der epischen Dichtung neben das erhabene, pathetische Heldengedicht ein Epos, das seinem Hauptinhalte nach rührendes, das Innerliche mehr betonendes, die 2.Einzelzüge individueller zeichnendes Sittengemälde ist, und in dieser Richtung entsteht zuletzt das kleine Bild des Volkslebens mit entferntem Anklang sen- timentaler Vertiefung in die Stille des Engen und der Natur: das Idyll.
1. Aristoteles unterscheidet (Poetik C. 24) ein einfaches und ein ver- wickeltes, ein pathetisches und ein ethisches Epos; einfach und pathetisch, sagt er, ist die Ilias, verwickelt und ethisch die Odyssee. Ethisch heißt hier, was wir sittenbildlich nennen, mit dem Unterschiede, daß das eigentliche Sittenbild in der Malerei keine Fabel hat und haben kann, sondern nur Gebaren, Gewöhnung, Zustände in ihrem bleibenden, wiederkehrenden Wesen schildert. Das Merkmal der verschlungenen Composition haben wir als untergeordnet nicht in den §. aufgenommen; natürlich aber ist es allerdings, daß, wo nicht die großen Leidenschaften den Inhalt bilden, welche auf dem Schauplatze der Heroenthat walten, dafür ein Reiz des Suchens und Fin- dens eintreten wird, der in der Composition, doch auch in der Fabel an sich begründet sein muß: Anziehungen, Spannungen, die hingehalten, nach manchem Wechsel befriedigt werden und sowohl nach Stoff, als Behandlung ein wärmeres, concentrirteres subjectives Element in das Epos bringen. Hiemit kündigt sich ein Motiv an, das erst im romantischen und modernen Ideal seine volle Ausbildung zu finden bestimmt ist: die Liebe. Im antiken Epos ist es eheliche Liebe mit Heimath und Hauswesen, was den Mittel- punct dieser Form, der Odyssee bildet. Aristoteles sagt: die Odyssee ist verschlungen, denn sie ist durchaus Erkennung (und sittenbildlich); d. h. die Spannung auf das Wiedersehen ist der poetische Reiz, sie wird durch viele, von der Composition ineinandergeschlungene Hemmungen hingehalten bis zum Ende. Da nun das Subject der Erkennung natürlich liebende Menschen sind, so erhellt, wie in der anagnorisis des Aristoteles der Keim oder das antike Vorbild des Romans als höchst interessante An- deutung oder Ahnung verborgen liegt. Und wirklich: die Odyssee ist "der antike Ur-Roman (J. P. Fr. Richter Vorsch. d. Aesth. §. 66). Es folgt von selbst, daß das Innerliche auch überhaupt mehr in den Vordergrund tritt, wenn Sehnsucht und Wiedersehen den Haupt-Inhalt bildet; Odysseus am Ufer der Insel der Kalypso in das Meer hinausweinend, die trauernde Pene- lope in der einsamen Kammer und der suchende Sohn sind Bilder eines inni- geren Seelenlebens. Nur daß natürlich das epische Grundgesetz, wonach alles Innerliche in sinnlicher Ausführlichkeit der Erscheinung sich geben muß, unangetastet bleibt. Auch die Natur wird jetzt mit subjectiverem Interesse beschaut, das Meer, die landschaftlichen Reize, die Grotten, Quellen, Bäume u. s. w. So erscheint die Odyssee wirklich als "der
der epiſchen Dichtung neben das erhabene, pathetiſche Heldengedicht ein Epos, das ſeinem Hauptinhalte nach rührendes, das Innerliche mehr betonendes, die 2.Einzelzüge individueller zeichnendes Sittengemälde iſt, und in dieſer Richtung entſteht zuletzt das kleine Bild des Volkslebens mit entferntem Anklang ſen- timentaler Vertiefung in die Stille des Engen und der Natur: das Idyll.
