befähigt und berufen, der Dilettantismus ist in keiner Kunst so wohlthätig und berechtigt, wie in dieser, und so kann sie jeden Moment mitten aus den empirischen Bedingungen des Lebens herausheben und über die träge Erdenschwere der als Last gefühlten Zeit hinausheben, sozusagen die Zeit innerhalb ihrer selbst idealisiren. Ja man kann die Musik im tieferen Sinn die Idealisirung der Zeit wie die Baukunst die Idealisirung der unorganischen Natur nennen.
§. 764.
Aus der Gesammtheit dieser Grundbestimmungen ergibt sich der wesentlich amphibolische Charakter, welcher der Musik in Vergleichung mit den andern Künsten eigen ist. Sie ist das Ideal selbst, die blosgelegte Seele aller Künste, das Geheimniß aller Form, eine Ahnung weltbauender Gesetze und ebensosehr das verflüchtigte, unentfaltete Ideal, sie hat Alles und Nichts, ist sinnlich und unsinnlich, eine Quelle hohen und reinen Genusses, die doch Vielen völlig ver- schlossen ist, Alle ermüdend, wenn sie ein bescheidenes Maaß der Dauer über- schreitet, durch ihren innern Mangel zum Anschluß an das Wort getrieben und dann unselbständig, in ihrer reinen Selbständigkeit aber von einem Gefühle begleitet wie ein ungelöstes Räthsel.
Wir haben bereits in der Grundlegung des gegenwärtigen Gebiets, §. 746, dessen eigenthümliche Zweiseitigkeit als wesentlichen Charakter auf- gestellt. Uebersieht man nun, was über das Gefühl gesagt ist, so bewährt sich nach allen Seiten an ihm als der Form, welche dieses Gebiet schafft, dieser Charakter der Amphibolie. Es ist sinnlich und unsinnlich, unter- schiedslos und doch reich an innern Unterschieden, objectlos und läßt doch das Object ahnen u. s. w. Die ausdrückliche Hervorhebung haben wir aber bis zu der Stelle aufgeschoben, wo bereits auch das Wesentliche der Dar- stellungsmittel zur Sprache gekommen ist und wo nun dieser Begriff auf das Ganze der Kunstform seine klare Anwendung findet. Der hohe und reine Werth derselben wird durch das wissenschaftliche Prädikat der Amphi- bolie nicht heruntergesetzt; die Musik ist eine volle und ganze Kunst für sich, hat das ganze Schöne in ihrer Weise. Allein keines Dinges Vollkommen- heit wird ohne Gefühl seiner Mängel und Grenzen betrachtet; dieses Gefühl weist im Gebiete der Kunst von jeder einzelnen hinüber zu den andern Künsten, welche das Erscheinende von anderer Seite erfassen und jene Mängel ergänzen, die Wissenschaft aber, welche das Ganze der Künste ver- gleichend im Auge hat, erhebt es zum Begriff. Und dieses Gefühl muß allerdings in der Musik stärker sein, als in den andern Künsten, mit Aus- nahme der Architektur, deren eigenthümliche Verwandtschaft mit der Musik im Folgenden ausdrücklich zu besprechen ist; die höchste Befriedigung wird
befähigt und berufen, der Dilettantiſmus iſt in keiner Kunſt ſo wohlthätig und berechtigt, wie in dieſer, und ſo kann ſie jeden Moment mitten aus den empiriſchen Bedingungen des Lebens herausheben und über die träge Erdenſchwere der als Laſt gefühlten Zeit hinausheben, ſozuſagen die Zeit innerhalb ihrer ſelbſt idealiſiren. Ja man kann die Muſik im tieferen Sinn die Idealiſirung der Zeit wie die Baukunſt die Idealiſirung der unorganiſchen Natur nennen.
§. 764.
Aus der Geſammtheit dieſer Grundbeſtimmungen ergibt ſich der weſentlich amphiboliſche Charakter, welcher der Muſik in Vergleichung mit den andern Künſten eigen iſt. Sie iſt das Ideal ſelbſt, die blosgelegte Seele aller Künſte, das Geheimniß aller Form, eine Ahnung weltbauender Geſetze und ebenſoſehr das verflüchtigte, unentfaltete Ideal, ſie hat Alles und Nichts, iſt ſinnlich und unſinnlich, eine Quelle hohen und reinen Genuſſes, die doch Vielen völlig ver- ſchloſſen iſt, Alle ermüdend, wenn ſie ein beſcheidenes Maaß der Dauer über- ſchreitet, durch ihren innern Mangel zum Anſchluß an das Wort getrieben und dann unſelbſtändig, in ihrer reinen Selbſtändigkeit aber von einem Gefühle begleitet wie ein ungelöstes Räthſel.
