Gruppirung verschiedener Strophen fortschreitet, so ist es doch nur das inhaltvolle Wort selbst, worin das Leben der Stimmung in seiner innersten Qualität und seinem Verlaufe sich den vollständigen Ausdruck gibt.
Hiedurch ist genauer bestimmt, was in §. 839 erst allgemein über das Verhältniß der Poesie zu der Musik gesagt wurde. Die letztere füllt Ton- leben mit Tonleben, auch ihr eigentlich Qualitatives ist Ton als Ausdruck der bloßen Stimmung; die erstere füllt ein blos quantitatives Tonleben mit dem Inhalte, der sich aus der bloßen Stimmung herausgewickelt hat und im articulirten Wort als bewußte innere Anschauung ausspricht. In dem Quantitativen, worein er gefaßt wird, dem Rhythmus, ist allerdings die Stimmung als einhüllendes und begleitendes Element über jene Ab- lösung hinüber erhalten; das Stimmungs-Element, worin das Gedicht empfangen ist, überlebt den Proceß, durch welchen der lichte Tag des Be- wußtseins aus dem Nebel hervorgetreten ist; aber wenn so die Stimmung bleibt, während doch das Kunsterzeugniß mehr, als bloße Stimmung, ist, so folgt, daß auch in der Seite, welche ihrem Ausdrucke dient, eben der rhythmischen Form nämlich, doch nicht das Ganze der Stimmung sich offen- baren kann, denn ihr Innerstes ist übergegangen in die deutliche Sprache des Wortes, in ihm ist das Gefühl Bewußtsein, der qualitative Kern desselben ist also ein Anderes geworden. Es fragt sich genauer, was übrig bleibt, wenn nicht mehr das ganze Leben der Stimmung als solches zum Ausdruck kommt. Der §. gebraucht für dieses schwer zu bezeichnende Moment das Wort Gang-Art. Wie sich der Takt als quantitativer Ausdruck der Stimmung von dem eigentlich Qualitativen derselben unterscheidet, geht daraus hervor, daß eine Tanz- und eine Trauer-Melodie in demselben Takte componirt sein können. Und dennoch wird sich die freudige Stimmung und die traurige auch wieder qualitativ anders gefärbt zeigen nach Unterschied des Taktes. Dieß ist das Schwierige. Die Gang-Art zeigt vom Quantitativen auf das Qualitative, ist eine verschiedene Temperatur in demselben, ohne mit ihm zusammenzufallen. Es verhält sich wie mit der wirklichen Bewegung eines Menschen: aus der Art, wie er sich vom Boden abstößt, aus dem Unterschied im Auftreten, Gehen oder Laufen, Innehalten, Zögern, wieder Aufspringen u. s. w. schließen wir auf seine Stimmung mit dem Vorbehalte, daß es doch verschiedene Stimmungen sein können, die in denselben Weisen der Bewegung sich ausdrücken, und umgekehrt, daß dieselbe Stimmung in verschiedenen Bewegungsweisen sich ausdrücken kann, allein so, daß dadurch innerhalb der gleichen Qualität Modificationen zu Tage treten, für die sich in der Sprache kaum das Wort findet. Daher ist es auch so schwer, die Stimmung der verschiedenen Metren zu bezeichnen, und gehen die Ver- suche, dieß zu thun, so weit aus einander. Zorn und Freude kann sich
Gruppirung verſchiedener Strophen fortſchreitet, ſo iſt es doch nur das inhaltvolle Wort ſelbſt, worin das Leben der Stimmung in ſeiner innerſten Qualität und ſeinem Verlaufe ſich den vollſtändigen Ausdruck gibt.
Hiedurch iſt genauer beſtimmt, was in §. 839 erſt allgemein über das Verhältniß der Poeſie zu der Muſik geſagt wurde. Die letztere füllt Ton- leben mit Tonleben, auch ihr eigentlich Qualitatives iſt Ton als Ausdruck der bloßen Stimmung; die erſtere füllt ein blos quantitatives Tonleben mit dem Inhalte, der ſich aus der bloßen Stimmung herausgewickelt hat und im articulirten Wort als bewußte innere Anſchauung ausſpricht. In dem Quantitativen, worein er gefaßt wird, dem Rhythmus, iſt allerdings die Stimmung als einhüllendes und begleitendes Element über jene Ab- löſung hinüber erhalten; das Stimmungs-Element, worin das Gedicht empfangen iſt, überlebt den Proceß, durch welchen der lichte Tag des Be- wußtſeins aus dem Nebel hervorgetreten iſt; aber wenn ſo die Stimmung bleibt, während doch das Kunſterzeugniß mehr, als bloße Stimmung, iſt, ſo folgt, daß auch in der Seite, welche ihrem Ausdrucke dient, eben der rhythmiſchen Form nämlich, doch nicht das Ganze der Stimmung ſich offen- baren kann, denn ihr Innerſtes iſt übergegangen in die deutliche Sprache des Wortes, in ihm iſt das Gefühl Bewußtſein, der qualitative Kern deſſelben iſt alſo ein Anderes geworden. Es fragt ſich genauer, was übrig bleibt, wenn nicht mehr das ganze Leben der Stimmung als ſolches zum Ausdruck kommt. Der §. gebraucht für