sie als Mittelpunkt des Ganzen haben, vollkommen entsprechenden (darum chorischen) Form. Das "Ach mich dürstet" wird von einer Solostimme vorgetragen, die aber nicht dramatisch den Sprechenden selbst, sondern nur einen epischen, die Worte dieses Letztern berichtenden Erzähler vorstellt; hier macht sich das epische Moment mehr geltend, wie auch nachher in der instrumentalen Schilderung des Erdbebens, aber nur ganz im Vorübergehen. In umfassenderem Maaßstabe tritt das Epische, an einzelnen Puncten ("Ja nicht auf das Fest" u. s. w., "Laß ihn kreuzigen" u. s. w.) zum wirklich Dramatischen fortgehend, in das lyrische Oratorium herein in Bach's Passionsmusik. Sie ist der Grundtendenz nach lyrisch, Betrachtung der Leiden Christi, an die sich überall sogleich das Aussprechen der Gefühle des Subjects, der Gemeinde anschließt, die für sie sich an jenes Leiden knüpfen; aber sie läßt auch der epischen und dramatischen Schilderung in epischen Recitativen und dramatischen Chören so weiten Raum, daß sie eigentlich alle drei Formen des Oratoriums in sich vereinigt. Nicht so großen aber gleichfalls sehr bedeutenden Umfang hat das Epische in Hän- del's Messias. Die Anlage ist hier die: einzelne der Geschichte und Handlung gleichsam während ihres Verlaufes zuschauende Stimmen erzählen dieselbe nach ihren einzelnen Momenten einem zuhörenden, idealen, die Ge- meinde repräsentirenden Chor, jedoch so, daß die Erzählung nicht in die epische Breite des Thatsächlichen eingeht, sondern die innere Bedeutung desselben überall als Hauptsache behandelt; dieser erzählenden Schilderung, die im dritten Theil ("Merkt auf, ich sag' ein geheimes Wort") auch zu lehrhafter Ansprache übergeht, antwortet der Chor, bald vollstimmig (d. h. auch musikalisch als Chor), bald nur durch Quartett, bald auch blos durch Einzelstimmen sich aussprechend (z. B. in der Arie. "Ist Gott für uns"), indem er seine Gefühle darlegt, wie sie an die einzelnen Momente der Handlung sich knüpfen. Einmal tritt auch ein dramatischer Chor ein ("Er trauete Gott"), der eigentlich zu vereinzelt neben den sonst fast durchaus lyri- schen Chören dasteht und daher in's Ganze nicht recht paßt. Aus dem über diese beiden Oratorien Gesagten geht zugleich hervor, daß die Vereinigung der drei Gattungen, namentlich des Epischen und Lyrischen (obwohl Ver- fehltes dabei mitunterlaufen kann), nicht unerlaubt, sondern je nach Anlage des Ganzen sehr wirksam ist. Je reicher das Objective sich entwickelt, je ausdrucksvoller es dargestellt wird, desto mehr gewinnt auch das subjectiv Lyrische an Entwicklung, Farbe und Ausdruck; dem blos lyrischen Orato- rium fehlt es an concreter Schilderung und daher auch an eigentlich con- creter Gefühlsfärbung. -- Rein episch, höchstens mit lyrischen Beigaben (z. B. Schlußsätzen) ist die (epische) Cantate, wie z. B. Händel's Alexan- derfest. Eine Begebenheit oder Handlung, das Einzelne, was die in ihr auftretenden Personen reden und thun, wird von zuschauenden Persönlich-
ſie als Mittelpunkt des Ganzen haben, vollkommen entſprechenden (darum choriſchen) Form. Das „Ach mich dürſtet“ wird von einer Soloſtimme vorgetragen, die aber nicht dramatiſch den Sprechenden ſelbſt, ſondern nur einen epiſchen, die Worte dieſes Letztern berichtenden Erzähler vorſtellt; hier macht ſich das epiſche Moment mehr geltend, wie auch nachher in der inſtrumentalen Schilderung des Erdbebens, aber nur ganz im Vorübergehen. In umfaſſenderem Maaßſtabe tritt das Epiſche, an einzelnen Puncten („Ja nicht auf das Feſt“ u. ſ. w., „Laß ihn kreuzigen“ u. ſ. w.) zum wirklich Dramatiſchen fortgehend, in das lyriſche Oratorium herein in Bach’s Paſſionsmuſik. Sie iſt der Grundtendenz nach lyriſch, Betrachtung der Leiden Chriſti, an die ſich überall ſogleich das Ausſprechen der Gefühle des Subjects, der Gemeinde anſchließt, die für ſie ſich an jenes Leiden knüpfen; aber ſie läßt auch der epiſchen und dramatiſchen Schilderung in epiſchen Recitativen und dramatiſchen Chören ſo weiten Raum, daß ſie eigentlich alle drei Formen des Oratoriums in ſich vereinigt. Nicht ſo großen aber gleichfalls ſehr bedeutenden Umfang hat das Epiſche in Hän- del’s Meſſias. Die Anlage iſt hier die: einzelne der Geſchichte und Handlung gleichſam während ihres Verlaufes zuſchauende Stimmen erzählen dieſelbe nach ihren einzelnen Momenten einem zuhörenden, idealen, die Ge- meinde repräſentirenden Chor, jedoch ſo, daß die Erzählung nicht in die epiſche Breite des Thatſächlichen eingeht, ſondern die innere Bedeutung deſſelben überall als Hauptſache behandelt; dieſer erzählenden Schilderung, die