Wir haben bereits in der Grundlegung des gegenwärtigen Gebiets, §. 746, deſſen eigenthümliche Zweiſeitigkeit als weſentlichen Charakter auf- geſtellt. Ueberſieht man nun, was über das Gefühl geſagt iſt, ſo bewährt ſich nach allen Seiten an ihm als der Form, welche dieſes Gebiet ſchafft, dieſer Charakter der Amphibolie. Es iſt ſinnlich und unſinnlich, unter- ſchiedslos und doch reich an innern Unterſchieden, objectlos und läßt doch das Object ahnen u. ſ. w. Die ausdrückliche Hervorhebung haben wir aber bis zu der Stelle aufgeſchoben, wo bereits auch das Weſentliche der Dar- ſtellungsmittel zur Sprache gekommen iſt und wo nun dieſer Begriff auf das Ganze der Kunſtform ſeine klare Anwendung findet. Der hohe und reine Werth derſelben wird durch das wiſſenſchaftliche Prädikat der Amphi- bolie nicht heruntergeſetzt; die Muſik iſt eine volle und ganze Kunſt für ſich, hat das ganze Schöne in ihrer Weiſe. Allein keines Dinges Vollkommen- heit wird ohne Gefühl ſeiner Mängel und Grenzen betrachtet; dieſes Gefühl weist im Gebiete der Kunſt von jeder einzelnen hinüber zu den andern Künſten, welche das Erſcheinende von anderer Seite erfaſſen und jene Mängel ergänzen, die Wiſſenſchaft aber, welche das Ganze der Künſte ver- gleichend im Auge hat, erhebt es zum Begriff. Und dieſes Gefühl muß allerdings in der Muſik ſtärker ſein, als in den andern Künſten, mit Aus- nahme der Architektur, deren eigenthümliche Verwandtſchaft mit der Muſik im Folgenden ausdrücklich zu beſprechen iſt; die höchſte Befriedigung wird
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[826/0064]
befähigt und berufen, der Dilettantiſmus iſt in keiner Kunſt ſo wohlthätig
und berechtigt, wie in dieſer, und ſo kann ſie jeden Moment mitten aus
den empiriſchen Bedingungen des Lebens herausheben und über die träge
Erdenſchwere der als Laſt gefühlten Zeit hinausheben, ſozuſagen die Zeit
innerhalb ihrer ſelbſt idealiſiren. Ja man kann die Muſik im tieferen Sinn
die Idealiſirung der Zeit wie die Baukunſt die Idealiſirung der unorganiſchen
Natur nennen.
§. 764.
Aus der Geſammtheit dieſer Grundbeſtimmungen ergibt ſich der weſentlich
amphiboliſche Charakter, welcher der Muſik in Vergleichung mit den andern
Künſten eigen iſt. Sie iſt das Ideal ſelbſt, die blosgelegte Seele aller Künſte,
das Geheimniß aller Form, eine Ahnung weltbauender Geſetze und ebenſoſehr
das verflüchtigte, unentfaltete Ideal, ſie hat Alles und Nichts, iſt ſinnlich und
unſinnlich, eine Quelle hohen und reinen Genuſſes, die doch Vielen völlig ver-
ſchloſſen iſt, Alle ermüdend, wenn ſie ein beſcheidenes Maaß der Dauer über-
ſchreitet, durch ihren innern Mangel zum Anſchluß an das Wort getrieben und
dann unſelbſtändig, in ihrer reinen Selbſtändigkeit aber von einem Gefühle
begleitet wie ein ungelöstes Räthſel.
Wir haben bereits in der Grundlegung des gegenwärtigen Gebiets,
§. 746, deſſen eigenthümliche Zweiſeitigkeit als weſentlichen Charakter auf-
geſtellt. Ueberſieht man nun, was über das Gefühl geſagt iſt, ſo bewährt
ſich nach allen Seiten an ihm als der Form, welche dieſes Gebiet ſchafft,
dieſer Charakter der Amphibolie. Es iſt ſinnlich und unſinnlich, unter-
ſchiedslos und doch reich an innern Unterſchieden, objectlos und läßt doch
das Object ahnen u. ſ. w. Die ausdrückliche Hervorhebung haben wir aber
bis zu der Stelle aufgeſchoben, wo bereits auch das Weſentliche der Dar-
ſtellungsmittel zur Sprache gekommen iſt und wo nun dieſer Begriff auf
das Ganze der Kunſtform ſeine klare Anwendung findet. Der hohe und
reine Werth derſelben wird durch das wiſſenſchaftliche Prädikat der Amphi-
bolie nicht heruntergeſetzt; die Muſik iſt eine volle und ganze Kunſt für ſich,
hat das ganze Schöne in ihrer Weiſe. Allein keines Dinges Vollkommen-
heit wird ohne Gefühl ſeiner Mängel und Grenzen betrachtet; dieſes Gefühl
weist im Gebiete der Kunſt von jeder einzelnen hinüber zu den andern
Künſten, welche das Erſcheinende von anderer Seite erfaſſen und jene
Mängel ergänzen, die Wiſſenſchaft aber, welche das Ganze der Künſte ver-
gleichend im Auge hat, erhebt es zum Begriff. Und dieſes Gefühl muß
allerdings in der Muſik ſtärker ſein, als in den andern Künſten, mit Aus-
nahme der Architektur, deren eigenthümliche Verwandtſchaft mit der Muſik
im Folgenden ausdrücklich zu beſprechen iſt; die höchſte Befriedigung wird
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 826. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/64>, abgerufen am 22.12.2024.
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