finirung der Genüsse. Hegel bezeichnet nun mit einfach richtiger Bestimmung das Wesen des Romans, wenn er (Aesth. Th. 3, S. 395) sagt, er erringe der Poesie auf diesem Boden der Prosa ihr verlorenes Recht wieder. Es kann dieß auf verschiedenen Wegen geschehen. Der erste ist der, daß die Handlung in Zeiten zurückverlegt wird, wo die Prosa noch nicht oder nur wenig Meisterinn der Zustände war; allein dieß ist nur scheinbar die einfachste Auskunft, denn das Wissen um die unerbittliche Natur der Realität ist jedenfalls im Dichter und theilt sich dem Gedichte mit; wo nun eine ganze Dicht-Art einmal auf dieß Wissen gestellt ist, sucht sie ihrem Wesen gemäß der Poetische gerade in einem Kampfe der innern Lebendigkeit des Menschen mit der Härte der Bedingungen des Daseins, und Zustände, die noch so flüssig sind, daß sie einer schönen Regung des Lebens keine Hindernisse entgegenbringen, entbehren daher für den Roman ebenso des Salzes, wie die plastische Schönheit der antiken Culturformen für den Maler. Ein zweites Mittel ist die Aufsuchung der grünen Stellen mitten in der einge- tretenen Prosa, sei es der Zeit nach (Revolutionszustände u. s. w.), sei es dem Unterschiede der Stände, Lebensstellungen nach (Adel, herumziehende Künstler, Zigeuner, Räuber u. dergl.). Dieß ist eine sehr natürliche Rich- tung des Romans und wir kommen darauf zurück. Ein dritter, mit den beiden genannten begreiflich im innigsten Zusammenhang stehender Weg ist die Reservirung gewisser offener Stellen, wo ein Ahnungsvolles, Unge- wöhnliches durchbricht und der harten Breite des Wirklichen das Gegenge- wicht hält. Der bedeutendere Geist wird diese Blitze der Idealität aus tiefen Abgründen des Seelenlebens aufsteigen lassen, wie Göthe in den Partieen von Mignon, die wie ein Vulkan aus den Flächen seines W. Meister hervorsprühen; solche psychisch mystische Motive sind eine Art von Surrogat für den verlorenen Mythus, und wahrlich ein besseres, als jene absurde Oberleitung der geheimnißvollen Männer des Thurmes im W. Meister. Es versteht sich übrigens, daß wir hiemit keine Tollheiten moderner Ro- mantik rechtfertigen wollen. Der gewöhnliche Weg aber besteht einfach in der Erfindung auffallender, überraschender Begebenheiten. Hier ist es nun allerdings ganz in der Ordnung, daß im Roman der Zufall als Rächer des lebendigen Menschen an der Prosa der Zustände eine besonders starke Rolle spielt, allein von dieser Seite liegt eine Schwäche nahe, die mit den Anfängen des Romans zusammenhängt. Er ist, wie oben berührt, aus den Ritterbüchern entstanden, die aus dem romantischen Epos hervorgegangen waren, aus einem phantastischen Weltbilde, wo dem Ritter verfolgte Jung- frauen, Riesen, Zwerge, Feeen auf Weg und Steg begegneten und wo ihm Errettungen, Siege, Thaten überschwenglicher Tapferkeit ein Kinderspiel waren. Das eigentliche Wunder, das absolut Unmögliche des romantischen Glaubens, verschwand mit der Zeit, die unwahre Leichtigkeit und Häufigkeit
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finirung der Genüſſe. Hegel bezeichnet nun mit einfach richtiger Beſtimmung das Weſen des Romans, wenn er (Aeſth. Th. 3, S. 395) ſagt, er erringe der Poeſie auf dieſem Boden der Proſa ihr verlorenes Recht wieder. Es kann dieß auf verſchiedenen Wegen geſchehen. Der erſte iſt der, daß die Handlung in Zeiten zurückverlegt wird, wo die Proſa noch nicht oder nur wenig Meiſterinn der Zuſtände war; allein dieß iſt nur ſcheinbar die einfachſte Auskunft, denn das Wiſſen um die unerbittliche Natur der Realität iſt jedenfalls im Dichter und theilt ſich dem Gedichte mit; wo nun eine ganze Dicht-Art einmal auf dieß Wiſſen geſtellt iſt, ſucht ſie ihrem Weſen gemäß der Poetiſche gerade in einem Kampfe der innern Lebendigkeit des Menſchen mit der Härte der Bedingungen des Daſeins, und Zuſtände, die noch ſo flüſſig ſind, daß ſie einer ſchönen Regung des Lebens keine Hinderniſſe entgegenbringen, entbehren daher für den Roman ebenſo des Salzes, wie die plaſtiſche Schönheit der antiken Culturformen für den Maler. Ein zweites Mittel iſt die Aufſuchung der grünen Stellen mitten in der einge- tretenen Proſa, ſei es der Zeit nach (Revolutionszuſtände u. ſ. w.), ſei es dem Unterſchiede der Stände, Lebensſtellungen nach (Adel, herumziehende Künſtler, Zigeuner, Räuber u. dergl.). Dieß iſt eine ſehr natürliche Rich- tung des Romans und wir kommen darauf zurück. Ein dritter, mit den beiden genannten begreiflich im innigſten Zuſammenhang ſtehender Weg iſt die Reſervirung gewiſſer offener Stellen, wo ein Ahnungsvolles, Unge- wöhnliches durchbricht und