Hier ist nur noch das Nöthige zur Rechtfertigung der Stelle zu sagen, die dem Lyrischen gegeben ist. Es scheint der Zeit und dem Begriffe nach, oder, wenn man will: der Zeit nach, weil dem Begriffe nach vielmehr das Erste zu sein, denn die Poesie ist die enge Nachbarinn der Musik, kommt aus ihr und schickt sich an, aus der Innerlichkeit der Empfindung die Welt der Objecte wieder zu erschließen und auszubreiten, ihr Wesen ist die Entfaltung der innerlich verarbeiteten Welt; daher waren lyrische Er- gießungen der unmittelbaren Empfindung nothwendig überall die ersten Aeußerungen der dichterischen Phantasie. Ein Interesse der bloßen logischen Consequenz, die Kategorie der Objectivität um jeden Preis voranzustellen, wäre nur eine Verirrung der Abstraction und das System könnte ganz ebensogut hier dem Subjectiven die erste Stelle anweisen, dann das Objec- tive aus ihm hervortreten lassen, endlich beide vereinigen, als in der Gruppe der bildenden Künste umgekehrt die subjectivste unter ihnen, die Malerei, als dritte, nicht als zweite gesetzt worden ist. Allein genauer betrachtet verhält sich die Sache anders: die ältesten Lieder waren überall objectiven Inhalts, priesen Thaten der Götter und Menschen; freilich in lyrischem Tone, und man kann insofern sagen, es liege hier eine noch unentwickelte Einheit des Lyrischen und Epischen vor, allein es war keine Einheit, die ein Gleichgewicht enthielt, vielmehr das objective, epische Element herrschte und gestaltete sich zuerst weiter zu bestimmten Formen, zu Heldenliedern, die dann zu Epen zusammenwuchsen, während das subjective, lyrische noch lange Zeit viel zu unentwickelt blieb, um als entschiedene Form in das Licht der Geschichte der Poesie herauszutreten, vielmehr die späte Reife der Bildung abwarten mußte, die dem erfahrungsvolleren, durcharbeiteten Ge- müthe des Menschen erst die tiefere und reichere Resonanz gibt, ihm die Menge von Saiten aufzieht, welche erklingen muß, wenn von einer lyrischen Dichtung als stehendem Zweige soll die Rede sein können. Historisch und psychologisch hat den Beweis für den Vorgang des Epischen Wackernagel geführt (Schweiz. Mus. f. histor. Wissensch. "Die epische Poesie" B. 1 u. 2). Wir haben den innern Grund mit der letzten Bemerkung bereits angedeutet: der ideale Weltgehalt erscheint dem Individuum, das noch nicht durch die Arbeit der Bildung in sich zurückgetreten ist, als objectives Sein, Macht, Geschichte. Kindliche Bewunderung all' des Vielen und Herrlichen, was es gibt, ist der erste Standpunct. Dennoch behält jener Begriff einer ursprünglichen, unentwickelten Einheit des Lyrischen und Epischen in den ältesten erzählenden Liedern seine relative Richtigkeit; jenes war im Keime vorhanden, mußte dann diesem den Vortritt lassen, nahm aber, als es selbst an die Reihe der Entwicklung kam, die Form wieder auf, in der es einst neben dem Epischen geschlummert hatte, und gab ihr wirklich lyrische Ge- stalt; dieß wird an seinem Orte näher erklärt werden.
Hier iſt nur noch das Nöthige zur Rechtfertigung der Stelle zu ſagen, die dem Lyriſchen gegeben iſt. Es ſcheint der Zeit und dem Begriffe nach, oder, wenn man will: der Zeit nach, weil dem Begriffe nach vielmehr das Erſte zu ſein, denn die Poeſie iſt die enge Nachbarinn der Muſik, kommt aus ihr und ſchickt ſich an, aus der Innerlichkeit der Empfindung die Welt der Objecte wieder zu erſchließen und auszubreiten, ihr Weſen iſt die Entfaltung der innerlich verarbeiteten Welt; daher waren lyriſche Er- gießungen der unmittelbaren Empfindung nothwendig überall die erſten Aeußerungen der dichteriſchen Phantaſie. Ein Intereſſe der bloßen logiſchen Conſequenz, die Kategorie der Objectivität um jeden Preis voranzuſtellen, wäre nur eine Verirrung der Abſtraction und das Syſtem könnte ganz ebenſogut hier dem Subjectiven die erſte Stelle anweiſen, dann das Objec- tive aus ihm hervortreten laſſen, endlich beide vereinigen, als in der Gruppe der bildenden Künſte umgekehrt die ſubjectivſte unter ihnen, die Malerei, als dritte, nicht als zweite geſetzt worden iſt. Allein genauer betrachtet verhält ſich die Sache anders: die älteſten Lieder waren