Munde jeder seiner Personen dürfte der Dichter so wilde, rasch überspringende, phantasmagorische Bilder vorbringen, wohl aber dem Helden, dem er ein so nervöses Wesen, eine so gefährliche Romantik der Phantasie geliehen hat, durfte er sie in der höchsten Spannung, da er mit Eins eine entsetzliche Zukunft überblickt, auf die Lippen legen. -- Etwas eigenthümlich Bewegtes aber haben alle Bilder Shakespeare's; sie gemahnen uns, wie wenn man mit unruhigem, blutrothem Fackellicht in eine Stalaktiten-Höhle leuchtete, wogegen die Vergleichungen der Griechen und Göthe's wie eine Sonne ruhig aufgehen und Zug für Zug den Gegenstand in scharfer Deutlichkeit des Umrisses aufzeigen. Dieß ist episch; die griechischen Dramatiker haben allerdings etwas von Shakespeare's bewegter, geisterhafter Gluth, doch gekühlt im plastischen Formgefühle.
Der charakteristische Styl wird auch im nicht bildlichen Gebiete, dem der sog. Figuren, im Allgemeinen der kühnere sein. Subjectiver bewegt, wie er ist, erlaubt er sich eine naturalistische Freiheit auch in Behandlung der Sprachregeln und wirft sich in trotziger Nachlässigkeit gegen die classische Correctheit auf. Auch hierin ist der erste große Dichter dieses Styls, Shakes- peare, ein Beispiel, besonders belehrend aber der Muthwille der Schreibart in der Sturm- und Drang-Periode, denn dieser gieng von der gesteigerten, überschwenglichen Empfindungsfülle aus (vergl. §. 846, 2.), die sich aber aus ihrer inneren Herrlichkeit zugleich das Recht des derbsten und freiesten Umspringens mit der Sprache nahm; die Natur wurde in dem doppelten Sinne des Gefühls der Unendlichkeit und gleichzeitig als die sogen. liebe Natur, als Cynismus entfesselt und beides schlug sich insbesondere in den Formen nieder, die man Figuren nennt; da wimmelt es denn namentlich in Göthe's Jugendstyl von Aposiopesen, Abbrechungen, unendlichen Aus- rufungen u. s. w. bis hinaus auf die eigentlichen Formfiguren, die Weg- lassungen des Artikels, des persönlichen Fürworts, des Hülfszeitworts, die Stutzung der Endsylben, die Provinzialismen. Als aber Göthe sich classisch geläutert hatte, nahm er nach und nach jenen vornehm gereinigten, bequem säuberlichen Styl an, der von der Kraft des Naturalismus nur zu weit abliegt und ein neuer Beleg ist, daß die Stylrichtungen sich nicht zu weit von einander entfernen sollen.
§. 855.
Der poetische Styl im engeren formalen Sinne des Worts legt sich als Rhythmus in der Sprache nieder (vergl. §. 839, 3.). Derselbe besteht in regel- mäßiger Wiederkehr einer bestimmten Anzahl von Zeitmomenten, welche von einem Accente beherrscht werden, also sich nach dem Merkmale der Stärke und Schwäche unterscheiden. Vermöge einer natürlichen inneren Verwandtschaft der
Munde jeder ſeiner Perſonen dürfte der Dichter ſo wilde, raſch überſpringende, phantasmagoriſche Bilder vorbringen, wohl aber dem Helden, dem er ein ſo nervöſes Weſen, eine ſo gefährliche Romantik der Phantaſie geliehen hat, durfte er ſie in der höchſten Spannung, da er mit Eins eine entſetzliche Zukunft überblickt, auf die Lippen legen. — Etwas eigenthümlich Bewegtes aber haben alle Bilder Shakespeare’s; ſie gemahnen uns, wie wenn man mit unruhigem, blutrothem Fackellicht in eine Stalaktiten-Höhle leuchtete, wogegen die Vergleichungen der Griechen und Göthe’s wie eine Sonne ruhig aufgehen und Zug für Zug den Gegenſtand in ſcharfer Deutlichkeit des Umriſſes aufzeigen. Dieß iſt epiſch; die griechiſchen Dramatiker haben allerdings etwas von Shakespeare’s bewegter, geiſterhafter Gluth, doch gekühlt im plaſtiſchen Formgefühle.
