Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.
ohne den Boden der Naivetät zu verlassen. Den Stoff entnimmt diese Dichtung 1. Wir können uns bei dem indischen Epos nur kurz aufhalten und 2. Der vorh. §. hat das griechische Heldengedicht und den Roman
ohne den Boden der Naivetät zu verlaſſen. Den Stoff entnimmt dieſe Dichtung 1. Wir können uns bei dem indiſchen Epos nur kurz aufhalten und 2. Der vorh. §. hat das griechiſche Heldengedicht und den Roman <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <hi rendition="#fr"><pb facs="#f0150" n="1286"/> ohne den Boden der Naivetät zu verlaſſen. Den Stoff entnimmt dieſe Dichtung<lb/> aus der Heldenſage und dem mit ihm vereinigten Göttermythus und entfaltet<lb/> in ihm ein vollſtändiges, organiſches Bild des nationalen Lebens in welthiſtori-<lb/> ſchem Zuſammenſtoße. Die rhythmiſche Form entſpricht rein der bewegungs-<lb/> vollen Würde des Inhalts.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">1. Wir können uns bei dem indiſchen Epos nur kurz aufhalten und<lb/> müſſen auf das verweiſen, was in §. 343 ff. über den Charakter des<lb/> Orients überhaupt, in §. 346, <hi rendition="#sub">1</hi>. über Indien insbeſondere, dann in<lb/> §. 426 ff. über die orientaliſche, und §. 431, <hi rendition="#sub">1</hi>. ſpeziell über die indiſche<lb/> Phantaſie geſagt iſt. Mahabharata und Ramayana enthalten Anſätze, die<lb/> ſich ganz homeriſch fühlen, namentlich die eine der großen Epiſoden des<lb/> letzteren, in ſeinen Hauptbeſtandtheilen urſprünglicheren Epos, Nalas und<lb/> Damajanti. Allein wie die früher einfache Religion Indiens, ſo ſind dieſe<lb/> — man weiß nicht, ſoll man ſagen: Keime oder Trümmer eines geſunden<lb/> heroiſchen, plaſtiſch gezeichneten Bildes ächter männlicher Thatkraft, gedie-<lb/> gener Sitte, gehaltener weiblicher Lieblichkeit und rührender Treue über-<lb/> wuchert worden von der zwiſchen Mythologie und bloßer Symbolik wild<lb/> ſchwankenden, alle Umriſſe auflöſenden Einbildungskraft, von der Doctrin,<lb/> die unter Anderm eine ganze Theologie in einem Geſpräch vor der Schlacht<lb/> ausſpinnt (in der Epiſode Bhagavadgita), von abſurder Vergötterung des<lb/> Thieriſchen (Affe Hanuman in Ramayana). Es iſt eine epiſche Poeſie,<lb/> welche in Religionsphiloſophie, namentlich Theogonie (Herabkunft der Ganga<lb/> in Ramayana) zurückſinkt oder übergeht. Das Theogoniſche werden wir<lb/> aber überhaupt gar nicht zur reinen Poeſie ziehen, ſondern in den Anhang<lb/> vom Didaktiſchen verweiſen, denn es iſt nicht reine Verſenkung einer allge-<lb/> meinen Wahrheit in ein Bild des Lebens. Die theologiſche Verſchwemmung<lb/> des rein Menſchlichen hat denn auch an die Stelle des heroiſchen Handelns<lb/> das wahnſinnige Büßerweſen geſetzt, das mit ſeinen mehr als tauſend-<lb/> jährigen Peinigungen ſelbſt den Götterhimmel zu ſprengen droht. Daß die<lb/> gelenkloſe Gaukelei der Phantaſie im Umfang des Epos maaßlos iſt wie<lb/> in allen Formen und Zahlen des Inhalts, in der Compoſition kein Ver-<lb/> hältniß zwiſchen Hauptkörper und Epiſode kennt, unorganiſch die Theile in-<lb/> einanderſchachtelt, folgt nur von ſelbſt aus ihrem innern Charakter.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">2. Der vorh. §. hat das griechiſche Heldengedicht und den Roman<lb/> noch nebeneinandergeſtellt, doch bereits den letzteren eine mangelhafte Form<lb/> des Styls genannt, dem er angehört; wir fügen zunächſt ſo viel hinzu:<lb/> der Roman wird zwar nicht durch den Maaßſtab des urſprünglichen Epos<lb/> gerichtet, denn er ſtellt ſich nicht unter denſelben, wohl aber durch den Maaßſtab<lb/> einer Aufgabe, die offenbar von einer andern Dichtungs-Art vollkommener<lb/> zu löſen iſt, der ihn alſo zu einer zweifelhaften Geſtalt herunterſetzt. Hiedurch<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1286/0150]
ohne den Boden der Naivetät zu verlaſſen. Den Stoff entnimmt dieſe Dichtung
aus der Heldenſage und dem mit ihm vereinigten Göttermythus und entfaltet
in ihm ein vollſtändiges, organiſches Bild des nationalen Lebens in welthiſtori-
ſchem Zuſammenſtoße. Die rhythmiſche Form entſpricht rein der bewegungs-
vollen Würde des Inhalts.
