zerstückelt werde. Auch die Lehre von den (schon früher mehrfach berührten) fortleitenden Neben- und Zwischen-, sowie von den Schlußsätzen sowohl der großen Sätze als der Theile und ihrer Hauptabschnitte ist zu spezieller Natur; alles Einzelne in ihr beruht auf denselben Gesetzen der Gliederung der Reihen, des fließenden Fortgangs, des Bewegungsrhythmus, welche für die ganze musikalische Composition maaßgebend sind.
Die durch gegebene Zwecke hervorgerufenen oder ganz freien Phan- tasieformen, Etüde, Notturno (Serenade), Capriccio, Divertissement, größere Phantasie (S. 962) können allesammt Schönes, Charakteristisches, Großartiges leisten, sie sind, die eigentliche Etüde abgerechnet, Zier- und Prachtblumen in dem reichen Garten der Musik, welche neben ihren kraft- und saftvollern Producten edlern und strengern Styls immerhin so viel Raum als ihnen beliebt einnehmen mögen, wenn sie nur das Feld nicht allein behaupten wollen; sie sind eine Poesie der Musik, zu welcher die musikalische Phantasie hinstrebt, um sich in ihrer reinen Freiheit zu haben, mit welcher sie aber ebendarum auch bereits an der Grenze ihres Kunstgebietes ange- kommen ist.
g. Vocal- und Instrumentalmusik in Einheit und Wechselwirkung.
§. 817.
Die beiden Hauptgattungen treten naturgemäß zu einer Verbindung ihrer beiderseitigen Wirkungen zusammen, da der einfache Gefühlserguß der Vocalmusik in der concreten Gefühlsmalerei der Instrumentalmusik ganz von selbst seine Verstärkung und belebende Vermannigfaltigung findet, wie hinwiederum der Formenreichthum der letztern zu vollständiger Verwendung und allseitiger Ent- wicklung, sowie zur Erfüllung mit ganz bestimmtem Inhalt nur gelangt, wenn sie sich auch zu gesangbegleitender Musik ausbildet und zur musikalischen Dar- stellung des concretern Empfindungsinhalts, wie er der Gesangsmusik durch das zu Grund gelegte Wort zusteht, ihrerseits mitwirkt.
Daß der Gesang in dem Kraft- und Formenreichthum der Instrumental- musik eine Ergänzung, eine Verstärkung und Belebung des Ausdrucks, einen sympathetischen Wiederhall nicht nur findet, sondern auch sucht, sobald er aus der Sphäre rein in sich seiender Subjectivität (im unbegleiteten Liede) und in sich vertiefter Idealität (in der heiligen Musik) zu vollerer, kräftigerer, lebendigerer Aeußerung, zu ausgesprochener Selbstmittheilung des
zerſtückelt werde. Auch die Lehre von den (ſchon früher mehrfach berührten) fortleitenden Neben- und Zwiſchen-, ſowie von den Schlußſätzen ſowohl der großen Sätze als der Theile und ihrer Hauptabſchnitte iſt zu ſpezieller Natur; alles Einzelne in ihr beruht auf denſelben Geſetzen der Gliederung der Reihen, des fließenden Fortgangs, des Bewegungsrhythmus, welche für die ganze muſikaliſche Compoſition maaßgebend ſind.
Die durch gegebene Zwecke hervorgerufenen oder ganz freien Phan- taſieformen, Etüde, Notturno (Serenade), Capriccio, Divertiſſement, größere Phantaſie (S. 962) können alleſammt Schönes, Charakteriſtiſches, Großartiges leiſten, ſie ſind, die eigentliche Etüde abgerechnet, Zier- und Prachtblumen in dem reichen Garten der Muſik, welche neben ihren kraft- und ſaftvollern Producten edlern und ſtrengern Styls immerhin ſo viel Raum als ihnen beliebt einnehmen mögen, wenn ſie nur das Feld nicht allein behaupten wollen; ſie ſind eine Poeſie der Muſik, zu welcher die muſikaliſche Phantaſie hinſtrebt, um ſich in ihrer reinen Freiheit zu haben, mit welcher ſie aber ebendarum auch bereits an der Grenze ihres Kunſtgebietes ange- kommen iſt.
γ. Vocal- und Inſtrumentalmuſik in Einheit und Wechſelwirkung.
