ebensosehr die höchste musikalische Erregtheit und dabei eine Einfachheit haben, die das musikalische Interesse zu seinem Rechte kommen läßt, ohne dem dramatischen Eintrag zu thun, wogegen dann allerdings die Zauber- flöte wieder zu wenig Action hat, zu lyrisch, dem Oratorium zu nahe ist; nur ein "Ueberwiegen," nicht ein das Dramatische abschwächendes Vor- herrschen des weichen lyrischen Elements ist in der Oper das Richtige. Sodann muß 2) der Gefühlsgehalt überall heraustreten, qualitativ oder quantitativ. Die Handlung der Oper kann z. B. keine dem Gebiet des Verständigen angehörige Staatsaction, sie muß vielmehr überall durch- drungen sein von der Poesie des Gefühles, des ernsten oder heitern, des tragischen oder komischen, sie muß eine Handlung sein, in der nicht Be- rechnungen, sondern Gefühle das Wort führen, in den Vordergrund treten, thätig werden, in welcher ebenso die Ereignisse, die Verwicklungen, die Erfolge Gefühlsgehalt haben, eindrucksreich, gemütherregend u. s. w. sind (§. 820); die Empfindung, der Affect, die Leidenschaft, die Gemüthsbewe- gung, die Herzensstimmung müssen die Handlung bedingen und bestimmen, nicht der verständige Plan, das prosaische Vorgehen des berechnenden Willens und Charakters, der Charakter darf hier nur auftreten mit der Wärme oder mit der Erregbarkeit des Gefühls, die ihn unmittelbar zum Handeln treibt, so daß sein Handeln selbst nur ein in Praxis umgesetztes Fühlen, ein innerlich bewegtes oder pathetisch erregtes Handeln ist. Aber auch quan- titativ muß der Gefühlsgehalt überall heraustreten, d. h. die Gefühle müssen nicht nur die Handlung durchgängig bestimmen und fortgehend erwärmen und beleben, sondern sie müssen auch für sich zur Aussprache und zur Dar- stellung kommen, zur Aussprache, indem die Handlung so angelegt ist, daß sie ganz von selbst, ganz ungezwungen und folgerecht, ohne regelwidrige Hemmung des Fortgangs jezuweilen in Scenen ausmündet, in welchen ein zu ihr gehöriges, durch sie veranlaßtes oder zur Aeußerung gedrängtes Gefühl Zeit hat sich auszusprechen, in Monologe, Dialoge des Gefühls, ähnlichen Particen des Wortdrama's vergleichbar, nur daß in letztern auch nüchterne Reflexion und Ueberlegung zu Tage treten kann. Zu beson- derer Darstellung aber müssen die Gefühle kommen dadurch, daß inner- halb der Gesammthandlung immer auch Situationen und Actionen sich ergeben, in welchen jene Belebung und Beseelung des Handelns durch das Gefühl in ganz spezifisch ausgeprägter Weise heraustritt, affectvoll erregte, gefühlvoll durchwärmte Scenen, sowie neben diesen auch solche, in welchen durch Ereignisse, durch diese oder jene Erfolge der Handlung die Gefühle, welche wir schon §. 814 "die passiven Stimmungen" genannt haben, rege und laut werden, also Scenen mit ergreifenden, erschütternden, Jubel und Lust erregenden Wendungen des Stückes. Zu beachten ist hier die Unter- scheidung des affectvoll Erregten, Belebten und des gefühlsvoll Durch-