Der charakteriſtiſche Styl wird auch im nicht bildlichen Gebiete, dem der ſog. Figuren, im Allgemeinen der kühnere ſein. Subjectiver bewegt, wie er iſt, erlaubt er ſich eine naturaliſtiſche Freiheit auch in Behandlung der Sprachregeln und wirft ſich in trotziger Nachläſſigkeit gegen die claſſiſche Correctheit auf. Auch hierin iſt der erſte große Dichter dieſes Styls, Shakes- peare, ein Beiſpiel, beſonders belehrend aber der Muthwille der Schreibart in der Sturm- und Drang-Periode, denn dieſer gieng von der geſteigerten, überſchwenglichen Empfindungsfülle aus (vergl. §. 846, 2.), die ſich aber aus ihrer inneren Herrlichkeit zugleich das Recht des derbſten und freieſten Umſpringens mit der Sprache nahm; die Natur wurde in dem doppelten Sinne des Gefühls der Unendlichkeit und gleichzeitig als die ſogen. liebe Natur, als Cynismus entfeſſelt und beides ſchlug ſich insbeſondere in den Formen nieder, die man Figuren nennt; da wimmelt es denn namentlich in Göthe’s Jugendſtyl von Apoſiopeſen, Abbrechungen, unendlichen Aus- rufungen u. ſ. w. bis hinaus auf die eigentlichen Formfiguren, die Weg- laſſungen des Artikels, des perſönlichen Fürworts, des Hülfszeitworts, die Stutzung der Endſylben, die Provinzialismen. Als aber Göthe ſich claſſiſch geläutert hatte, nahm er nach und nach jenen vornehm gereinigten, bequem ſäuberlichen Styl an, der von der Kraft des Naturalismus nur zu weit abliegt und ein neuer Beleg iſt, daß die Stylrichtungen ſich nicht zu weit von einander entfernen ſollen.
§. 855.
Der poetiſche Styl im engeren formalen Sinne des Worts legt ſich als Rhythmus in der Sprache nieder (vergl. §. 839, 3.). Derſelbe beſteht in regel- mäßiger Wiederkehr einer beſtimmten Anzahl von Zeitmomenten, welche von einem Accente beherrſcht werden, alſo ſich nach dem Merkmale der Stärke und Schwäche unterſcheiden. Vermöge einer natürlichen inneren Verwandtſchaft der
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0102"n="1238"/>
Munde jeder ſeiner Perſonen dürfte der Dichter ſo wilde, raſch überſpringende,<lb/>
phantasmagoriſche Bilder vorbringen, wohl aber dem Helden, dem er ein<lb/>ſo nervöſes Weſen, eine ſo gefährliche Romantik der Phantaſie geliehen hat,<lb/>
durfte er ſie in der höchſten Spannung, da er mit Eins eine entſetzliche<lb/>
Zukunft überblickt, auf die Lippen legen. — Etwas eigenthümlich Bewegtes<lb/>
aber haben alle Bilder Shakespeare’s; ſie gemahnen uns, wie wenn man<lb/>
mit unruhigem, blutrothem Fackellicht in eine Stalaktiten-Höhle leuchtete,<lb/>
wogegen die Vergleichungen der Griechen und Göthe’s wie eine Sonne<lb/>
ruhig aufgehen und Zug für Zug den Gegenſtand in ſcharfer Deutlichkeit<lb/>
des Umriſſes aufzeigen. Dieß iſt epiſch; die griechiſchen Dramatiker haben<lb/>
allerdings etwas von Shakespeare’s bewegter, geiſterhafter Gluth, doch<lb/>
gekühlt im plaſtiſchen Formgefühle.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">Der charakteriſtiſche Styl wird auch im nicht bildlichen Gebiete, dem<lb/>
der ſog. Figuren, im Allgemeinen der kühnere ſein. Subjectiver bewegt,<lb/>
wie er iſt, erlaubt er ſich eine naturaliſtiſche Freiheit auch in Behandlung<lb/>
der Sprachregeln und wirft ſich in trotziger Nachläſſigkeit gegen die claſſiſche<lb/>
Correctheit auf. Auch hierin iſt der erſte große Dichter dieſes Styls, Shakes-<lb/>
peare, ein Beiſpiel, beſonders belehrend aber der Muthwille der Schreibart<lb/>
in der Sturm- und Drang-Periode, denn dieſer gieng von der geſteigerten,<lb/>
überſchwenglichen Empfindungsfülle aus (vergl. §. 846, <hirendition="#sub">2</hi>.), die ſich aber<lb/>
aus ihrer inneren Herrlichkeit zugleich das Recht des derbſten und freieſten<lb/>
Umſpringens mit der Sprache nahm; die Natur wurde in dem doppelten<lb/>
Sinne des Gefühls der Unendlichkeit und gleichzeitig als die ſogen. liebe<lb/>
Natur, als Cynismus entfeſſelt und beides ſchlug ſich insbeſondere in den<lb/>
Formen nieder, die man Figuren nennt; da wimmelt es denn namentlich<lb/>
