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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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der Natur, darf sich über die Irrationalität in der Durchkreuzung der Na-
turgesetze nicht beklagen; es ist nur in der Ordnung, wenn ihn ohne ethischen
Zusammenhang das Gesetz der Schwere, des Falles, des Erkrankens in Folge
gewisser Ursachen trifft, und über den glücklichen Zufall, der ihm Stärke,
Reichthum u. s. w. ertheilt, darf er sich freuen, ohne ihn ängstlich vom
Verdienste zu unterscheiden (Schiller's Gedicht: das Glück ist episch gefühlt);
das Gut wird nicht minder geschätzt, als das Gute, und es genügt, daß
der Eingriff des Zufalls in den sittlichen Zusammenhang, der ihm in seinem
Anfangspuncte fehlt, im Fortgang, an seinem Endpunct aufgenommen werde.
Odysseus ist ein wahrer Spielball des Zufalls, der als Götterlaune doch
nicht ethisch motivirt ist, und er bethätigt sich als Heldenseele, indem er
sich hindurchringt. Es ist im Ganzen dieser Verhältnisse begründet, daß
jene Form des Tragischen, die der §. aus dem ersten Theil (§. 130. 131)
anführt und die wir auch das Naturtragische nennen können, vorzüglich
dieser Weltanschauung entspricht. Früher Tod eines jugendlich strahlenden
Helden ist Hauptinhalt der großen ächten Heldengedichte des Alterthums;
aber auch abgesehen von bestimmten Theilen der Fabel liegt ein Flor der
Wehmuth über jeder wahren epischen Dichtung, der nur vollständiger zu
erklären ist, als Hegel gethan hat, indem er blos die Einzelschicksale berück-
sichtigt (a. a. O. S. 366. 367). Es bringt schon der Klang der Ver-
gangenheit, jenes Zeitgefühl im Epischen den Ton der Trauer mit sich:
wir sehen die Geschlechter kommen und gehen und werden einst auch hinab-
sinken. Im ächten, ursprünglichen Heldengedicht hat aber dieser elegische
Hauch den besonderen, tieferen Grund: der Untergang der Helden, namentlich
des jugendlichen Heros, ist ein Bild des unabänderlichen Entschwindens
des Jugendalters, des Jünglings-Lebens der Völker, das noch keine Prosa
kennt; natürlich kein absichtliches Bild, sondern unbewußter Ausdruck eines
tiefen Gefühls. Es folgt aber aus diesem Stimmungs-Elemente keines-
wegs die Nothwendigkeit tragischen Endes für das Ganze des Epos. Hier
wird sich vielmehr das Gefühl geltend machen, daß eine Kraft in den
Nationen ist, welche den Untergang ihrer Jugend-Epoche überlebt: dieß ist
der eine Grund für das Vorherrschen glücklichen Schlusses in dieser Dich-
tungsart, der andere liegt im Weltbild überhaupt, sofern es keine revo-
lutionär durchbrechende Thaten zum Mittelpunct hat, in der Harmonie
des Willens mit den Naturmächten, der "Eingestimmtheit der Helden mit
dem Schicksal" (Gervinus a. a. O. S. 490). Glücklicher Schluß entspricht
insbesondere jener vorläufig schon berührten Form des Epos, die dem Sit-
tenbild in engerem Sinne verwandt ist, denn wo es sich weniger um
große Thaten, als um persönliche Schicksale, häusliches, geselliges Leben
handelt, da tritt der Begriff der Schuld und der großen Kluft des Lebens
zurück und mögen wir das freundliche Glück walten sehen. Dabei wird

der Natur, darf ſich über die Irrationalität in der Durchkreuzung der Na-
turgeſetze nicht beklagen; es iſt nur in der Ordnung, wenn ihn ohne ethiſchen
Zuſammenhang das Geſetz der Schwere, des Falles, des Erkrankens in Folge
gewiſſer Urſachen trifft, und über den glücklichen Zufall, der ihm Stärke,
Reichthum u. ſ. w. ertheilt, darf er ſich freuen, ohne ihn ängſtlich vom
Verdienſte zu unterſcheiden (Schiller’s Gedicht: das Glück iſt epiſch gefühlt);
das Gut wird nicht minder geſchätzt, als das Gute, und es genügt, daß
der Eingriff des Zufalls in den ſittlichen Zuſammenhang, der ihm in ſeinem
Anfangspuncte fehlt, im Fortgang, an ſeinem Endpunct aufgenommen werde.