überall objectiven Inhalts, prieſen Thaten der Götter und Menſchen; freilich in lyriſchem Tone, und man kann inſofern ſagen, es liege hier eine noch unentwickelte Einheit des Lyriſchen und Epiſchen vor, allein es war keine Einheit, die ein Gleichgewicht enthielt, vielmehr das objective, epiſche Element herrſchte und geſtaltete ſich zuerſt weiter zu beſtimmten Formen, zu Heldenliedern, die dann zu Epen zuſammenwuchſen, während das ſubjective, lyriſche noch lange Zeit viel zu unentwickelt blieb, um als entſchiedene Form in das Licht der Geſchichte der Poeſie herauszutreten, vielmehr die ſpäte Reife der Bildung abwarten mußte, die dem erfahrungsvolleren, durcharbeiteten Ge- müthe des Menſchen erſt die tiefere und reichere Reſonanz gibt, ihm die Menge von Saiten aufzieht, welche erklingen muß, wenn von einer lyriſchen Dichtung als ſtehendem Zweige ſoll die Rede ſein können. Hiſtoriſch und pſychologiſch hat den Beweis für den Vorgang des Epiſchen Wackernagel geführt (Schweiz. Muſ. f. hiſtor. Wiſſenſch. „Die epiſche Poeſie“ B. 1 u. 2). Wir haben den innern Grund mit der letzten Bemerkung bereits angedeutet: der ideale Weltgehalt erſcheint dem Individuum, das noch nicht durch die Arbeit der Bildung in ſich zurückgetreten iſt, als objectives Sein, Macht, Geſchichte. Kindliche Bewunderung all’ des Vielen und Herrlichen, was es gibt, iſt der erſte Standpunct. Dennoch behält jener Begriff einer urſprünglichen, unentwickelten Einheit des Lyriſchen und Epiſchen in den älteſten erzählenden Liedern ſeine relative Richtigkeit; jenes war im Keime vorhanden, mußte dann dieſem den Vortritt laſſen, nahm aber, als es ſelbſt an die Reihe der Entwicklung kam, die Form wieder auf, in der es einſt neben dem Epiſchen geſchlummert hatte, und gab ihr wirklich lyriſche Ge- ſtalt; dieß wird an ſeinem Orte näher erklärt werden.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0126"n="1262"/>
Hier iſt nur noch das Nöthige zur Rechtfertigung der Stelle zu ſagen, die<lb/>
dem Lyriſchen gegeben iſt. Es ſcheint der Zeit und dem Begriffe nach,<lb/>
oder, wenn man will: der Zeit nach, <hirendition="#g">weil</hi> dem Begriffe nach vielmehr<lb/>
das Erſte zu ſein, denn die Poeſie iſt die enge Nachbarinn der Muſik,<lb/>
kommt aus ihr und ſchickt ſich an, aus der Innerlichkeit der Empfindung<lb/>
die Welt der Objecte wieder zu erſchließen und auszubreiten, ihr Weſen iſt<lb/>
die Entfaltung der innerlich verarbeiteten Welt; daher waren lyriſche Er-<lb/>
gießungen der unmittelbaren Empfindung nothwendig überall die erſten<lb/>
Aeußerungen der dichteriſchen Phantaſie. Ein Intereſſe der bloßen logiſchen<lb/>
Conſequenz, die Kategorie der Objectivität um jeden Preis voranzuſtellen,<lb/>
wäre nur eine Verirrung der Abſtraction und das Syſtem könnte ganz<lb/>
ebenſogut hier dem Subjectiven die erſte Stelle anweiſen, dann das Objec-<lb/>
tive aus ihm hervortreten laſſen, endlich beide vereinigen, als in der Gruppe<lb/>
der bildenden Künſte umgekehrt die ſubjectivſte unter ihnen, die Malerei,<lb/>
als dritte, nicht als zweite geſetzt worden iſt. Allein genauer betrachtet<lb/>
verhält ſich die Sache anders: die älteſten Lieder waren überall objectiven<lb/>
Inhalts, prieſen Thaten der Götter und Menſchen; freilich in lyriſchem<lb/>
Tone, und man kann inſofern ſagen, es liege hier eine noch unentwickelte<lb/>
Einheit des Lyriſchen und Epiſchen vor, allein es war keine Einheit, die<lb/>
ein Gleichgewicht enthielt, vielmehr das objective, epiſche Element herrſchte<lb/>
und geſtaltete ſich zuerſt weiter zu beſtimmten Formen, zu Heldenliedern,<lb/>
die dann zu Epen zuſammenwuchſen, während das ſubjective, lyriſche noch<lb/>
lange Zeit viel zu unentwickelt blieb, um als entſchiedene Form in das<lb/>
Licht der Geſchichte der Poeſie herauszutreten, vielmehr die ſpäte Reife der<lb/>
Bildung abwarten mußte, die dem erfahrungsvolleren, durcharbeiteten Ge-<lb/>
müthe des Menſchen erſt die tiefere und reichere Reſonanz gibt, ihm die<lb/>
Menge von Saiten aufzieht, welche erklingen muß, wenn von einer lyriſchen<lb/>
Dichtung als ſtehendem Zweige ſoll die Rede ſein können. Hiſtoriſch und<lb/>