in Göthe’s Jugendſtyl von Apoſiopeſen, Abbrechungen, unendlichen Aus-<lb/>
rufungen u. ſ. w. bis hinaus auf die eigentlichen Formfiguren, die Weg-<lb/>
laſſungen des Artikels, des perſönlichen Fürworts, des Hülfszeitworts, die<lb/>
Stutzung der Endſylben, die Provinzialismen. Als aber Göthe ſich claſſiſch<lb/>
geläutert hatte, nahm er nach und nach jenen vornehm gereinigten, bequem<lb/>ſäuberlichen Styl an, der von der Kraft des Naturalismus nur zu weit<lb/>
abliegt und ein neuer Beleg iſt, daß die Stylrichtungen ſich nicht zu weit<lb/>
von einander entfernen ſollen.</hi></p></div><lb/><divn="4"><head>§. 855.</head><lb/><p><hirendition="#fr">Der poetiſche Styl im engeren formalen Sinne des Worts legt ſich als<lb/><hirendition="#g">Rhythmus</hi> in der Sprache nieder (vergl. §. 839, <hirendition="#sub">3</hi>.). Derſelbe beſteht in regel-<lb/>
mäßiger Wiederkehr einer beſtimmten Anzahl von Zeitmomenten, welche von<lb/>
einem Accente beherrſcht werden, alſo ſich nach dem Merkmale der Stärke und<lb/>
Schwäche unterſcheiden. Vermöge einer natürlichen inneren Verwandtſchaft der<lb/></hi></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[1238/0102]
Munde jeder ſeiner Perſonen dürfte der Dichter ſo wilde, raſch überſpringende,
phantasmagoriſche Bilder vorbringen, wohl aber dem Helden, dem er ein
ſo nervöſes Weſen, eine ſo gefährliche Romantik der Phantaſie geliehen hat,
durfte er ſie in der höchſten Spannung, da er mit Eins eine entſetzliche
Zukunft überblickt, auf die Lippen legen. — Etwas eigenthümlich Bewegtes
aber haben alle Bilder Shakespeare’s; ſie gemahnen uns, wie wenn man
mit unruhigem, blutrothem Fackellicht in eine Stalaktiten-Höhle leuchtete,
wogegen die Vergleichungen der Griechen und Göthe’s wie eine Sonne
ruhig aufgehen und Zug für Zug den Gegenſtand in ſcharfer Deutlichkeit
des Umriſſes aufzeigen. Dieß iſt epiſch; die griechiſchen Dramatiker haben
allerdings etwas von Shakespeare’s bewegter, geiſterhafter Gluth, doch
gekühlt im plaſtiſchen Formgefühle.
Der charakteriſtiſche Styl wird auch im nicht bildlichen Gebiete, dem
der ſog. Figuren, im Allgemeinen der kühnere ſein. Subjectiver bewegt,
wie er iſt, erlaubt er ſich eine naturaliſtiſche Freiheit auch in Behandlung
der Sprachregeln und wirft ſich in trotziger Nachläſſigkeit gegen die claſſiſche
Correctheit auf. Auch hierin iſt der erſte große Dichter dieſes Styls, Shakes-
peare, ein Beiſpiel, beſonders belehrend aber der Muthwille der Schreibart
in der Sturm- und Drang-Periode, denn dieſer gieng von der geſteigerten,
überſchwenglichen Empfindungsfülle aus (vergl. §. 846, 2.), die ſich aber
aus ihrer inneren Herrlichkeit zugleich das Recht des derbſten und freieſten
Umſpringens mit der Sprache nahm; die Natur wurde in dem doppelten
Sinne des Gefühls der Unendlichkeit und gleichzeitig als die ſogen. liebe
Natur, als Cynismus entfeſſelt und beides ſchlug ſich insbeſondere in den
Formen nieder, die man Figuren nennt; da wimmelt es denn namentlich
in Göthe’s Jugendſtyl von Apoſiopeſen, Abbrechungen, unendlichen Aus-
rufungen u. ſ. w. bis hinaus auf die eigentlichen Formfiguren, die Weg-
laſſungen des Artikels, des perſönlichen Fürworts, des Hülfszeitworts, die
Stutzung der Endſylben, die Provinzialismen. Als aber Göthe ſich claſſiſch
geläutert hatte, nahm er nach und nach jenen vornehm gereinigten, bequem
ſäuberlichen Styl an, der von der Kraft des Naturalismus nur zu weit
abliegt und ein neuer Beleg iſt, daß die Stylrichtungen ſich nicht zu weit
von einander entfernen ſollen.
§. 855.
Der poetiſche Styl im engeren formalen Sinne des Worts legt ſich als
Rhythmus in der Sprache nieder (vergl. §. 839, 3.). Derſelbe beſteht in regel-
mäßiger Wiederkehr einer beſtimmten Anzahl von Zeitmomenten, welche von
einem Accente beherrſcht werden, alſo ſich nach dem Merkmale der Stärke und
Schwäche unterſcheiden. Vermöge einer natürlichen inneren Verwandtſchaft der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/102>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.