Odyſſeus iſt ein wahrer Spielball des Zufalls, der als Götterlaune doch
nicht ethiſch motivirt iſt, und er bethätigt ſich als Heldenſeele, indem er
ſich hindurchringt. Es iſt im Ganzen dieſer Verhältniſſe begründet, daß
jene Form des Tragiſchen, die der §. aus dem erſten Theil (§. 130. 131)
anführt und die wir auch das Naturtragiſche nennen können, vorzüglich
dieſer Weltanſchauung entſpricht. Früher Tod eines jugendlich ſtrahlenden
Helden iſt Hauptinhalt der großen ächten Heldengedichte des Alterthums;
aber auch abgeſehen von beſtimmten Theilen der Fabel liegt ein Flor der
Wehmuth über jeder wahren epiſchen Dichtung, der nur vollſtändiger zu
erklären iſt, als Hegel gethan hat, indem er blos die Einzelſchickſale berück-
ſichtigt (a. a. O. S. 366. 367). Es bringt ſchon der Klang der Ver-
gangenheit, jenes Zeitgefühl im Epiſchen den Ton der Trauer mit ſich:
wir ſehen die Geſchlechter kommen und gehen und werden einſt auch hinab-
ſinken. Im ächten, urſprünglichen Heldengedicht hat aber dieſer elegiſche
Hauch den beſonderen, tieferen Grund: der Untergang der Helden, namentlich
des jugendlichen Heros, iſt ein Bild des unabänderlichen Entſchwindens
des Jugendalters, des Jünglings-Lebens der Völker, das noch keine Proſa
kennt; natürlich kein abſichtliches Bild, ſondern unbewußter Ausdruck eines
tiefen Gefühls. Es folgt aber aus dieſem Stimmungs-Elemente keines-
wegs die Nothwendigkeit tragiſchen Endes für das Ganze des Epos. Hier
wird ſich vielmehr das Gefühl geltend machen, daß eine Kraft in den
Nationen iſt, welche den Untergang ihrer Jugend-Epoche überlebt: dieß iſt
der eine Grund für das Vorherrſchen glücklichen Schluſſes in dieſer Dich-
tungsart, der andere liegt im Weltbild überhaupt, ſofern es keine revo-
lutionär durchbrechende Thaten zum Mittelpunct hat, in der Harmonie
des Willens mit den Naturmächten, der „Eingeſtimmtheit der Helden mit
dem Schickſal“ (Gervinus a. a. O. S. 490). Glücklicher Schluß entſpricht
insbeſondere jener vorläufig ſchon berührten Form des Epos, die dem Sit-
tenbild in engerem Sinne verwandt iſt, denn wo es ſich weniger um
große Thaten, als um perſönliche Schickſale, häusliches, geſelliges Leben
handelt, da tritt der Begriff der Schuld und der großen Kluft des Lebens
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[1274/0138] der Natur, darf ſich über die Irrationalität in der Durchkreuzung der Na- turgeſetze nicht beklagen; es iſt nur in der Ordnung, wenn ihn ohne ethiſchen Zuſammenhang das Geſetz der Schwere, des Falles, des Erkrankens in Folge gewiſſer Urſachen trifft, und über den glücklichen Zufall, der ihm Stärke, Reichthum u. ſ. w. ertheilt, darf er ſich freuen, ohne ihn ängſtlich vom Verdienſte zu unterſcheiden (Schiller’s Gedicht: das Glück iſt epiſch gefühlt); das Gut wird nicht minder geſchätzt, als das Gute, und es genügt, daß der Eingriff des Zufalls in den ſittlichen Zuſammenhang, der ihm in ſeinem Anfangspuncte fehlt, im Fortgang, an ſeinem Endpunct aufgenommen werde. Odyſſeus iſt ein wahrer Spielball des Zufalls, der als Götterlaune doch nicht ethiſch motivirt iſt, und er bethätigt ſich als Heldenſeele, indem er ſich hindurchringt. Es iſt im Ganzen dieſer Verhältniſſe begründet, daß jene Form des Tragiſchen, die der §. aus dem erſten Theil (§. 130. 131) anführt und die wir auch das Naturtragiſche nennen können, vorzüglich dieſer Weltanſchauung entſpricht. Früher Tod eines jugendlich ſtrahlenden Helden iſt Hauptinhalt der großen ächten Heldengedichte des Alterthums; aber auch abgeſehen von beſtimmten Theilen der Fabel liegt ein Flor der Wehmuth über jeder wahren epiſchen Dichtung, der nur vollſtändiger zu erklären iſt, als Hegel gethan hat, indem er blos die Einzelſchickſale berück- ſichtigt (a. a. O. S. 366. 367). Es bringt ſchon der Klang der Ver- gangenheit, jenes Zeitgefühl im Epiſchen den Ton der Trauer mit ſich: wir ſehen die Geſchlechter kommen und gehen und werden einſt auch hinab- ſinken. Im ächten, urſprünglichen Heldengedicht hat aber dieſer elegiſche Hauch den beſonderen, tieferen Grund: der Untergang der Helden, namentlich des jugendlichen Heros, iſt ein Bild des unabänderlichen Entſchwindens des Jugendalters, des Jünglings-Lebens der Völker, das noch keine Proſa kennt; natürlich kein abſichtliches Bild, ſondern unbewußter Ausdruck eines tiefen Gefühls. Es folgt aber aus dieſem Stimmungs-Elemente keines- wegs die Nothwendigkeit tragiſchen Endes für das Ganze des Epos. Hier wird ſich vielmehr das Gefühl geltend machen, daß eine Kraft in den Nationen iſt, welche den Untergang ihrer Jugend-Epoche überlebt: dieß iſt der eine Grund für das Vorherrſchen glücklichen Schluſſes in dieſer Dich- tungsart, der andere liegt im Weltbild überhaupt, ſofern es keine revo- lutionär durchbrechende Thaten zum Mittelpunct hat, in der Harmonie des Willens mit den Naturmächten, der „Eingeſtimmtheit der Helden mit dem Schickſal“ (Gervinus a. a. O. S. 490). Glücklicher Schluß entſpricht insbeſondere jener vorläufig ſchon berührten Form des Epos, die dem Sit- tenbild in engerem Sinne verwandt iſt, denn wo es ſich weniger um große Thaten, als um perſönliche Schickſale, häusliches, geſelliges Leben handelt, da tritt der Begriff der Schuld und der großen Kluft des Lebens zurück und mögen wir das freundliche Glück walten ſehen. Dabei wird

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/138>, abgerufen am 22.12.2024.