der harten Breite des Wirklichen das Gegenge- wicht hält. Der bedeutendere Geiſt wird dieſe Blitze der Idealität aus tiefen Abgründen des Seelenlebens aufſteigen laſſen, wie Göthe in den Partieen von Mignon, die wie ein Vulkan aus den Flächen ſeines W. Meiſter hervorſprühen; ſolche pſychiſch myſtiſche Motive ſind eine Art von Surrogat für den verlorenen Mythus, und wahrlich ein beſſeres, als jene abſurde Oberleitung der geheimnißvollen Männer des Thurmes im W. Meiſter. Es verſteht ſich übrigens, daß wir hiemit keine Tollheiten moderner Ro- mantik rechtfertigen wollen. Der gewöhnliche Weg aber beſteht einfach in der Erfindung auffallender, überraſchender Begebenheiten. Hier iſt es nun allerdings ganz in der Ordnung, daß im Roman der Zufall als Rächer des lebendigen Menſchen an der Proſa der Zuſtände eine beſonders ſtarke Rolle ſpielt, allein von dieſer Seite liegt eine Schwäche nahe, die mit den Anfängen des Romans zuſammenhängt. Er iſt, wie oben berührt, aus den Ritterbüchern entſtanden, die aus dem romantiſchen Epos hervorgegangen waren, aus einem phantaſtiſchen Weltbilde, wo dem Ritter verfolgte Jung- frauen, Rieſen, Zwerge, Feeen auf Weg und Steg begegneten und wo ihm Errettungen, Siege, Thaten überſchwenglicher Tapferkeit ein Kinderſpiel waren. Das eigentliche Wunder, das abſolut Unmögliche des romantiſchen Glaubens, verſchwand mit der Zeit, die unwahre Leichtigkeit und Häufigkeit
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finirung der Genüſſe. Hegel bezeichnet nun mit einfach richtiger Beſtimmung
das Weſen des Romans, wenn er (Aeſth. Th. 3, S. 395) ſagt, er erringe der
Poeſie auf dieſem Boden der Proſa ihr verlorenes Recht wieder. Es kann
dieß auf verſchiedenen Wegen geſchehen. Der erſte iſt der, daß die Handlung
in Zeiten zurückverlegt wird, wo die Proſa noch nicht oder nur wenig
Meiſterinn der Zuſtände war; allein dieß iſt nur ſcheinbar die einfachſte
Auskunft, denn das Wiſſen um die unerbittliche Natur der Realität iſt
jedenfalls im Dichter und theilt ſich dem Gedichte mit; wo nun eine ganze
Dicht-Art einmal auf dieß Wiſſen geſtellt iſt, ſucht ſie ihrem Weſen gemäß
der Poetiſche gerade in einem Kampfe der innern Lebendigkeit des Menſchen
mit der Härte der Bedingungen des Daſeins, und Zuſtände, die noch ſo
flüſſig ſind, daß ſie einer ſchönen Regung des Lebens keine Hinderniſſe
entgegenbringen, entbehren daher für den Roman ebenſo des Salzes, wie
die plaſtiſche Schönheit der antiken Culturformen für den Maler. Ein
zweites Mittel iſt die Aufſuchung der grünen Stellen mitten in der einge-
tretenen Proſa, ſei es der Zeit nach (Revolutionszuſtände u. ſ. w.), ſei es
dem Unterſchiede der Stände, Lebensſtellungen nach (Adel, herumziehende
Künſtler, Zigeuner, Räuber u. dergl.). Dieß iſt eine ſehr natürliche Rich-
tung des Romans und wir kommen darauf zurück. Ein dritter, mit den
beiden genannten begreiflich im innigſten Zuſammenhang ſtehender Weg iſt
die Reſervirung gewiſſer offener Stellen, wo ein Ahnungsvolles, Unge-
wöhnliches durchbricht und der harten Breite des Wirklichen das Gegenge-
wicht hält. Der bedeutendere Geiſt wird dieſe Blitze der Idealität aus
tiefen Abgründen des Seelenlebens aufſteigen laſſen, wie Göthe in den
Partieen von Mignon, die wie ein Vulkan aus den Flächen ſeines W. Meiſter
hervorſprühen; ſolche pſychiſch myſtiſche Motive ſind eine Art von Surrogat
für den verlorenen Mythus, und wahrlich ein beſſeres, als jene abſurde
Oberleitung der geheimnißvollen Männer des Thurmes im W. Meiſter.
Es verſteht ſich übrigens, daß wir hiemit keine Tollheiten moderner Ro-
mantik rechtfertigen wollen. Der gewöhnliche Weg aber beſteht einfach in
der Erfindung auffallender, überraſchender Begebenheiten. Hier iſt es nun
allerdings ganz in der Ordnung, daß im Roman der Zufall als Rächer
des lebendigen Menſchen an der Proſa der Zuſtände eine beſonders ſtarke
Rolle ſpielt, allein von dieſer Seite liegt eine Schwäche nahe, die mit den
Anfängen des Romans zuſammenhängt. Er iſt, wie oben berührt, aus
den Ritterbüchern entſtanden, die aus dem romantiſchen Epos hervorgegangen
waren, aus einem phantaſtiſchen Weltbilde, wo dem Ritter verfolgte Jung-
frauen, Rieſen, Zwerge, Feeen auf Weg und Steg begegneten und wo ihm
Errettungen, Siege, Thaten überſchwenglicher Tapferkeit ein Kinderſpiel
waren. Das eigentliche Wunder, das abſolut Unmögliche des romantiſchen
Glaubens, verſchwand mit der Zeit, die unwahre Leichtigkeit und Häufigkeit
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/169>, abgerufen am 24.11.2024.
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