§. 817.
Die beiden Hauptgattungen treten naturgemäß zu einer Verbindung ihrer beiderſeitigen Wirkungen zuſammen, da der einfache Gefühlserguß der Vocalmuſik in der concreten Gefühlsmalerei der Inſtrumentalmuſik ganz von ſelbſt ſeine Verſtärkung und belebende Vermannigfaltigung findet, wie hinwiederum der Formenreichthum der letztern zu vollſtändiger Verwendung und allſeitiger Ent- wicklung, ſowie zur Erfüllung mit ganz beſtimmtem Inhalt nur gelangt, wenn ſie ſich auch zu geſangbegleitender Muſik ausbildet und zur muſikaliſchen Dar- ſtellung des concretern Empfindungsinhalts, wie er der Geſangsmuſik durch das zu Grund gelegte Wort zuſteht, ihrerſeits mitwirkt.
Daß der Geſang in dem Kraft- und Formenreichthum der Inſtrumental- muſik eine Ergänzung, eine Verſtärkung und Belebung des Ausdrucks, einen ſympathetiſchen Wiederhall nicht nur findet, ſondern auch ſucht, ſobald er aus der Sphäre rein in ſich ſeiender Subjectivität (im unbegleiteten Liede) und in ſich vertiefter Idealität (in der heiligen Muſik) zu vollerer, kräftigerer, lebendigerer Aeußerung, zu ausgeſprochener Selbſtmittheilung des
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zerſtückelt werde. Auch die Lehre von den (ſchon früher mehrfach berührten)
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alles Einzelne in ihr beruht auf denſelben Geſetzen der Gliederung der Reihen,
des fließenden Fortgangs, des Bewegungsrhythmus, welche für die ganze
muſikaliſche Compoſition maaßgebend ſind.
Die durch gegebene Zwecke hervorgerufenen oder ganz freien Phan-
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größere Phantaſie (S. 962) können alleſammt Schönes, Charakteriſtiſches,
Großartiges leiſten, ſie ſind, die eigentliche Etüde abgerechnet, Zier- und
Prachtblumen in dem reichen Garten der Muſik, welche neben ihren kraft-
und ſaftvollern Producten edlern und ſtrengern Styls immerhin ſo viel Raum
als ihnen beliebt einnehmen mögen, wenn ſie nur das Feld nicht allein
behaupten wollen; ſie ſind eine Poeſie der Muſik, zu welcher die muſikaliſche
Phantaſie hinſtrebt, um ſich in ihrer reinen Freiheit zu haben, mit welcher
ſie aber ebendarum auch bereits an der Grenze ihres Kunſtgebietes ange-
kommen iſt.
γ. Vocal- und Inſtrumentalmuſik in Einheit und Wechſelwirkung.
§. 817.
Die beiden Hauptgattungen treten naturgemäß zu einer Verbindung ihrer
beiderſeitigen Wirkungen zuſammen, da der einfache Gefühlserguß der Vocalmuſik
in der concreten Gefühlsmalerei der Inſtrumentalmuſik ganz von ſelbſt ſeine
Verſtärkung und belebende Vermannigfaltigung findet, wie hinwiederum der
Formenreichthum der letztern zu vollſtändiger Verwendung und allſeitiger Ent-
wicklung, ſowie zur Erfüllung mit ganz beſtimmtem Inhalt nur gelangt, wenn
ſie ſich auch zu geſangbegleitender Muſik ausbildet und zur muſikaliſchen Dar-
ſtellung des concretern Empfindungsinhalts, wie er der Geſangsmuſik durch
das zu Grund gelegte Wort zuſteht, ihrerſeits mitwirkt.
Daß der Geſang in dem Kraft- und Formenreichthum der Inſtrumental-
muſik eine Ergänzung, eine Verſtärkung und Belebung des Ausdrucks,
einen ſympathetiſchen Wiederhall nicht nur findet, ſondern auch ſucht, ſobald
er aus der Sphäre rein in ſich ſeiender Subjectivität (im unbegleiteten
Liede) und in ſich vertiefter Idealität (in der heiligen Muſik) zu vollerer,
kräftigerer, lebendigerer Aeußerung, zu ausgeſprochener Selbſtmittheilung des
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1098. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/336>, abgerufen am 04.03.2025.
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