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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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haben (z. B. auch Araber, Aegypter, Hindus), zugleich diejenigen sind, bei
welchen nicht das melodische und harmonische, sondern das aufregende
rhythmische Element der Musik vorherrscht, noch mehr aber, daß ihr Ton-
system nach Umfang der Höhe und Tiefe ein enges und beschränktes ist und
daher auch aus diesem Grunde keinen Raum hat für gehörige Klarheit und
Mannigfaltigkeit der Töne; diese wird ja nur da möglich, wo das Ton-
system nach beiden Seiten, nach oben und unten, hinlänglich ausgedehnt
ist, um für alle möglichen hohen und tiefen und eben hiedurch bestimmt von
einander geschiedenen Tongattungen Platz zu bieten. Weite Ausdehnung
des Tonsystems bis zu den Grenzen des klar Vernehmlichen und innerhalb
dieser Ausdehnung klare und distincte, einfach und mühelos hervorzubringende
und zu erfassende Distanzen der Nachbartöne, dieses zusammen erst macht
natürlich und deutlich ansprechende, gesundkräftige, lebendigfreie und reich
gegliederte Musik möglich; wie die Sprache des lebendig erregten Menschen
nicht in continuirlicher Tonerhöhung und Tonverminderung auf- und ab-
gleitet, sondern in freiem Schwunge klar geschiedene höhere und niederere
Tonlagen ergreift, so auch die Musik; es gibt für Gehör und Verstand
nichts Widrigeres als eine stetige Hinauf- oder Herabschiebung des Tones,
wie eine solche z. B. beim Stimmen einer Saite oder bei dem eben durch
diese Stetigkeit uns unausstehlichen Hundegeheul stattfindet. Nur so viel ist
hiebei zu fordern, daß die Distanzen der Einzeltöne nicht eine Weite haben,
bei welcher eine enge und fließende Verbindung derselben unmöglich wäre.
Es ist ein nicht minder wesentliches Gesetz, daß von jedem Tone nach
beiden Seiten ein fließender Uebergang in eine andere Tonstufe möglich sei,
weil Einheit des Mannigfaltigen nicht minder ein Postulat der Kunst ist
als die Mannigfaltigkeit; in diesem Sinne muß das Tonsystem allerdings
eine continuirliche Reihe sein ohne Lücken und Entfernungen, die nur eine
sprungweise Hinundherbewegung auf ihm gestatten würden. Diesem Be-
dürfniß enger Verbindung und fließenden Uebergangs dienen in unserem
Tonsystem namentlich die Halbtöne, die nicht nur zwischen den Ganz-
tönen überall nach freiem Belieben eingeschaltet werden können, sondern
auch längst durch naturgemäße Praxis eine feste Stellung auf gewissen
Stufen der Tonleitern angewiesen erhalten haben; durch sie tritt dem
Momente klarer Distinctheit das ebenso unentbehrliche der engen und
stetigen Verknüpfung ergänzend zur Seite, freilich immer in untergeordneter
Bedeutung, da der weniger klare, freie, gehobene Fortgang durch Halbtöne
nicht der vorherrschende sein kann.

2. In Betreff des im §. über die weitern wesentlichen Intervallver-
hältnisse Gesagten ist zunächst auf die unmittelbare acustische Erfahrung
und sodann auf die Ergebnisse der Physik zu verweisen, welche Dem, was
das Gefühl vom Tonsysteme fordert, vielfach eine so schöne Bestätigung

haben (z. B. auch Araber, Aegypter, Hindus), zugleich diejenigen ſind, bei
welchen nicht das melodiſche und harmoniſche, ſondern das aufregende
rhythmiſche Element der Muſik vorherrſcht, noch mehr aber, daß ihr Ton-
ſyſtem nach Umfang der Höhe und Tiefe ein enges und beſchränktes iſt und
daher auch aus dieſem Grunde keinen Raum hat für gehörige Klarheit und
Mannigfaltigkeit der Töne; dieſe wird ja nur da möglich, wo das Ton-
ſyſtem nach beiden Seiten, nach oben und unten, hinlänglich ausgedehnt
iſt, um für alle möglichen hohen und tiefen und eben hiedurch beſtimmt von
einander geſchiedenen Tongattungen Platz zu bieten. Weite Ausdehnung
des Tonſyſtems bis zu den Grenzen des klar Vernehmlichen und innerhalb
dieſer Ausdehnung klare und diſtincte, einfach und mühelos hervorzubringende
und zu erfaſſende Diſtanzen der Nachbartöne, dieſes zuſammen erſt macht
natürlich und deutlich anſprechende, geſundkräftige, lebendigfreie und reich
gegliederte Muſik möglich; wie die Sprache des lebendig erregten Menſchen
nicht in continuirlicher Tonerhöhung und Tonverminderung auf- und ab-
gleitet, ſondern in freiem Schwunge klar geſchiedene höhere und niederere
Tonlagen ergreift, ſo auch die Muſik; es gibt für Gehör und Verſtand
nichts Widrigeres als eine ſtetige Hinauf- oder Herabſchiebung des Tones,
wie eine ſolche z. B. beim Stimmen einer Saite oder bei dem eben durch
dieſe Stetigkeit uns unausſtehlichen Hundegeheul ſtattfindet. Nur ſo viel iſt
hiebei zu fordern, daß die Diſtanzen der Einzeltöne nicht eine Weite haben,
bei welcher eine enge und fließende Verbindung derſelben unmöglich wäre.
Es iſt ein nicht minder weſentliches Geſetz, daß von jedem Tone nach
beiden Seiten ein fließender Uebergang in eine andere Tonſtufe möglich ſei,
weil Einheit des Mannigfaltigen nicht minder ein Poſtulat der Kunſt iſt
als die Mannigfaltigkeit; in dieſem Sinne muß das Tonſyſtem allerdings
eine continuirliche Reihe ſein ohne Lücken und Entfernungen, die nur eine
ſprungweiſe Hinundherbewegung auf ihm geſtatten würden. Dieſem Be-
dürfniß enger Verbindung und fließenden Uebergangs dienen in unſerem
Tonſyſtem namentlich die Halbtöne, die nicht nur zwiſchen den Ganz-
tönen überall nach freiem Belieben eingeſchaltet werden können, ſondern
auch längſt durch naturgemäße Praxis eine feſte Stellung auf gewiſſen
Stufen der Tonleitern angewieſen erhalten haben; durch ſie tritt dem
Momente klarer Diſtinctheit das ebenſo unentbehrliche der engen und
ſtetigen Verknüpfung ergänzend zur Seite, freilich immer in untergeordneter
Bedeutung, da der weniger klare, freie, gehobene Fortgang durch Halbtöne
nicht der vorherrſchende ſein kann.

