Instrumentalmusik ruht, wie man sieht, auf dem Satze unserer psychologischen Grundlegung (§. 749, Anm.): "wir stehen vor einer schwierigen Wahl: entweder reines Gefühl, aber behaftet mit einem Bedürfniß der Ergänzung, die es deutet, seiner Objectlosigkeit abhilft, oder gedeutetes, auf das Object bezogenes, aber nicht mehr in seiner Reinheit vorliegendes Gefühl."
§. 765.
Aus dieser schwankenden, wesentlich subjectiven und doch die Ahnung des1. Objects erweckenden Natur der Musik ergibt sich auch die Schwierigkeit der Frage, wie weit dieselbe fähig sei, zu individualisiren und so den großen Gegensatz der Stylprinzipien in ihrem Schooß auszubilden, womit unmittelbar die andere zusammenhängt, ob sie des Komischen machtig sei.2.
1. Die mathematische Grundlage der Musik kann, so scheint es zunächst, ebensowenig ein Hinderniß des Individuellen in seiner unendlichen Eigenheit sein, als die Proportionen in der Malerei. Der Maler darf nicht schlechthin das Gesetz des Organismus verletzen, aber diesseits dieser Grenze hat er einen unendlichen Spielraum für alle die kleineren und größeren Abweichungen in Form und Bewegung, durch welche die Regel der normalen Schönheit sich zum Ausdruck einer Existenz bricht, welcher keine andere gleicht. Ebenso gibt es innerhalb der Gesetze des qualitativen Zusammenstimmens und quantita- tiven Messens in der Musik eine unendliche Möglichkeit von Ordnungen in der Anwendung sämmtlicher musikalischer Mittel, der Tonart, des Takts, Tempo's, der Tonfolge als Melodie, der Harmonie, durch deren Erfindung der Musiker das schlechthin Eigene der Individualität zur Erscheinung bringen kann. Es gibt Geister, die sich nicht über das Richtmaaß des Allgemeinen oder eines gewissen Typus im Allgemeinen erheben; der Genius legt aber immer im einzelnen musikalischen Kunstwerke die Individualität einer Stim- mung, in der ganzen Reihe seiner Compositionen die Originalität eines ästhetischen Charakters nieder. Er vermag aber auch die Individualität einer Stimmung zum stetigen objectiven Charakterbild auszudehnen, das ihm der Dichter vorgezeichnet hat. Hier kommt es denn darauf an, ob der Text dieses Bild mit jenen scharfen Zügen ausgestattet hat, die wir im Unter- schiede von der plastisch schönen, generalisirenden Stylrichtung die individua- lisirende und (in Beziehung auf den freieren Ausdruck der Natur, wie sie sich in ihren Zufälligkeiten gehen läßt und auf das herbere Gepräge empirischer Bedingtheit durch Alter, Stand u. dergl.) die naturalisirende nennen. Liegt eine solche Zeichnung vor, so fragt es sich, wie weit der Musiker dem Dichter folgen könne. Bis auf einen gewissen Punct muß es möglich sein; es ist ja überhaupt kein Zweifel, daß das unendlich Eigene des Charakters
Inſtrumentalmuſik ruht, wie man ſieht, auf dem Satze unſerer pſychologiſchen Grundlegung (§. 749, Anm.): „wir ſtehen vor einer ſchwierigen Wahl: entweder reines Gefühl, aber behaftet mit einem Bedürfniß der Ergänzung, die es deutet, ſeiner Objectloſigkeit abhilft, oder gedeutetes, auf das Object bezogenes, aber nicht mehr in ſeiner Reinheit vorliegendes Gefühl.“
§. 765.
Aus dieſer ſchwankenden, weſentlich ſubjectiven und doch die Ahnung des1. Objects erweckenden Natur der Muſik ergibt ſich auch die Schwierigkeit der Frage, wie weit dieſelbe fähig ſei, zu individualiſiren und ſo den großen Gegenſatz der Stylprinzipien in ihrem Schooß auszubilden, womit unmittelbar die andere zuſammenhängt, ob ſie des Komiſchen machtig ſei.2.