1. Ariſtoteles unterſcheidet (Poetik C. 24) ein einfaches und ein ver- wickeltes, ein pathetiſches und ein ethiſches Epos; einfach und pathetiſch, ſagt er, iſt die Ilias, verwickelt und ethiſch die Odyſſee. Ethiſch heißt hier, was wir ſittenbildlich nennen, mit dem Unterſchiede, daß das eigentliche Sittenbild in der Malerei keine Fabel hat und haben kann, ſondern nur Gebaren, Gewöhnung, Zuſtände in ihrem bleibenden, wiederkehrenden Weſen ſchildert. Das Merkmal der verſchlungenen Compoſition haben wir als untergeordnet nicht in den §. aufgenommen; natürlich aber iſt es allerdings, daß, wo nicht die großen Leidenſchaften den Inhalt bilden, welche auf dem Schauplatze der Heroenthat walten, dafür ein Reiz des Suchens und Fin- dens eintreten wird, der in der Compoſition, doch auch in der Fabel an ſich begründet ſein muß: Anziehungen, Spannungen, die hingehalten, nach manchem Wechſel befriedigt werden und ſowohl nach Stoff, als Behandlung ein wärmeres, concentrirteres ſubjectives Element in das Epos bringen. Hiemit kündigt ſich ein Motiv an, das erſt im romantiſchen und modernen Ideal ſeine volle Ausbildung zu finden beſtimmt iſt: die Liebe. Im antiken Epos iſt es eheliche Liebe mit Heimath und Hausweſen, was den Mittel- punct dieſer Form, der Odyſſee bildet. Ariſtoteles ſagt: die Odyſſee iſt verſchlungen, denn ſie iſt durchaus Erkennung (und ſittenbildlich); d. h. die Spannung auf das Wiederſehen iſt der poetiſche Reiz, ſie wird durch viele, von der Compoſition ineinandergeſchlungene Hemmungen hingehalten bis zum Ende. Da nun das Subject der Erkennung natürlich liebende Menſchen ſind, ſo erhellt, wie in der ἀναγνώρισις des Ariſtoteles der Keim oder das antike Vorbild des Romans als höchſt intereſſante An- deutung oder Ahnung verborgen liegt. Und wirklich: die Odyſſee iſt „der antike Ur-Roman (J. P. Fr. Richter Vorſch. d. Aeſth. §. 66). Es folgt von ſelbſt, daß das Innerliche auch überhaupt mehr in den Vordergrund tritt, wenn Sehnſucht und Wiederſehen den Haupt-Inhalt bildet; Odyſſeus am Ufer der Inſel der Kalypſo in das Meer hinausweinend, die trauernde Pene- lope in der einſamen Kammer und der ſuchende Sohn ſind Bilder eines inni- geren Seelenlebens. Nur daß natürlich das epiſche Grundgeſetz, wonach alles Innerliche in ſinnlicher Ausführlichkeit der Erſcheinung ſich geben muß, unangetaſtet bleibt. Auch die Natur wird jetzt mit ſubjectiverem Intereſſe beſchaut, das Meer, die landſchaftlichen Reize, die Grotten, Quellen, Bäume u. ſ. w. So erſcheint die Odyſſee wirklich als „der
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Einzelzüge individueller zeichnendes Sittengemälde iſt, und in dieſer Richtung
entſteht zuletzt das kleine Bild des Volkslebens mit entferntem Anklang ſen-
timentaler Vertiefung in die Stille des Engen und der Natur: das Idyll.
1. Ariſtoteles unterſcheidet (Poetik C. 24) ein einfaches und ein ver-
wickeltes, ein pathetiſches und ein ethiſches Epos; einfach und pathetiſch,
ſagt er, iſt die Ilias, verwickelt und ethiſch die Odyſſee. Ethiſch heißt hier,
was wir ſittenbildlich nennen, mit dem Unterſchiede, daß das eigentliche
Sittenbild in der Malerei keine Fabel hat und haben kann, ſondern nur
Gebaren, Gewöhnung, Zuſtände in ihrem bleibenden, wiederkehrenden Weſen
ſchildert. Das Merkmal der verſchlungenen Compoſition haben wir als
untergeordnet nicht in den §. aufgenommen; natürlich aber iſt es allerdings,
daß, wo nicht die großen Leidenſchaften den Inhalt bilden, welche auf dem
Schauplatze der Heroenthat walten, dafür ein Reiz des Suchens und Fin-
dens eintreten wird, der in der Compoſition, doch auch in der Fabel an
ſich begründet ſein muß: Anziehungen, Spannungen, die hingehalten, nach
manchem Wechſel befriedigt werden und ſowohl nach Stoff, als Behandlung
ein wärmeres, concentrirteres ſubjectives Element in das Epos bringen.
Hiemit kündigt ſich ein Motiv an, das erſt im romantiſchen und modernen
Ideal ſeine volle Ausbildung zu finden beſtimmt iſt: die Liebe. Im antiken
Epos iſt es eheliche Liebe mit Heimath und Hausweſen, was den Mittel-
punct dieſer Form, der Odyſſee bildet. Ariſtoteles ſagt: die Odyſſee iſt
verſchlungen, denn ſie iſt durchaus Erkennung (und ſittenbildlich); d. h.
die Spannung auf das Wiederſehen iſt der poetiſche Reiz, ſie wird durch
viele, von der Compoſition ineinandergeſchlungene Hemmungen hingehalten
bis zum Ende. Da nun das Subject der Erkennung natürlich liebende
Menſchen ſind, ſo erhellt, wie in der ἀναγνώρισις des Ariſtoteles der
Keim oder das antike Vorbild des Romans als höchſt intereſſante An-
deutung oder Ahnung verborgen liegt. Und wirklich: die Odyſſee iſt „der
antike Ur-Roman (J. P. Fr. Richter Vorſch. d. Aeſth. §. 66). Es folgt von
ſelbſt, daß das Innerliche auch überhaupt mehr in den Vordergrund tritt,
wenn Sehnſucht und Wiederſehen den Haupt-Inhalt bildet; Odyſſeus am
Ufer der Inſel der Kalypſo in das Meer hinausweinend, die trauernde Pene-
lope in der einſamen Kammer und der ſuchende Sohn ſind Bilder eines inni-
geren Seelenlebens. Nur daß natürlich das epiſche Grundgeſetz, wonach
alles Innerliche in ſinnlicher Ausführlichkeit der Erſcheinung ſich geben
muß, unangetaſtet bleibt. Auch die Natur wird jetzt mit ſubjectiverem
Intereſſe beſchaut, das Meer, die landſchaftlichen Reize, die Grotten,
Quellen, Bäume u. ſ. w. So erſcheint die Odyſſee wirklich als „der
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/154>, abgerufen am 03.02.2025.
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