ebenſoſehr die höchſte muſikaliſche Erregtheit und dabei eine Einfachheit haben, die das muſikaliſche Intereſſe zu ſeinem Rechte kommen läßt, ohne dem dramatiſchen Eintrag zu thun, wogegen dann allerdings die Zauber- flöte wieder zu wenig Action hat, zu lyriſch, dem Oratorium zu nahe iſt; nur ein „Ueberwiegen,“ nicht ein das Dramatiſche abſchwächendes Vor- herrſchen des weichen lyriſchen Elements iſt in der Oper das Richtige. Sodann muß 2) der Gefühlsgehalt überall heraustreten, qualitativ oder quantitativ. Die Handlung der Oper kann z. B. keine dem Gebiet des Verſtändigen angehörige Staatsaction, ſie muß vielmehr überall durch- drungen ſein von der Poeſie des Gefühles, des ernſten oder heitern, des tragiſchen oder komiſchen, ſie muß eine Handlung ſein, in der nicht Be- rechnungen, ſondern Gefühle das Wort führen, in den Vordergrund treten, thätig werden, in welcher ebenſo die Ereigniſſe, die Verwicklungen, die Erfolge Gefühlsgehalt haben, eindrucksreich, gemütherregend u. ſ. w. ſind (§. 820); die Empfindung, der Affect, die Leidenſchaft, die Gemüthsbewe- gung, die Herzensſtimmung müſſen die Handlung bedingen und beſtimmen, nicht der verſtändige Plan, das proſaiſche Vorgehen des berechnenden Willens und Charakters, der Charakter darf hier nur auftreten mit der Wärme oder mit der Erregbarkeit des Gefühls, die ihn unmittelbar zum Handeln treibt, ſo daß ſein Handeln ſelbſt nur ein in Praxis umgeſetztes Fühlen, ein innerlich bewegtes oder pathetiſch erregtes Handeln iſt. Aber auch quan- titativ muß der Gefühlsgehalt überall heraustreten, d. h. die Gefühle müſſen nicht nur die Handlung durchgängig beſtimmen und fortgehend erwärmen und beleben, ſondern ſie müſſen auch für ſich zur Ausſprache und zur Dar- ſtellung kommen, zur Ausſprache, indem die Handlung ſo angelegt iſt, daß ſie ganz von ſelbſt, ganz ungezwungen und folgerecht, ohne regelwidrige Hemmung des Fortgangs jezuweilen in Scenen ausmündet, in welchen ein zu ihr gehöriges, durch ſie veranlaßtes oder zur Aeußerung gedrängtes Gefühl Zeit hat ſich auszuſprechen, in Monologe, Dialoge des Gefühls, ähnlichen Particen des Wortdrama’s vergleichbar, nur daß in letztern auch nüchterne Reflexion und Ueberlegung zu Tage treten kann. Zu beſon- derer Darſtellung aber müſſen die Gefühle kommen dadurch, daß inner- halb der Geſammthandlung immer auch Situationen und Actionen ſich ergeben, in welchen jene Belebung und Beſeelung des Handelns durch das Gefühl in ganz ſpezifiſch ausgeprägter Weiſe heraustritt, affectvoll erregte, gefühlvoll durchwärmte Scenen, ſowie neben dieſen auch ſolche, in welchen durch Ereigniſſe, durch dieſe oder jene Erfolge der Handlung die Gefühle, welche wir ſchon §. 814 „die paſſiven Stimmungen“ genannt haben, rege und laut werden, alſo Scenen mit ergreifenden, erſchütternden, Jubel und Luſt erregenden Wendungen des Stückes. Zu beachten iſt hier die Unter- ſcheidung des affectvoll Erregten, Belebten und des gefühlsvoll Durch-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0352"n="1114"/><hirendition="#et">ebenſoſehr die höchſte muſikaliſche Erregtheit und dabei eine Einfachheit<lb/>
haben, die das muſikaliſche Intereſſe zu ſeinem Rechte kommen läßt, ohne<lb/>
dem dramatiſchen Eintrag zu thun, wogegen dann allerdings die Zauber-<lb/>
flöte wieder zu wenig Action hat, zu lyriſch, dem Oratorium zu nahe iſt;<lb/>
nur ein „Ueberwiegen,“ nicht ein das Dramatiſche abſchwächendes Vor-<lb/>
herrſchen des weichen lyriſchen Elements iſt in der Oper das Richtige.<lb/>