1. Die mathematiſche Grundlage der Muſik kann, ſo ſcheint es zunächſt, ebenſowenig ein Hinderniß des Individuellen in ſeiner unendlichen Eigenheit ſein, als die Proportionen in der Malerei. Der Maler darf nicht ſchlechthin das Geſetz des Organiſmus verletzen, aber dieſſeits dieſer Grenze hat er einen unendlichen Spielraum für alle die kleineren und größeren Abweichungen in Form und Bewegung, durch welche die Regel der normalen Schönheit ſich zum Ausdruck einer Exiſtenz bricht, welcher keine andere gleicht. Ebenſo gibt es innerhalb der Geſetze des qualitativen Zuſammenſtimmens und quantita- tiven Meſſens in der Muſik eine unendliche Möglichkeit von Ordnungen in der Anwendung ſämmtlicher muſikaliſcher Mittel, der Tonart, des Takts, Tempo’s, der Tonfolge als Melodie, der Harmonie, durch deren Erfindung der Muſiker das ſchlechthin Eigene der Individualität zur Erſcheinung bringen kann. Es gibt Geiſter, die ſich nicht über das Richtmaaß des Allgemeinen oder eines gewiſſen Typus im Allgemeinen erheben; der Genius legt aber immer im einzelnen muſikaliſchen Kunſtwerke die Individualität einer Stim- mung, in der ganzen Reihe ſeiner Compoſitionen die Originalität eines äſthetiſchen Charakters nieder. Er vermag aber auch die Individualität einer Stimmung zum ſtetigen objectiven Charakterbild auszudehnen, das ihm der Dichter vorgezeichnet hat. Hier kommt es denn darauf an, ob der Text dieſes Bild mit jenen ſcharfen Zügen ausgeſtattet hat, die wir im Unter- ſchiede von der plaſtiſch ſchönen, generaliſirenden Stylrichtung die individua- liſirende und (in Beziehung auf den freieren Ausdruck der Natur, wie ſie ſich in ihren Zufälligkeiten gehen läßt und auf das herbere Gepräge empiriſcher Bedingtheit durch Alter, Stand u. dergl.) die naturaliſirende nennen. Liegt eine ſolche Zeichnung vor, ſo fragt es ſich, wie weit der Muſiker dem Dichter folgen könne. Bis auf einen gewiſſen Punct muß es möglich ſein; es iſt ja überhaupt kein Zweifel, daß das unendlich Eigene des Charakters
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[831/0069]
Inſtrumentalmuſik ruht, wie man ſieht, auf dem Satze unſerer pſychologiſchen
Grundlegung (§. 749, Anm.): „wir ſtehen vor einer ſchwierigen Wahl:
entweder reines Gefühl, aber behaftet mit einem Bedürfniß der Ergänzung,
die es deutet, ſeiner Objectloſigkeit abhilft, oder gedeutetes, auf das Object
bezogenes, aber nicht mehr in ſeiner Reinheit vorliegendes Gefühl.“
§. 765.
Aus dieſer ſchwankenden, weſentlich ſubjectiven und doch die Ahnung des
Objects erweckenden Natur der Muſik ergibt ſich auch die Schwierigkeit der
Frage, wie weit dieſelbe fähig ſei, zu individualiſiren und ſo den großen
Gegenſatz der Stylprinzipien in ihrem Schooß auszubilden, womit unmittelbar
die andere zuſammenhängt, ob ſie des Komiſchen machtig ſei.
1. Die mathematiſche Grundlage der Muſik kann, ſo ſcheint es zunächſt,
ebenſowenig ein Hinderniß des Individuellen in ſeiner unendlichen Eigenheit
ſein, als die Proportionen in der Malerei. Der Maler darf nicht ſchlechthin
das Geſetz des Organiſmus verletzen, aber dieſſeits dieſer Grenze hat er einen
unendlichen Spielraum für alle die kleineren und größeren Abweichungen in
Form und Bewegung, durch welche die Regel der normalen Schönheit ſich
zum Ausdruck einer Exiſtenz bricht, welcher keine andere gleicht. Ebenſo gibt
es innerhalb der Geſetze des qualitativen Zuſammenſtimmens und quantita-
tiven Meſſens in der Muſik eine unendliche Möglichkeit von Ordnungen in
der Anwendung ſämmtlicher muſikaliſcher Mittel, der Tonart, des Takts,
Tempo’s, der Tonfolge als Melodie, der Harmonie, durch deren Erfindung
der Muſiker das ſchlechthin Eigene der Individualität zur Erſcheinung bringen
kann. Es gibt Geiſter, die ſich nicht über das Richtmaaß des Allgemeinen
oder eines gewiſſen Typus im Allgemeinen erheben; der Genius legt aber
immer im einzelnen muſikaliſchen Kunſtwerke die Individualität einer Stim-
mung, in der ganzen Reihe ſeiner Compoſitionen die Originalität eines
äſthetiſchen Charakters nieder. Er vermag aber auch die Individualität einer
Stimmung zum ſtetigen objectiven Charakterbild auszudehnen, das ihm der
Dichter vorgezeichnet hat. Hier kommt es denn darauf an, ob der Text
dieſes Bild mit jenen ſcharfen Zügen ausgeſtattet hat, die wir im Unter-
ſchiede von der plaſtiſch ſchönen, generaliſirenden Stylrichtung die individua-
liſirende und (in Beziehung auf den freieren Ausdruck der Natur, wie ſie ſich
in ihren Zufälligkeiten gehen läßt und auf das herbere Gepräge empiriſcher
Bedingtheit durch Alter, Stand u. dergl.) die naturaliſirende nennen. Liegt
eine ſolche Zeichnung vor, ſo fragt es ſich, wie weit der Muſiker dem
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es iſt ja überhaupt kein Zweifel, daß das unendlich Eigene des Charakters
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 831. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/69>, abgerufen am 25.11.2024.
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