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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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wickelten Seelenlebens hineinversetzt; wie das Leben nicht träge, kraftlose
Ruhe, sondern nur da wirkliches, volles Leben ist, wo es eine bestimmte
Richtung, Strebung, einen Schwung zur Thätigkeit erhält durch lebendige
Anregungen, Affectionen, die es aus seiner Indifferenz herausheben und
erst hintennach der Ruhe und Sammlung wieder Raum lassen, so eröffnet
sich hier die Musik mit dem Moment der Sollicitation, des Anhebens,
Ansteigens, lebendigen Sichaussprechens innerer Erregung, mit einem Satz,
der durchaus entschieden Bewegtheit athmet und, sofern an diese alles Weitere
sich anreihen muß, von wesentlichster Wichtigkeit für den Totaleindruck des
ganzen Werks ist. Tonstücke, die mit längerem Adagio beginnen, machen
von vorn herein einen erschwertern, trübern Eindruck; die Musik tritt hier
nicht entschieden genug an's Leben heraus, löst sich gleichsam nicht voll-
kommen los von der in ihr Gefühl versenkten, ihm nachsinnenden Seele;
diese Form, so ausdrucksreich sie hiedurch auch ist, kann ebendarum nur
Nebenform sein, da sie nur auf vertieftere, innigere, sanftere Seelenzustände
paßt, in denen Affect und Wille in ungewöhnlicherer Weise zurücktreten.
Auf die Unruhe, Erregtheit, strebende Bewegtheit des ersten Satzes folgt
im zweiten, das Gemüth und die Phantasie gleich ansprechend, die Ruhe,
die Zuständlichkeit
, das an sich selbst hingegebene, sich behaglich sam-
melnde oder grüblerisch sich in sich vertiefende Fühlen, auf die überschäu-
mende Fröhlichkeit, Lebens- und Thatenlust die stille Zufriedenheit des Glücks,
das ernstere Ansichhalten sinniger Zurückziehung in sich selbst oder auch eine
plötzlich einbrechende, die Seele beschäftigende, niederdrückende Schmerzens-
stimmung, auf Kampf und Streit Frieden und Stillstand oder traurig in
sich zurücksinkende Wehmuth. In dieser Zuständlichkeit aber kann die Musik,
sobald sie einmal ein größeres Ganzes geben will, nicht verharren, das
Leben fordert sein Recht; nicht mit erschlaffendem Behagen und Genießen,
nicht mit zehrendem Kummer und ermattender Sehnsucht kann ein Tonge-
mäloe schließen, das nicht etwas Einzelnes aus dem Leben herausgreifen,
sondern Totalität, Lebensbild sein will, sondern es muß diese Zuständlich-
keit, dieses Stehenbleiben des Rades der Bewegung, das immer etwas
Unlebendiges, Contemplativtheoretisches, Kraftloses hat, wieder negiren,
das Leben muß sich aus der Rast, aus der Resignation, aus der Schmerz-
befangenheit wiederherstellen zu sich selbst, zur Beweglichkeit, Thätigkeit,
Freiheit oder doch zum Ringen um dieselbe, es muß sich selbst affirmiren,
es muß sich abermals darstellen als sich selbst, als Lebendiges, als vorwärts-
gehend, und zwar entweder als leicht dahineilendes Leben, das die wiederum
gewonnene Erregtheit mit Lust und froher Kraft zum Schlusse führt, oder
als Leben, das die an es gekommenen Gegensätze, Entzweiungen, Kummer-
gefühle bekämpft und wo möglich versöhnend überwindet. Damit ist ganz
naturgemäß der bewegtere Schlußsatz und zugleich die zwei Haupt-

wickelten Seelenlebens hineinverſetzt; wie das Leben nicht träge, kraftloſe
Ruhe, ſondern nur da wirkliches, volles Leben iſt, wo es eine beſtimmte
Richtung, Strebung, einen Schwung zur Thätigkeit erhält durch lebendige
Anregungen, Affectionen, die es aus ſeiner Indifferenz herausheben und
erſt hintennach der Ruhe und Sammlung wieder Raum laſſen, ſo eröffnet
ſich hier die Muſik mit dem Moment der Sollicitation, des Anhebens,
Anſteigens, lebendigen Sichausſprechens innerer Erregung, mit einem Satz,
der durchaus entſchieden Bewegtheit athmet und, ſofern an dieſe alles Weitere
ſich anreihen muß, von weſentlichſter Wichtigkeit für den Totaleindruck des
ganzen Werks iſt. Tonſtücke, die mit längerem Adagio beginnen, machen
von vorn herein einen erſchwertern, trübern Eindruck; die Muſik tritt hier
nicht entſchieden genug an’s Leben heraus, löst ſich gleichſam nicht voll-
kommen los von der in ihr Gefühl verſenkten, ihm nachſinnenden Seele;
dieſe Form, ſo ausdrucksreich ſie hiedurch auch iſt, kann ebendarum nur
Nebenform ſein, da ſie nur auf vertieftere, innigere, ſanftere Seelenzuſtände
paßt, in denen Affect und Wille in ungewöhnlicherer Weiſe zurücktreten.