2. In Betreff des im §. über die weitern weſentlichen Intervallver-
hältniſſe Geſagten iſt zunächſt auf die unmittelbare acuſtiſche Erfahrung
und ſodann auf die Ergebniſſe der Phyſik zu verweiſen, welche Dem, was
das Gefühl vom Tonſyſteme fordert, vielfach eine ſo ſchöne Beſtätigung

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[853/0091] haben (z. B. auch Araber, Aegypter, Hindus), zugleich diejenigen ſind, bei welchen nicht das melodiſche und harmoniſche, ſondern das aufregende rhythmiſche Element der Muſik vorherrſcht, noch mehr aber, daß ihr Ton- ſyſtem nach Umfang der Höhe und Tiefe ein enges und beſchränktes iſt und daher auch aus dieſem Grunde keinen Raum hat für gehörige Klarheit und Mannigfaltigkeit der Töne; dieſe wird ja nur da möglich, wo das Ton- ſyſtem nach beiden Seiten, nach oben und unten, hinlänglich ausgedehnt iſt, um für alle möglichen hohen und tiefen und eben hiedurch beſtimmt von einander geſchiedenen Tongattungen Platz zu bieten. Weite Ausdehnung des Tonſyſtems bis zu den Grenzen des klar Vernehmlichen und innerhalb dieſer Ausdehnung klare und diſtincte, einfach und mühelos hervorzubringende und zu erfaſſende Diſtanzen der Nachbartöne, dieſes zuſammen erſt macht natürlich und deutlich anſprechende, geſundkräftige, lebendigfreie und reich gegliederte Muſik möglich; wie die Sprache des lebendig erregten Menſchen nicht in continuirlicher Tonerhöhung und Tonverminderung auf- und ab- gleitet, ſondern in freiem Schwunge klar geſchiedene höhere und niederere Tonlagen ergreift, ſo auch die Muſik; es gibt für Gehör und Verſtand nichts Widrigeres als eine ſtetige Hinauf- oder Herabſchiebung des Tones, wie eine ſolche z. B. beim Stimmen einer Saite oder bei dem eben durch dieſe Stetigkeit uns unausſtehlichen Hundegeheul ſtattfindet. Nur ſo viel iſt hiebei zu fordern, daß die Diſtanzen der Einzeltöne nicht eine Weite haben, bei welcher eine enge und fließende Verbindung derſelben unmöglich wäre. Es iſt ein nicht minder weſentliches Geſetz, daß von jedem Tone nach beiden Seiten ein fließender Uebergang in eine andere Tonſtufe möglich ſei, weil Einheit des Mannigfaltigen nicht minder ein Poſtulat der Kunſt iſt als die Mannigfaltigkeit; in dieſem Sinne muß das Tonſyſtem allerdings eine continuirliche Reihe ſein ohne Lücken und Entfernungen, die nur eine ſprungweiſe Hinundherbewegung auf ihm geſtatten würden. Dieſem Be- dürfniß enger Verbindung und fließenden Uebergangs dienen in unſerem Tonſyſtem namentlich die Halbtöne, die nicht nur zwiſchen den Ganz- tönen überall nach freiem Belieben eingeſchaltet werden können, ſondern auch längſt durch naturgemäße Praxis eine feſte Stellung auf gewiſſen Stufen der Tonleitern angewieſen erhalten haben; durch ſie tritt dem Momente klarer Diſtinctheit das ebenſo unentbehrliche der engen und ſtetigen Verknüpfung ergänzend zur Seite, freilich immer in untergeordneter Bedeutung, da der weniger klare, freie, gehobene Fortgang durch Halbtöne nicht der vorherrſchende ſein kann. 2. In Betreff des im §. über die weitern weſentlichen Intervallver- hältniſſe Geſagten iſt zunächſt auf die unmittelbare acuſtiſche Erfahrung und ſodann auf die Ergebniſſe der Phyſik zu verweiſen, welche Dem, was das Gefühl vom Tonſyſteme fordert, vielfach eine ſo ſchöne Beſtätigung

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 853. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/91>, abgerufen am 27.11.2024.