folgt dem Zuge des Zwecks als einer Macht, von der man gebunden ist, ohne zu fragen: warum? So halten die Griechen und die Nibelungen zu- sammen, ohne sich von einer allgemeineren Idee als Grund ihres Handelns Rechenschaft zu geben, jene, um einen Frauenraub zu rächen, wobei sie die höhere Bedeutung des Kampfes von Occident gegen Orient kaum ahnen, diese durch das Band der Vasallentreue vereinigt. Auch der stillere Bruder des Epos, der Roman und was ihm verwandt ist, spielt immer unter Massen, die etwas zusammenbindet, was als unvordenkliches Gesammtproduct unbestimmt vieler Individuen stärker ist, als das einzelne Individuum, und über der Willkür desselben steht. Daher fühlt sich überhaupt auch in ein- zelnen Anschauungen alles massenhaft Bewegte episch an, z. B. das Gewoge einer Menge, worin Alles blind mit dem Strome geht: so der Zug der Ausgewanderten in Göthe's Hermann und Dorothea, mit den Wagen- ladungen, denen man die wahllose Hast des Aufbruchs ansieht, der Wirr- warr, der aus dem Gedräng ihrer Menge, ein andermal aus der Ungeduld entsteht, womit man sich auf eine Quelle stürzt. Ziehen, Wandern in Menge ist immer namentlich episch; der epische Mensch hat etwas vom instinctmäßigen sich Schaaren und Reisen der Zugvögel, der Gesellung der Thiere überhaupt, man ist geneigt, Jäger-Ausdrücke wie Rudel u. dergl. von ihm zu gebrauchen. Episch ist das Heer des Xerxes mit seinen fremd- artigen Völkern, Waffen, Trachten, wie es sich gegen Griechenland heran- wälzt, in der Schilderung des Herodot, episch ist die Völkerwanderung. Es folgt aus dieser Masse der Mitwirkenden als eine Grundeigenschaft des Epos die Polymythie, die Erweiterung der Einen Handlung in viele (Aristoteles a. a. O. C. 18), denn wo Massen sich betheiligen, treten noth- wendig besondere Zwecke als Motive von Neben-Handlungen hervor. Dieß führt auf die Episoden, wovon nachher bei Erörterung der Composition.
2. Wo einmal das Sein die Grundform bildet, herrscht auch die Freude an dem, was ist, einfach an dem vielen Merkwürdigen, Großen und Schönen, was es gibt. Diese Naivetät darf selbst dem modernen, epischen Dichter nicht fehlen. Daher vor Allem die Wichtigkeit der Culturformen. Darunter ist der Mensch in seiner äußeren Erscheinung zu verstehen, wie sie die Ge- fühls- und Auffassungsweise, den geistigen Bildungszustand einer Zeit, eines Volks charakterisirt; die gesammten, geistigen, sittlichen Sphären, Wissen- schaft, Kenntnisse, Religion, moralische Begriffe, Vorurtheile und conventio- nelle Maaßstäbe, Verhältnisse, Sitten: Alles dieß, sofern es in bestimmten Formen erscheint, durch die Hand der Technik auf einer bestimmten Stufe sich in stehender Weise ausprägt, heißt Culturform. Von außen treten die klimatischen, tellurischen Bedingungen hinzu, aber nur, sofern sie mit der geistigen Bestimmtheit zusammenwirken, begründen sie Culturformen. Die Kunststyle selbst heißen Culturformen, sofern sich die geistigen Grundzüge
folgt dem Zuge des Zwecks als einer Macht, von der man gebunden iſt, ohne zu fragen: warum? So halten die Griechen und die Nibelungen zu- ſammen, ohne ſich von einer allgemeineren Idee als Grund ihres Handelns Rechenſchaft zu geben, jene, um einen Frauenraub zu rächen, wobei ſie die höhere Bedeutung des Kampfes von Occident gegen Orient kaum ahnen, dieſe durch das Band der Vaſallentreue vereinigt. Auch der ſtillere Bruder des Epos, der Roman und was ihm verwandt iſt, ſpielt immer unter Maſſen, die etwas zuſammenbindet, was als unvordenkliches Geſammtproduct unbeſtimmt vieler Individuen ſtärker iſt, als das einzelne Individuum, und über der Willkür deſſelben ſteht. Daher fühlt ſich überhaupt auch in ein- zelnen Anſchauungen alles maſſenhaft Bewegte epiſch an, z. B. das Gewoge einer Menge, worin Alles blind mit dem Strome geht: ſo der Zug der Ausgewanderten in Göthe’s Hermann und Dorothea, mit den Wagen- ladungen, denen man die wahlloſe Haſt des Aufbruchs anſieht, der Wirr- warr, der aus dem Gedräng ihrer Menge, ein andermal aus der Ungeduld entſteht, womit man ſich auf eine Quelle ſtürzt. Ziehen, Wandern in Menge iſt immer namentlich epiſch; der epiſche Menſch hat etwas vom inſtinctmäßigen ſich Schaaren und Reiſen der Zugvögel, der Geſellung der Thiere überhaupt, man iſt geneigt, Jäger-Ausdrücke wie Rudel u. dergl. von ihm zu gebrauchen. Epiſch iſt das Heer des Xerxes mit ſeinen fremd- artigen Völkern, Waffen, Trachten, wie es ſich gegen Griechenland heran- wälzt, in der Schilderung des Herodot, epiſch iſt die Völkerwanderung. Es folgt aus dieſer Maſſe der Mitwirkenden als eine Grundeigenſchaft des Epos die Polymythie, die Erweiterung der Einen Handlung in viele (Ariſtoteles a. a. O. C. 18), denn wo Maſſen ſich betheiligen, treten noth- wendig beſondere Zwecke als Motive von Neben-Handlungen hervor. Dieß führt auf die Epiſoden, wovon nachher bei Erörterung der Compoſition.