1. Wir können uns bei dem indiſchen Epos nur kurz aufhalten und
müſſen auf das verweiſen, was in §. 343 ff. über den Charakter des
Orients überhaupt, in §. 346, 1. über Indien insbeſondere, dann in
§. 426 ff. über die orientaliſche, und §. 431, 1. ſpeziell über die indiſche
Phantaſie geſagt iſt. Mahabharata und Ramayana enthalten Anſätze, die
ſich ganz homeriſch fühlen, namentlich die eine der großen Epiſoden des
letzteren, in ſeinen Hauptbeſtandtheilen urſprünglicheren Epos, Nalas und
Damajanti. Allein wie die früher einfache Religion Indiens, ſo ſind dieſe
— man weiß nicht, ſoll man ſagen: Keime oder Trümmer eines geſunden
heroiſchen, plaſtiſch gezeichneten Bildes ächter männlicher Thatkraft, gedie-
gener Sitte, gehaltener weiblicher Lieblichkeit und rührender Treue über-
wuchert worden von der zwiſchen Mythologie und bloßer Symbolik wild
ſchwankenden, alle Umriſſe auflöſenden Einbildungskraft, von der Doctrin,
die unter Anderm eine ganze Theologie in einem Geſpräch vor der Schlacht
ausſpinnt (in der Epiſode Bhagavadgita), von abſurder Vergötterung des
Thieriſchen (Affe Hanuman in Ramayana). Es iſt eine epiſche Poeſie,
welche in Religionsphiloſophie, namentlich Theogonie (Herabkunft der Ganga
in Ramayana) zurückſinkt oder übergeht. Das Theogoniſche werden wir
aber überhaupt gar nicht zur reinen Poeſie ziehen, ſondern in den Anhang
vom Didaktiſchen verweiſen, denn es iſt nicht reine Verſenkung einer allge-
meinen Wahrheit in ein Bild des Lebens. Die theologiſche Verſchwemmung
des rein Menſchlichen hat denn auch an die Stelle des heroiſchen Handelns
das wahnſinnige Büßerweſen geſetzt, das mit ſeinen mehr als tauſend-
jährigen Peinigungen ſelbſt den Götterhimmel zu ſprengen droht. Daß die
gelenkloſe Gaukelei der Phantaſie im Umfang des Epos maaßlos iſt wie
in allen Formen und Zahlen des Inhalts, in der Compoſition kein Ver-
hältniß zwiſchen Hauptkörper und Epiſode kennt, unorganiſch die Theile in-
einanderſchachtelt, folgt nur von ſelbſt aus ihrem innern Charakter.
2. Der vorh. §. hat das griechiſche Heldengedicht und den Roman
noch nebeneinandergeſtellt, doch bereits den letzteren eine mangelhafte Form
des Styls genannt, dem er angehört; wir fügen zunächſt ſo viel hinzu:
der Roman wird zwar nicht durch den Maaßſtab des urſprünglichen Epos
gerichtet, denn er ſtellt ſich nicht unter denſelben, wohl aber durch den Maaßſtab
einer Aufgabe, die offenbar von einer andern Dichtungs-Art vollkommener
zu löſen iſt, der ihn alſo zu einer zweifelhaften Geſtalt herunterſetzt. Hiedurch
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