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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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zunächst in abstracter Selbständigkeit genommen; man begleitet die Haupt-
stimme mit fortgehenden Quarten und Quinten, als ob diese Klangverhält-
nisse, weil sie gesetzmäßig und natürlich sind, nun überall angewandt werden
müßten, man zerstört mit diesen gleich fortlaufenden Zweiklängen nicht nur
alle Abwechslung, sondern auch alle wirklich harmonische Fortschreitung,
weil dabei alle natürliche Accordverbindung durch den Mechanismus des
Fortrückens in gleichen Intervallen unmöglich gemacht ist. Allmälig, gegen
den Anfang des vierzehnten Jahrhunderts sind zwar endlich die richtigen
Grundsätze über den nothwendigen Intervallwechsel bei der Fortschreitung
und über die Auflösung der Accorde durchgedrungen, der Italiener Marchetto
von Padua und der Franzose Jean de Meurs stellen sie auf, sie bringen
in die Harmonie das wieder hinein, was sie mit der Melodie gemein
haben muß, die Biegung, die Hebung und Senkung, durch die Accordwechsel
und Accordübergang ermöglicht wird, und es ist somit die wahre Harmonik
gewonnen; zugleich hatte die Vertiefung des Geistes in die Harmonie vom
zwölften Jahrhundert an Anstoß gegeben zur Ausbildung der Metrik und
Rhythmik, soweit sie für das Nebeneinanderhergehen mehrerer Stimmen
erforderlich ist, und es war also auch hiemit ein weiteres Element objectiver
Gesetzmäßigkeit, das in der altitalienischen Musik verloren gegangen war,
wieder hergestellt. Allein dieses Prinzip harmonischer Vielstimmigkeit tritt
dem Prinzip des Ausdrucks, das bei jener noch rohen Harmonie gleichfort-
schreitender Intervalle ganz zerstört war, abermals in den Weg und hebt
wiederum wie jene die Harmonie selbst, die sie zu cultiviren meint, auf.
Die Vielstimmigkeit wird Polyphonie, einfacher, doppelter, mehrfacher Contra-
punct, Canon; der Geist arbeitet sich, froh darüber, daß er in der Musik
concrete Mannigfaltigkeit und ein Gesetz entdeckt hat, mit welchem sich
kunstvolle Tongebilde hervorbringen lassen, in diese Polyphonie, in die Häu-
fung und Gegeneinanderstellung der Stimmen so hinein, daß die Musik
selbst, der Ausdruck, die Melodie ihm verloren geht; die contrapunctische
Kunst isolirt sich, wird zur mathematischen Technik, welche lange Zeit sich
spröde verhält gegen das neben ihr, besonders durch die Troubadours auf-
blühende melodische Lied; wie ein zu sehr auf's Einzelne gehendes Natur-
studium der deutschen und der niederländischen Malerei das Durchdringen
zu reiner Schönheit der Gestalt vielfach verdirbt, so, nur in weit größerem
Maaße, ist es auch hier, das Schöne geht im Gelehrten unter, die Form
im Formalismus. Es kann daher auch nicht anders kommen, als daß
dieser Formalismus, weil es ihm am Interesse für den Inhalt fehlt, am
Ende, so ernster Natur er zu sein scheint, auch in leere Spielerei umschlägt,
die zwar von den Meistern der Kunst, wie von Josquin des Pres im
fünfzehnten Jahrhundert, nur nebenbei mit Humor betrieben wird, aber
deßungeachtet auf dem Wege ist, die Musik ganz von ihrem eigentlichen

zunächſt in abſtracter Selbſtändigkeit genommen; man begleitet die Haupt-
ſtimme mit fortgehenden Quarten und Quinten, als ob dieſe Klangverhält-
niſſe, weil ſie geſetzmäßig und natürlich ſind, nun überall angewandt werden
müßten, man zerſtört mit dieſen gleich fortlaufenden Zweiklängen nicht nur
alle Abwechslung, ſondern auch alle wirklich harmoniſche Fortſchreitung,
weil dabei alle natürliche Accordverbindung durch den Mechanismus des
Fortrückens in gleichen Intervallen unmöglich gemacht iſt. Allmälig, gegen
den Anfang des vierzehnten Jahrhunderts ſind zwar endlich die richtigen
Grundſätze über den nothwendigen Intervallwechſel bei der Fortſchreitung
und über die Auflöſung der Accorde durchgedrungen, der Italiener Marchetto
von Padua und der Franzoſe Jean de Meurs ſtellen ſie auf, ſie bringen
in die Harmonie das wieder hinein, was ſie mit der Melodie gemein
haben muß, die Biegung, die Hebung und Senkung, durch die Accordwechſel
und Accordübergang ermöglicht wird, und es iſt ſomit die wahre Harmonik
gewonnen; zugleich hatte die Vertiefung des Geiſtes in die Harmonie vom
zwölften Jahrhundert an Anſtoß gegeben zur Ausbildung der Metrik und
Rhythmik, ſoweit ſie für das Nebeneinanderhergehen mehrerer Stimmen
erforderlich iſt, und es war alſo auch hiemit ein weiteres Element objectiver
Geſetzmäßigkeit, das in der altitalieniſchen Muſik verloren gegangen war,
wieder hergeſtellt. Allein dieſes Prinzip harmoniſcher Vielſtimmigkeit tritt
dem Prinzip des Ausdrucks, das bei jener noch rohen Harmonie gleichfort-
ſchreitender Intervalle ganz zerſtört war, abermals in den Weg und hebt
wiederum wie jene die Harmonie ſelbſt, die ſie zu cultiviren meint, auf.
