eiteln Weltbildes. Endlich iſt derjenige Weg der Herausarbeitung des Idealen aus der Proſa zu nennen, der eigentlich mit allen andern ſich vereinigt, aber ebenſoſehr, wie wir ſehen werden, auch eine beſondere Rich- tung begründet: der Roman ſucht die poetiſche Lebendigkeit da, wohin ſie ſich bei wachſender Vertrocknung des öffentlichen geflüchtet hat: im engeren Kreiſe, der Familie, dem Privatleben, in der Individualität, im Innern (vergl. §. 375). Es folgt aus dem Obigen, daß hier, im Conflicte dieſer innern Lebendigkeit mit der Härte der äußern Welt, das eigentliche Thema des Romans liegt. Wir werden dieß im Folgenden wieder auffaſſen.
3. Der Romandichter mag einen gegebenen Stoff aus der Wirklichkeit behandeln, dieß wird hier wie überall das Beſſere, das Naturgemäße ſein. Allein er kann Nebenhandlungen, ja die Haupthandlung frei erfinden, gänzlich umbilden, wogegen der epiſche Dichter an die Umbildung, welche ein Stoff durch die feſtſtehende Sage erfahren hat, gebunden und nur in der Durch- führung, Entwicklung, Vergegenwärtigung frei iſt. Der Romandichter iſt alſo weit mehr freier Erfinder und ſchon in dieſer Beziehung reiner Kunſt- poet. Es iſt nun aber auf den in §. 865 aufgeſtellten Satz zurückzuver- weiſen: „der Dichter weiß oder behauptet ſein Product nicht als ſolches.“ Die epiſche Objectivität fordert, daß auch der frei ſchaltende Romandichter ſich ſtelle, als thue er nichts dazu, als mache ſich die Fabel von ſelbſt oder zwinge ihn, weil ſie einmal thatſächlich ſei, ſo und nicht anders zu erzählen. Es iſt dieß eine ſtillſchweigende Convention zwiſchen ihm und dem Leſer. Dadurch tritt ein neuer, beſonderer Zug von Ironie zu derjenigen,
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[1306/0170]
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des Romanhaften begründet, d. h. eines Weltbildes, wo in jedem
Momente der Zufall Unterbrechungen des gewöhnlichen Gangs der Dinge
bereit hält, die der Eitelkeit des Herzens, den Wünſchen der Phantaſie ent-
gegenkommen, wie die Vorſtellung, als dürfe man nur in den nächſten
beſten Poſtwagen ſitzen, um eine verkappte Prinzeſſin darin zu finden, die
man dann von einem Schock Räuber befreit, u. dergl. Dieß Abentheuerliche
lag allerdings ſchon in den griechiſchen Anfängen des Romans, auf die
wir, als auf verlorene Vorpoſten, nicht weiter eingehen können. Gewöhnt
ſich der Leſer, die Welt ſo aufzufaſſen, ſo wird ihm alsgemach das Hirn ver-
brannt und da er ſich in die Rolle der Helden denkt, in die ſich Alles ver-
liebt, wie ſie nur die Schnalle einer Thüre aufdrücken, ſo verliert er die Ein-
fachheit des Unbewußten und ſieht ſich ſtets im Spiegel. Wir haben hier
ſchon eine Seite, die dem Roman etwas Bedenkliches gibt und ihn aus
dem Gebiete der Aeſthetik unter das Tribunal der Pädagogik zu ziehen
droht; wir reden wohl zunächſt von dem ſchlechten Roman, allein auch der
gute ſtreift unwillkürlich an dieſe Nährung eines abentheuerlichen, ſelbſt-
bewußt eiteln Weltbildes. Endlich iſt derjenige Weg der Herausarbeitung
des Idealen aus der Proſa zu nennen, der eigentlich mit allen andern ſich
vereinigt, aber ebenſoſehr, wie wir ſehen werden, auch eine beſondere Rich-
tung begründet: der Roman ſucht die poetiſche Lebendigkeit da, wohin ſie
ſich bei wachſender Vertrocknung des öffentlichen geflüchtet hat: im engeren
Kreiſe, der Familie, dem Privatleben, in der Individualität, im Innern
(vergl. §. 375). Es folgt aus dem Obigen, daß hier, im Conflicte dieſer
innern Lebendigkeit mit der Härte der äußern Welt, das eigentliche Thema
des Romans liegt. Wir werden dieß im Folgenden wieder auffaſſen.
3. Der Romandichter mag einen gegebenen Stoff aus der Wirklichkeit
behandeln, dieß wird hier wie überall das Beſſere, das Naturgemäße ſein.
Allein er kann Nebenhandlungen, ja die Haupthandlung frei erfinden, gänzlich
umbilden, wogegen der epiſche Dichter an die Umbildung, welche ein Stoff
durch die feſtſtehende Sage erfahren hat, gebunden und nur in der Durch-
führung, Entwicklung, Vergegenwärtigung frei iſt. Der Romandichter iſt
alſo weit mehr freier Erfinder und ſchon in dieſer Beziehung reiner Kunſt-
poet. Es iſt nun aber auf den in §. 865 aufgeſtellten Satz zurückzuver-
weiſen: „der Dichter weiß oder behauptet ſein Product nicht als ſolches.“
Die epiſche Objectivität fordert, daß auch der frei ſchaltende Romandichter
ſich ſtelle, als thue er nichts dazu, als mache ſich die Fabel von ſelbſt
oder zwinge ihn, weil ſie einmal thatſächlich ſei, ſo und nicht anders zu
erzählen. Es iſt dieß eine ſtillſchweigende Convention zwiſchen ihm und dem
Leſer. Dadurch tritt ein neuer, beſonderer Zug von Ironie zu derjenigen,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/170>, abgerufen am 23.11.2024.
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