Sodann muß 2) der Gefühlsgehalt überall <hirendition="#g">heraustreten</hi>, qualitativ<lb/>
oder quantitativ. Die Handlung der Oper kann z. B. keine dem Gebiet<lb/>
des Verſtändigen angehörige Staatsaction, ſie muß vielmehr überall durch-<lb/>
drungen ſein von der Poeſie des Gefühles, des ernſten oder heitern, des<lb/>
tragiſchen oder komiſchen, ſie muß eine Handlung ſein, in der nicht Be-<lb/>
rechnungen, ſondern Gefühle das Wort führen, in den Vordergrund treten,<lb/>
thätig werden, in welcher ebenſo die Ereigniſſe, die Verwicklungen, die<lb/>
Erfolge Gefühlsgehalt haben, eindrucksreich, gemütherregend u. ſ. w. ſind<lb/>
(§. 820); die Empfindung, der Affect, die Leidenſchaft, die Gemüthsbewe-<lb/>
gung, die Herzensſtimmung müſſen die Handlung bedingen und beſtimmen,<lb/>
nicht der verſtändige Plan, das proſaiſche Vorgehen des berechnenden Willens<lb/>
und Charakters, der Charakter darf hier nur auftreten mit der Wärme oder<lb/>
mit der Erregbarkeit des Gefühls, die ihn unmittelbar zum Handeln treibt,<lb/>ſo daß ſein Handeln ſelbſt nur ein in Praxis umgeſetztes Fühlen, ein<lb/>
innerlich bewegtes oder pathetiſch erregtes Handeln iſt. Aber auch quan-<lb/>
titativ muß der Gefühlsgehalt überall heraustreten, d. h. die Gefühle müſſen<lb/>
nicht nur die Handlung durchgängig beſtimmen und fortgehend erwärmen<lb/>
und beleben, ſondern ſie müſſen auch für ſich zur Ausſprache und zur Dar-<lb/>ſtellung kommen, <hirendition="#g">zur Ausſprache</hi>, indem die Handlung ſo angelegt iſt,<lb/>
daß ſie ganz von ſelbſt, ganz ungezwungen und folgerecht, ohne regelwidrige<lb/>
Hemmung des Fortgangs jezuweilen in Scenen ausmündet, in welchen ein<lb/>
zu ihr gehöriges, durch ſie veranlaßtes oder zur Aeußerung gedrängtes<lb/>
Gefühl Zeit hat ſich auszuſprechen, in Monologe, Dialoge des Gefühls,<lb/>
ähnlichen Particen des Wortdrama’s vergleichbar, nur daß in letztern auch<lb/>
nüchterne Reflexion und Ueberlegung zu Tage treten kann. <hirendition="#g">Zu beſon-<lb/>
derer Darſtellung</hi> aber müſſen die Gefühle kommen dadurch, daß inner-<lb/>
halb der Geſammthandlung immer auch Situationen und Actionen ſich<lb/>
ergeben, in welchen jene Belebung und Beſeelung des Handelns durch das<lb/>
Gefühl in ganz ſpezifiſch ausgeprägter Weiſe heraustritt, affectvoll erregte,<lb/>
gefühlvoll durchwärmte Scenen, ſowie neben dieſen auch ſolche, in welchen<lb/>
durch Ereigniſſe, durch dieſe oder jene Erfolge der Handlung die Gefühle,<lb/>
welche wir ſchon §. 814 „die paſſiven Stimmungen“ genannt haben, rege<lb/>
und laut werden, alſo Scenen mit ergreifenden, erſchütternden, Jubel und<lb/>
Luſt erregenden Wendungen des Stückes. Zu beachten iſt hier die Unter-<lb/>ſcheidung des affectvoll Erregten, Belebten und des gefühlsvoll Durch-<lb/></hi></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[1114/0352]
ebenſoſehr die höchſte muſikaliſche Erregtheit und dabei eine Einfachheit
haben, die das muſikaliſche Intereſſe zu ſeinem Rechte kommen läßt, ohne
dem dramatiſchen Eintrag zu thun, wogegen dann allerdings die Zauber-
flöte wieder zu wenig Action hat, zu lyriſch, dem Oratorium zu nahe iſt;
nur ein „Ueberwiegen,“ nicht ein das Dramatiſche abſchwächendes Vor-
herrſchen des weichen lyriſchen Elements iſt in der Oper das Richtige.