pſychologiſch hat den Beweis für den Vorgang des Epiſchen Wackernagel<lb/>
geführt (Schweiz. Muſ. f. hiſtor. Wiſſenſch. „Die epiſche Poeſie“ B. 1 u. 2).<lb/>
Wir haben den innern Grund mit der letzten Bemerkung bereits angedeutet:<lb/>
der ideale Weltgehalt erſcheint dem Individuum, das noch nicht durch die<lb/>
Arbeit der Bildung in ſich zurückgetreten iſt, als objectives Sein, Macht,<lb/>
Geſchichte. Kindliche Bewunderung all’ des Vielen und Herrlichen, was<lb/>
es gibt, iſt der erſte Standpunct. Dennoch behält jener Begriff einer<lb/>
urſprünglichen, unentwickelten Einheit des Lyriſchen und Epiſchen in den<lb/>
älteſten erzählenden Liedern ſeine relative Richtigkeit; jenes war im Keime<lb/>
vorhanden, mußte dann dieſem den Vortritt laſſen, nahm aber, als es ſelbſt<lb/>
an die Reihe der Entwicklung kam, die Form wieder auf, in der es einſt<lb/>
neben dem Epiſchen geſchlummert hatte, und gab ihr wirklich lyriſche Ge-<lb/>ſtalt; dieß wird an ſeinem Orte näher erklärt werden.</hi></p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[1262/0126]
Hier iſt nur noch das Nöthige zur Rechtfertigung der Stelle zu ſagen, die
dem Lyriſchen gegeben iſt. Es ſcheint der Zeit und dem Begriffe nach,
oder, wenn man will: der Zeit nach, weil dem Begriffe nach vielmehr
das Erſte zu ſein, denn die Poeſie iſt die enge Nachbarinn der Muſik,
kommt aus ihr und ſchickt ſich an, aus der Innerlichkeit der Empfindung
die Welt der Objecte wieder zu erſchließen und auszubreiten, ihr Weſen iſt
die Entfaltung der innerlich verarbeiteten Welt; daher waren lyriſche Er-
gießungen der unmittelbaren Empfindung nothwendig überall die erſten
Aeußerungen der dichteriſchen Phantaſie. Ein Intereſſe der bloßen logiſchen
Conſequenz, die Kategorie der Objectivität um jeden Preis voranzuſtellen,
wäre nur eine Verirrung der Abſtraction und das Syſtem könnte ganz
ebenſogut hier dem Subjectiven die erſte Stelle anweiſen, dann das Objec-
tive aus ihm hervortreten laſſen, endlich beide vereinigen, als in der Gruppe
der bildenden Künſte umgekehrt die ſubjectivſte unter ihnen, die Malerei,
als dritte, nicht als zweite geſetzt worden iſt. Allein genauer betrachtet
verhält ſich die Sache anders: die älteſten Lieder waren überall objectiven
Inhalts, prieſen Thaten der Götter und Menſchen; freilich in lyriſchem
Tone, und man kann inſofern ſagen, es liege hier eine noch unentwickelte
Einheit des Lyriſchen und Epiſchen vor, allein es war keine Einheit, die
ein Gleichgewicht enthielt, vielmehr das objective, epiſche Element herrſchte
und geſtaltete ſich zuerſt weiter zu beſtimmten Formen, zu Heldenliedern,
die dann zu Epen zuſammenwuchſen, während das ſubjective, lyriſche noch
lange Zeit viel zu unentwickelt blieb, um als entſchiedene Form in das
Licht der Geſchichte der Poeſie herauszutreten, vielmehr die ſpäte Reife der
Bildung abwarten mußte, die dem erfahrungsvolleren, durcharbeiteten Ge-
müthe des Menſchen erſt die tiefere und reichere Reſonanz gibt, ihm die
Menge von Saiten aufzieht, welche erklingen muß, wenn von einer lyriſchen
Dichtung als ſtehendem Zweige ſoll die Rede ſein können. Hiſtoriſch und
pſychologiſch hat den Beweis für den Vorgang des Epiſchen Wackernagel
geführt (Schweiz. Muſ. f. hiſtor. Wiſſenſch. „Die epiſche Poeſie“ B. 1 u. 2).
Wir haben den innern Grund mit der letzten Bemerkung bereits angedeutet:
der ideale Weltgehalt erſcheint dem Individuum, das noch nicht durch die
Arbeit der Bildung in ſich zurückgetreten iſt, als objectives Sein, Macht,
Geſchichte. Kindliche Bewunderung all’ des Vielen und Herrlichen, was
es gibt, iſt der erſte Standpunct. Dennoch behält jener Begriff einer
urſprünglichen, unentwickelten Einheit des Lyriſchen und Epiſchen in den
älteſten erzählenden Liedern ſeine relative Richtigkeit; jenes war im Keime
vorhanden, mußte dann dieſem den Vortritt laſſen, nahm aber, als es ſelbſt
an die Reihe der Entwicklung kam, die Form wieder auf, in der es einſt
neben dem Epiſchen geſchlummert hatte, und gab ihr wirklich lyriſche Ge-
ſtalt; dieß wird an ſeinem Orte näher erklärt werden.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/126>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.