dieſes ſchwer zu bezeichnende Moment das Wort Gang-Art. Wie ſich der Takt als quantitativer Ausdruck der Stimmung von dem eigentlich Qualitativen derſelben unterſcheidet, geht daraus hervor, daß eine Tanz- und eine Trauer-Melodie in demſelben Takte componirt ſein können. Und dennoch wird ſich die freudige Stimmung und die traurige auch wieder qualitativ anders gefärbt zeigen nach Unterſchied des Taktes. Dieß iſt das Schwierige. Die Gang-Art zeigt vom Quantitativen auf das Qualitative, iſt eine verſchiedene Temperatur in demſelben, ohne mit ihm zuſammenzufallen. Es verhält ſich wie mit der wirklichen Bewegung eines Menſchen: aus der Art, wie er ſich vom Boden abſtößt, aus dem Unterſchied im Auftreten, Gehen oder Laufen, Innehalten, Zögern, wieder Aufſpringen u. ſ. w. ſchließen wir auf ſeine Stimmung mit dem Vorbehalte, daß es doch verſchiedene Stimmungen ſein können, die in denſelben Weiſen der Bewegung ſich ausdrücken, und umgekehrt, daß dieſelbe Stimmung in verſchiedenen Bewegungsweiſen ſich ausdrücken kann, allein ſo, daß dadurch innerhalb der gleichen Qualität Modificationen zu Tage treten, für die ſich in der Sprache kaum das Wort findet. Daher iſt es auch ſo ſchwer, die Stimmung der verſchiedenen Metren zu bezeichnen, und gehen die Ver- ſuche, dieß zu thun, ſo weit aus einander. Zorn und Freude kann ſich
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Gruppirung verſchiedener Strophen fortſchreitet, ſo iſt es doch nur das
inhaltvolle Wort ſelbſt, worin das Leben der Stimmung in ſeiner innerſten
Qualität und ſeinem Verlaufe ſich den vollſtändigen Ausdruck gibt.
Hiedurch iſt genauer beſtimmt, was in §. 839 erſt allgemein über das
Verhältniß der Poeſie zu der Muſik geſagt wurde. Die letztere füllt Ton-
leben mit Tonleben, auch ihr eigentlich Qualitatives iſt Ton als Ausdruck
der bloßen Stimmung; die erſtere füllt ein blos quantitatives Tonleben
mit dem Inhalte, der ſich aus der bloßen Stimmung herausgewickelt hat
und im articulirten Wort als bewußte innere Anſchauung ausſpricht. In
dem Quantitativen, worein er gefaßt wird, dem Rhythmus, iſt allerdings
die Stimmung als einhüllendes und begleitendes Element über jene Ab-
löſung hinüber erhalten; das Stimmungs-Element, worin das Gedicht
empfangen iſt, überlebt den Proceß, durch welchen der lichte Tag des Be-
wußtſeins aus dem Nebel hervorgetreten iſt; aber wenn ſo die Stimmung
bleibt, während doch das Kunſterzeugniß mehr, als bloße Stimmung, iſt,
ſo folgt, daß auch in der Seite, welche ihrem Ausdrucke dient, eben der
rhythmiſchen Form nämlich, doch nicht das Ganze der Stimmung ſich offen-
baren kann, denn ihr Innerſtes iſt übergegangen in die deutliche Sprache
des Wortes, in ihm iſt das Gefühl Bewußtſein, der qualitative Kern deſſelben
iſt alſo ein Anderes geworden. Es fragt ſich genauer, was übrig bleibt, wenn
nicht mehr das ganze Leben der Stimmung als ſolches zum Ausdruck kommt.
Der §. gebraucht für dieſes ſchwer zu bezeichnende Moment das Wort
Gang-Art. Wie ſich der Takt als quantitativer Ausdruck der Stimmung
von dem eigentlich Qualitativen derſelben unterſcheidet, geht daraus hervor,
daß eine Tanz- und eine Trauer-Melodie in demſelben Takte componirt
ſein können. Und dennoch wird ſich die freudige Stimmung und die traurige
auch wieder qualitativ anders gefärbt zeigen nach Unterſchied des Taktes.
Dieß iſt das Schwierige. Die Gang-Art zeigt vom Quantitativen auf
das Qualitative, iſt eine verſchiedene Temperatur in demſelben, ohne mit
ihm zuſammenzufallen. Es verhält ſich wie mit der wirklichen Bewegung
eines Menſchen: aus der Art, wie er ſich vom Boden abſtößt, aus dem
Unterſchied im Auftreten, Gehen oder Laufen, Innehalten, Zögern, wieder
Aufſpringen u. ſ. w. ſchließen wir auf ſeine Stimmung mit dem Vorbehalte,
daß es doch verſchiedene Stimmungen ſein können, die in denſelben Weiſen
der Bewegung ſich ausdrücken, und umgekehrt, daß dieſelbe Stimmung in
verſchiedenen Bewegungsweiſen ſich ausdrücken kann, allein ſo, daß dadurch
innerhalb der gleichen Qualität Modificationen zu Tage treten, für die ſich
in der Sprache kaum das Wort findet. Daher iſt es auch ſo ſchwer, die
Stimmung der verſchiedenen Metren zu bezeichnen, und gehen die Ver-
ſuche, dieß zu thun, ſo weit aus einander. Zorn und Freude kann ſich
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/106>, abgerufen am 23.11.2024.
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