Sodann muß 2) der Gefühlsgehalt überall heraustreten, qualitativ
oder quantitativ. Die Handlung der Oper kann z. B. keine dem Gebiet
des Verſtändigen angehörige Staatsaction, ſie muß vielmehr überall durch-
drungen ſein von der Poeſie des Gefühles, des ernſten oder heitern, des
tragiſchen oder komiſchen, ſie muß eine Handlung ſein, in der nicht Be-
rechnungen, ſondern Gefühle das Wort führen, in den Vordergrund treten,
thätig werden, in welcher ebenſo die Ereigniſſe, die Verwicklungen, die
Erfolge Gefühlsgehalt haben, eindrucksreich, gemütherregend u. ſ. w. ſind
(§. 820); die Empfindung, der Affect, die Leidenſchaft, die Gemüthsbewe-
gung, die Herzensſtimmung müſſen die Handlung bedingen und beſtimmen,
nicht der verſtändige Plan, das proſaiſche Vorgehen des berechnenden Willens
und Charakters, der Charakter darf hier nur auftreten mit der Wärme oder
mit der Erregbarkeit des Gefühls, die ihn unmittelbar zum Handeln treibt,
ſo daß ſein Handeln ſelbſt nur ein in Praxis umgeſetztes Fühlen, ein
innerlich bewegtes oder pathetiſch erregtes Handeln iſt. Aber auch quan-
titativ muß der Gefühlsgehalt überall heraustreten, d. h. die Gefühle müſſen
nicht nur die Handlung durchgängig beſtimmen und fortgehend erwärmen
und beleben, ſondern ſie müſſen auch für ſich zur Ausſprache und zur Dar-
ſtellung kommen, zur Ausſprache, indem die Handlung ſo angelegt iſt,
daß ſie ganz von ſelbſt, ganz ungezwungen und folgerecht, ohne regelwidrige
Hemmung des Fortgangs jezuweilen in Scenen ausmündet, in welchen ein
zu ihr gehöriges, durch ſie veranlaßtes oder zur Aeußerung gedrängtes
Gefühl Zeit hat ſich auszuſprechen, in Monologe, Dialoge des Gefühls,
ähnlichen Particen des Wortdrama’s vergleichbar, nur daß in letztern auch
nüchterne Reflexion und Ueberlegung zu Tage treten kann. Zu beſon-
derer Darſtellung aber müſſen die Gefühle kommen dadurch, daß inner-
halb der Geſammthandlung immer auch Situationen und Actionen ſich
ergeben, in welchen jene Belebung und Beſeelung des Handelns durch das
Gefühl in ganz ſpezifiſch ausgeprägter Weiſe heraustritt, affectvoll erregte,
gefühlvoll durchwärmte Scenen, ſowie neben dieſen auch ſolche, in welchen
durch Ereigniſſe, durch dieſe oder jene Erfolge der Handlung die Gefühle,
welche wir ſchon §. 814 „die paſſiven Stimmungen“ genannt haben, rege
und laut werden, alſo Scenen mit ergreifenden, erſchütternden, Jubel und
Luſt erregenden Wendungen des Stückes. Zu beachten iſt hier die Unter-
ſcheidung des affectvoll Erregten, Belebten und des gefühlsvoll Durch-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/352>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.