2. Wo einmal das Sein die Grundform bildet, herrſcht auch die Freude an dem, was iſt, einfach an dem vielen Merkwürdigen, Großen und Schönen, was es gibt. Dieſe Naivetät darf ſelbſt dem modernen, epiſchen Dichter nicht fehlen. Daher vor Allem die Wichtigkeit der Culturformen. Darunter iſt der Menſch in ſeiner äußeren Erſcheinung zu verſtehen, wie ſie die Ge- fühls- und Auffaſſungsweiſe, den geiſtigen Bildungszuſtand einer Zeit, eines Volks charakteriſirt; die geſammten, geiſtigen, ſittlichen Sphären, Wiſſen- ſchaft, Kenntniſſe, Religion, moraliſche Begriffe, Vorurtheile und conventio- nelle Maaßſtäbe, Verhältniſſe, Sitten: Alles dieß, ſofern es in beſtimmten Formen erſcheint, durch die Hand der Technik auf einer beſtimmten Stufe ſich in ſtehender Weiſe ausprägt, heißt Culturform. Von außen treten die klimatiſchen, telluriſchen Bedingungen hinzu, aber nur, ſofern ſie mit der geiſtigen Beſtimmtheit zuſammenwirken, begründen ſie Culturformen. Die Kunſtſtyle ſelbſt heißen Culturformen, ſofern ſich die geiſtigen Grundzüge
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Rechenſchaft zu geben, jene, um einen Frauenraub zu rächen, wobei ſie die
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dieſe durch das Band der Vaſallentreue vereinigt. Auch der ſtillere Bruder
des Epos, der Roman und was ihm verwandt iſt, ſpielt immer unter
Maſſen, die etwas zuſammenbindet, was als unvordenkliches Geſammtproduct
unbeſtimmt vieler Individuen ſtärker iſt, als das einzelne Individuum, und
über der Willkür deſſelben ſteht. Daher fühlt ſich überhaupt auch in ein-
zelnen Anſchauungen alles maſſenhaft Bewegte epiſch an, z. B. das Gewoge
einer Menge, worin Alles blind mit dem Strome geht: ſo der Zug der
Ausgewanderten in Göthe’s Hermann und Dorothea, mit den Wagen-
ladungen, denen man die wahlloſe Haſt des Aufbruchs anſieht, der Wirr-
warr, der aus dem Gedräng ihrer Menge, ein andermal aus der Ungeduld
entſteht, womit man ſich auf eine Quelle ſtürzt. Ziehen, Wandern in
Menge iſt immer namentlich epiſch; der epiſche Menſch hat etwas vom
inſtinctmäßigen ſich Schaaren und Reiſen der Zugvögel, der Geſellung der
Thiere überhaupt, man iſt geneigt, Jäger-Ausdrücke wie Rudel u. dergl.
von ihm zu gebrauchen. Epiſch iſt das Heer des Xerxes mit ſeinen fremd-
artigen Völkern, Waffen, Trachten, wie es ſich gegen Griechenland heran-
wälzt, in der Schilderung des Herodot, epiſch iſt die Völkerwanderung.
Es folgt aus dieſer Maſſe der Mitwirkenden als eine Grundeigenſchaft des
Epos die Polymythie, die Erweiterung der Einen Handlung in viele
(Ariſtoteles a. a. O. C. 18), denn wo Maſſen ſich betheiligen, treten noth-
wendig beſondere Zwecke als Motive von Neben-Handlungen hervor. Dieß
führt auf die Epiſoden, wovon nachher bei Erörterung der Compoſition.
2. Wo einmal das Sein die Grundform bildet, herrſcht auch die Freude
an dem, was iſt, einfach an dem vielen Merkwürdigen, Großen und Schönen,
was es gibt. Dieſe Naivetät darf ſelbſt dem modernen, epiſchen Dichter
nicht fehlen. Daher vor Allem die Wichtigkeit der Culturformen. Darunter
iſt der Menſch in ſeiner äußeren Erſcheinung zu verſtehen, wie ſie die Ge-
fühls- und Auffaſſungsweiſe, den geiſtigen Bildungszuſtand einer Zeit, eines
Volks charakteriſirt; die geſammten, geiſtigen, ſittlichen Sphären, Wiſſen-
ſchaft, Kenntniſſe, Religion, moraliſche Begriffe, Vorurtheile und conventio-
nelle Maaßſtäbe, Verhältniſſe, Sitten: Alles dieß, ſofern es in beſtimmten
Formen erſcheint, durch die Hand der Technik auf einer beſtimmten Stufe
ſich in ſtehender Weiſe ausprägt, heißt Culturform. Von außen treten die
klimatiſchen, telluriſchen Bedingungen hinzu, aber nur, ſofern ſie mit der
geiſtigen Beſtimmtheit zuſammenwirken, begründen ſie Culturformen. Die
Kunſtſtyle ſelbſt heißen Culturformen, ſofern ſich die geiſtigen Grundzüge
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/134>, abgerufen am 01.02.2025.
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