im dritten Theil („Merkt auf, ich ſag’ ein geheimes Wort“) auch zu lehrhafter Anſprache übergeht, antwortet der Chor, bald vollſtimmig (d. h. auch muſikaliſch als Chor), bald nur durch Quartett, bald auch blos durch Einzelſtimmen ſich ausſprechend (z. B. in der Arie. „Iſt Gott für uns“), indem er ſeine Gefühle darlegt, wie ſie an die einzelnen Momente der Handlung ſich knüpfen. Einmal tritt auch ein dramatiſcher Chor ein („Er trauete Gott“), der eigentlich zu vereinzelt neben den ſonſt faſt durchaus lyri- ſchen Chören daſteht und daher in’s Ganze nicht recht paßt. Aus dem über dieſe beiden Oratorien Geſagten geht zugleich hervor, daß die Vereinigung der drei Gattungen, namentlich des Epiſchen und Lyriſchen (obwohl Ver- fehltes dabei mitunterlaufen kann), nicht unerlaubt, ſondern je nach Anlage des Ganzen ſehr wirkſam iſt. Je reicher das Objective ſich entwickelt, je ausdrucksvoller es dargeſtellt wird, deſto mehr gewinnt auch das ſubjectiv Lyriſche an Entwicklung, Farbe und Ausdruck; dem blos lyriſchen Orato- rium fehlt es an concreter Schilderung und daher auch an eigentlich con- creter Gefühlsfärbung. — Rein epiſch, höchſtens mit lyriſchen Beigaben (z. B. Schlußſätzen) iſt die (epiſche) Cantate, wie z. B. Händel’s Alexan- derfeſt. Eine Begebenheit oder Handlung, das Einzelne, was die in ihr auftretenden Perſonen reden und thun, wird von zuſchauenden Perſönlich-
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[1105/0343]
ſie als Mittelpunkt des Ganzen haben, vollkommen entſprechenden (darum
choriſchen) Form. Das „Ach mich dürſtet“ wird von einer Soloſtimme
vorgetragen, die aber nicht dramatiſch den Sprechenden ſelbſt, ſondern nur
einen epiſchen, die Worte dieſes Letztern berichtenden Erzähler vorſtellt;
hier macht ſich das epiſche Moment mehr geltend, wie auch nachher in der
inſtrumentalen Schilderung des Erdbebens, aber nur ganz im Vorübergehen.
In umfaſſenderem Maaßſtabe tritt das Epiſche, an einzelnen Puncten („Ja
nicht auf das Feſt“ u. ſ. w., „Laß ihn kreuzigen“ u. ſ. w.) zum wirklich
Dramatiſchen fortgehend, in das lyriſche Oratorium herein in Bach’s
Paſſionsmuſik. Sie iſt der Grundtendenz nach lyriſch, Betrachtung
der Leiden Chriſti, an die ſich überall ſogleich das Ausſprechen der Gefühle
des Subjects, der Gemeinde anſchließt, die für ſie ſich an jenes Leiden
knüpfen; aber ſie läßt auch der epiſchen und dramatiſchen Schilderung in
epiſchen Recitativen und dramatiſchen Chören ſo weiten Raum, daß ſie
eigentlich alle drei Formen des Oratoriums in ſich vereinigt. Nicht ſo
großen aber gleichfalls ſehr bedeutenden Umfang hat das Epiſche in Hän-
del’s Meſſias. Die Anlage iſt hier die: einzelne der Geſchichte und
Handlung gleichſam während ihres Verlaufes zuſchauende Stimmen erzählen
dieſelbe nach ihren einzelnen Momenten einem zuhörenden, idealen, die Ge-
meinde repräſentirenden Chor, jedoch ſo, daß die Erzählung nicht in die
epiſche Breite des Thatſächlichen eingeht, ſondern die innere Bedeutung
deſſelben überall als Hauptſache behandelt; dieſer erzählenden Schilderung,
die im dritten Theil („Merkt auf, ich ſag’ ein geheimes Wort“) auch zu
lehrhafter Anſprache übergeht, antwortet der Chor, bald vollſtimmig (d. h.
auch muſikaliſch als Chor), bald nur durch Quartett, bald auch blos durch
Einzelſtimmen ſich ausſprechend (z. B. in der Arie. „Iſt Gott für uns“),
indem er ſeine Gefühle darlegt, wie ſie an die einzelnen Momente der
Handlung ſich knüpfen. Einmal tritt auch ein dramatiſcher Chor ein („Er
trauete Gott“), der eigentlich zu vereinzelt neben den ſonſt faſt durchaus lyri-
ſchen Chören daſteht und daher in’s Ganze nicht recht paßt. Aus dem über
dieſe beiden Oratorien Geſagten geht zugleich hervor, daß die Vereinigung
der drei Gattungen, namentlich des Epiſchen und Lyriſchen (obwohl Ver-
fehltes dabei mitunterlaufen kann), nicht unerlaubt, ſondern je nach Anlage
des Ganzen ſehr wirkſam iſt. Je reicher das Objective ſich entwickelt, je
ausdrucksvoller es dargeſtellt wird, deſto mehr gewinnt auch das ſubjectiv
Lyriſche an Entwicklung, Farbe und Ausdruck; dem blos lyriſchen Orato-
rium fehlt es an concreter Schilderung und daher auch an eigentlich con-
creter Gefühlsfärbung. — Rein epiſch, höchſtens mit lyriſchen Beigaben
(z. B. Schlußſätzen) iſt die (epiſche) Cantate, wie z. B. Händel’s Alexan-
derfeſt. Eine Begebenheit oder Handlung, das Einzelne, was die in ihr
auftretenden Perſonen reden und thun, wird von zuſchauenden Perſönlich-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/343>, abgerufen am 25.11.2024.
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