Auf die Unruhe, Erregtheit, ſtrebende Bewegtheit des erſten Satzes folgt
im zweiten, das Gemüth und die Phantaſie gleich anſprechend, die Ruhe,
die Zuſtändlichkeit
, das an ſich ſelbſt hingegebene, ſich behaglich ſam-
melnde oder grübleriſch ſich in ſich vertiefende Fühlen, auf die überſchäu-
mende Fröhlichkeit, Lebens- und Thatenluſt die ſtille Zufriedenheit des Glücks,
das ernſtere Anſichhalten ſinniger Zurückziehung in ſich ſelbſt oder auch eine
plötzlich einbrechende, die Seele beſchäftigende, niederdrückende Schmerzens-
ſtimmung, auf Kampf und Streit Frieden und Stillſtand oder traurig in
ſich zurückſinkende Wehmuth. In dieſer Zuſtändlichkeit aber kann die Muſik,
ſobald ſie einmal ein größeres Ganzes geben will, nicht verharren, das
Leben fordert ſein Recht; nicht mit erſchlaffendem Behagen und Genießen,
nicht mit zehrendem Kummer und ermattender Sehnſucht kann ein Tonge-
mäloe ſchließen, das nicht etwas Einzelnes aus dem Leben herausgreifen,
ſondern Totalität, Lebensbild ſein will, ſondern es muß dieſe Zuſtändlich-
keit, dieſes Stehenbleiben des Rades der Bewegung, das immer etwas
Unlebendiges, Contemplativtheoretiſches, Kraftloſes hat, wieder negiren,
das Leben muß ſich aus der Raſt, aus der Reſignation, aus der Schmerz-
befangenheit wiederherſtellen zu ſich ſelbſt, zur Beweglichkeit, Thätigkeit,
Freiheit oder doch zum Ringen um dieſelbe, es muß ſich ſelbſt affirmiren,
es muß ſich abermals darſtellen als ſich ſelbſt, als Lebendiges, als vorwärts-
gehend, und zwar entweder als leicht dahineilendes Leben, das die wiederum
gewonnene Erregtheit mit Luſt und froher Kraft zum Schluſſe führt, oder
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naturgemäß der bewegtere Schlußſatz und zugleich die zwei Haupt-

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[1082/0320] wickelten Seelenlebens hineinverſetzt; wie das Leben nicht träge, kraftloſe Ruhe, ſondern nur da wirkliches, volles Leben iſt, wo es eine beſtimmte Richtung, Strebung, einen Schwung zur Thätigkeit erhält durch lebendige Anregungen, Affectionen, die es aus ſeiner Indifferenz herausheben und erſt hintennach der Ruhe und Sammlung wieder Raum laſſen, ſo eröffnet ſich hier die Muſik mit dem Moment der Sollicitation, des Anhebens, Anſteigens, lebendigen Sichausſprechens innerer Erregung, mit einem Satz, der durchaus entſchieden Bewegtheit athmet und, ſofern an dieſe alles Weitere ſich anreihen muß, von weſentlichſter Wichtigkeit für den Totaleindruck des ganzen Werks iſt. Tonſtücke, die mit längerem Adagio beginnen, machen von vorn herein einen erſchwertern, trübern Eindruck; die Muſik tritt hier nicht entſchieden genug an’s Leben heraus, löst ſich gleichſam nicht voll- kommen los von der in ihr Gefühl verſenkten, ihm nachſinnenden Seele; dieſe Form, ſo ausdrucksreich ſie hiedurch auch iſt, kann ebendarum nur Nebenform ſein, da ſie nur auf vertieftere, innigere, ſanftere Seelenzuſtände paßt, in denen Affect und Wille in ungewöhnlicherer Weiſe zurücktreten. Auf die Unruhe, Erregtheit, ſtrebende Bewegtheit des erſten Satzes folgt im zweiten, das Gemüth und die Phantaſie gleich anſprechend, die Ruhe, die Zuſtändlichkeit, das an ſich ſelbſt hingegebene, ſich behaglich ſam- melnde oder grübleriſch ſich in ſich vertiefende Fühlen, auf die überſchäu- mende Fröhlichkeit, Lebens- und Thatenluſt die ſtille Zufriedenheit des Glücks, das ernſtere Anſichhalten ſinniger Zurückziehung in ſich ſelbſt oder auch eine plötzlich einbrechende, die Seele beſchäftigende, niederdrückende Schmerzens- ſtimmung, auf Kampf und Streit Frieden und Stillſtand oder traurig in ſich zurückſinkende Wehmuth. In dieſer Zuſtändlichkeit aber kann die Muſik, ſobald ſie einmal ein größeres Ganzes geben will, nicht verharren, das Leben fordert ſein Recht; nicht mit erſchlaffendem Behagen und Genießen, nicht mit zehrendem Kummer und ermattender Sehnſucht kann ein Tonge- mäloe ſchließen, das nicht etwas Einzelnes aus dem Leben herausgreifen, ſondern Totalität, Lebensbild ſein will, ſondern es muß dieſe Zuſtändlich- keit, dieſes Stehenbleiben des Rades der Bewegung, das immer etwas Unlebendiges, Contemplativtheoretiſches, Kraftloſes hat, wieder negiren, das Leben muß ſich aus der Raſt, aus der Reſignation, aus der Schmerz- befangenheit wiederherſtellen zu ſich ſelbſt, zur Beweglichkeit, Thätigkeit, Freiheit oder doch zum Ringen um dieſelbe, es muß ſich ſelbſt affirmiren, es muß ſich abermals darſtellen als ſich ſelbſt, als Lebendiges, als vorwärts- gehend, und zwar entweder als leicht dahineilendes Leben, das die wiederum gewonnene Erregtheit mit Luſt und froher Kraft zum Schluſſe führt, oder als Leben, das die an es gekommenen Gegenſätze, Entzweiungen, Kummer- gefühle bekämpft und wo möglich verſöhnend überwindet. Damit iſt ganz naturgemäß der bewegtere Schlußſatz und zugleich die zwei Haupt-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1082. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/320>, abgerufen am 22.11.2024.