Die Vielſtimmigkeit wird Polyphonie, einfacher, doppelter, mehrfacher Contra-
punct, Canon; der Geiſt arbeitet ſich, froh darüber, daß er in der Muſik
concrete Mannigfaltigkeit und ein Geſetz entdeckt hat, mit welchem ſich
kunſtvolle Tongebilde hervorbringen laſſen, in dieſe Polyphonie, in die Häu-
fung und Gegeneinanderſtellung der Stimmen ſo hinein, daß die Muſik
ſelbſt, der Ausdruck, die Melodie ihm verloren geht; die contrapunctiſche
Kunſt iſolirt ſich, wird zur mathematiſchen Technik, welche lange Zeit ſich
ſpröde verhält gegen das neben ihr, beſonders durch die Troubadours auf-
blühende melodiſche Lied; wie ein zu ſehr auf’s Einzelne gehendes Natur-
ſtudium der deutſchen und der niederländiſchen Malerei das Durchdringen
zu reiner Schönheit der Geſtalt vielfach verdirbt, ſo, nur in weit größerem
Maaße, iſt es auch hier, das Schöne geht im Gelehrten unter, die Form
im Formalismus. Es kann daher auch nicht anders kommen, als daß
dieſer Formalismus, weil es ihm am Intereſſe für den Inhalt fehlt, am
Ende, ſo ernſter Natur er zu ſein ſcheint, auch in leere Spielerei umſchlägt,
die zwar von den Meiſtern der Kunſt, wie von Josquin des Prés im
fünfzehnten Jahrhundert, nur nebenbei mit Humor betrieben wird, aber
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[1132/0370] zunächſt in abſtracter Selbſtändigkeit genommen; man begleitet die Haupt- ſtimme mit fortgehenden Quarten und Quinten, als ob dieſe Klangverhält- niſſe, weil ſie geſetzmäßig und natürlich ſind, nun überall angewandt werden müßten, man zerſtört mit dieſen gleich fortlaufenden Zweiklängen nicht nur alle Abwechslung, ſondern auch alle wirklich harmoniſche Fortſchreitung, weil dabei alle natürliche Accordverbindung durch den Mechanismus des Fortrückens in gleichen Intervallen unmöglich gemacht iſt. Allmälig, gegen den Anfang des vierzehnten Jahrhunderts ſind zwar endlich die richtigen Grundſätze über den nothwendigen Intervallwechſel bei der Fortſchreitung und über die Auflöſung der Accorde durchgedrungen, der Italiener Marchetto von Padua und der Franzoſe Jean de Meurs ſtellen ſie auf, ſie bringen in die Harmonie das wieder hinein, was ſie mit der Melodie gemein haben muß, die Biegung, die Hebung und Senkung, durch die Accordwechſel und Accordübergang ermöglicht wird, und es iſt ſomit die wahre Harmonik gewonnen; zugleich hatte die Vertiefung des Geiſtes in die Harmonie vom zwölften Jahrhundert an Anſtoß gegeben zur Ausbildung der Metrik und Rhythmik, ſoweit ſie für das Nebeneinanderhergehen mehrerer Stimmen erforderlich iſt, und es war alſo auch hiemit ein weiteres Element objectiver Geſetzmäßigkeit, das in der altitalieniſchen Muſik verloren gegangen war, wieder hergeſtellt. Allein dieſes Prinzip harmoniſcher Vielſtimmigkeit tritt dem Prinzip des Ausdrucks, das bei jener noch rohen Harmonie gleichfort- ſchreitender Intervalle ganz zerſtört war, abermals in den Weg und hebt wiederum wie jene die Harmonie ſelbſt, die ſie zu cultiviren meint, auf. Die Vielſtimmigkeit wird Polyphonie, einfacher, doppelter, mehrfacher Contra- punct, Canon; der Geiſt arbeitet ſich, froh darüber, daß er in der Muſik concrete Mannigfaltigkeit und ein Geſetz entdeckt hat, mit welchem ſich kunſtvolle Tongebilde hervorbringen laſſen, in dieſe Polyphonie, in die Häu- fung und Gegeneinanderſtellung der Stimmen ſo hinein, daß die Muſik ſelbſt, der Ausdruck, die Melodie ihm verloren geht; die contrapunctiſche Kunſt iſolirt ſich, wird zur mathematiſchen Technik, welche lange Zeit ſich ſpröde verhält gegen das neben ihr, beſonders durch die Troubadours auf- blühende melodiſche Lied; wie ein zu ſehr auf’s Einzelne gehendes Natur- ſtudium der deutſchen und der niederländiſchen Malerei das Durchdringen zu reiner Schönheit der Geſtalt vielfach verdirbt, ſo, nur in weit größerem Maaße, iſt es auch hier, das Schöne geht im Gelehrten unter, die Form im Formalismus. Es kann daher auch nicht anders kommen, als daß dieſer Formalismus, weil es ihm am Intereſſe für den Inhalt fehlt, am Ende, ſo ernſter Natur er zu ſein ſcheint, auch in leere Spielerei umſchlägt, die zwar von den Meiſtern der Kunſt, wie von Josquin des Prés im fünfzehnten Jahrhundert, nur nebenbei mit Humor betrieben wird, aber deßungeachtet auf dem Wege iſt, die Muſik ganz von ihrem eigentlichen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/370>, abgerufen am 24.11.2024.