2. Der Harmoniesatz ist der erste Anlauf dazu, durch Vereinigung eines Chors von Instrumenten das dynamische Element der Instrumental- musik, ihre Klangfülle und Klangkraft, vollkommen hervortreten und die einzelnen Instrumente zur Erzielung einer compacten Gesammtwirkung zu- sammentönen zu lassen. Die verschiedenen Stimmen sind hier nicht mehr Solostimmen und daher auch nicht mehr einfach vertreten (außer so weit bei einzelnen Organen, wie Posaune u. s. w., ihre Klangkraft mehrfache Besetzung entbehrlich macht), sondern mehrfach; denn der Zweck ist, eine Totalwirkung hervorzubringen, an welcher die einzelnen Instrumente nicht blos durch ihre Qualität, Klangfarbe, sondern und zwar vorzugsweise durch gemeinsame Klangkraft mitzuarbeiten haben; nicht auf Tonfarbenpolyphonie, sondern auf eine allerdings reich und stark gefärbte, aber dabei in sich ver- dichtete, voll und hell zusammenklingende Tonkraft und Tonmasse ist es abgesehen, innerhalb welcher die Einzelinstrumente nur insofern selbständiger wirken, als auch hier neben der gleichförmigen Bewegung des Ganzen als compacter Masse das Bedürfniß sich geltend macht, zum Behuf theils der Abwechslung, theils des Ausdrucks eine Variirung des Fortgangs eintreten zu lassen entweder durch einfachere, weniger stimmenreiche Abschnitte und Sätze (Trio's und dgl.), in denen das Hauptinstrument soloartig wirkt, oder andrerseits durch vorübergehende polyphone Behandlung, in welcher eine oder mehrere Einzelstimmen (z. B. kräftige Baßtöne) aus dem Ganzen heraus- und ihm oder andern Stimmen in freiem Wechselspiele gegenüber- treten. Der Name "Harmoniemusik" für diese Satzart hat eben darin seinen Ursprung, daß sie nicht mehr, wie der Solosatz, auf Melodie oder Melo- dieenverschlingung, sondern auf kräftige Gesammtwirkung ausgeht, in welcher Charakter und Ausdruck der Melodie nur eines der mitwirkenden Momente bildet, ja oft nur die untergeordnete Stellung des Rahmens, des Umrisses einnimmt, innerhalb dessen die klangreiche Tonmasse sich bewegen muß, um Klarheit und Bestimmtheit des Fortgangs zu haben. Die Harmoniemusik ist durch diese ihre Compactheit in ihrer Art Dasselbe, was der (einfache) Chor in der Vocalmusik, das Clavier und die Orgel unter den Einzelin- strumenten sind; sie geht aus dem Streben hervor, einen vollen, ungetheil- ten Musikeindruck zu haben, der Gehör und Phantasie objectiv ergreift und erfaßt, nicht aber wie der Solosatz sie blos anregt und zu beobachtender Verfolgung seines Ganges und seiner Verzweigungen einlädt; in der Har- moniemusik stellt das Gefühl eine Klangfülle sich gegenüber, in der es unter- geht und untertaucht, um sich von ihr und von der in ihr zu Tage treten- den Empfindung in voller Hingebung durchdringen, durchwärmen, durch- beben zu lassen; sie ist die directe Negation der ideellen Stille und Ruhe des geistigen Insich- sowie der Egoität des persönlichen Fürsichseins, sie ist die Erfüllung des Raums mit hell aufsteigendem, von allen Seiten her
2. Der Harmonieſatz iſt der erſte Anlauf dazu, durch Vereinigung eines Chors von Inſtrumenten das dynamiſche Element der Inſtrumental- muſik, ihre Klangfülle und Klangkraft, vollkommen hervortreten und die einzelnen Inſtrumente zur Erzielung einer compacten Geſammtwirkung zu- ſammentönen zu laſſen. Die verſchiedenen Stimmen ſind hier nicht mehr Soloſtimmen und daher auch nicht mehr einfach vertreten (außer ſo weit bei einzelnen Organen, wie Poſaune u. ſ. w., ihre Klangkraft mehrfache Beſetzung entbehrlich macht), ſondern mehrfach; denn der Zweck iſt, eine Totalwirkung hervorzubringen, an welcher die einzelnen Inſtrumente nicht blos durch ihre Qualität, Klangfarbe, ſondern und zwar vorzugsweiſe durch gemeinſame Klangkraft mitzuarbeiten haben; nicht auf Tonfarbenpolyphonie, ſondern auf eine allerdings reich und ſtark gefärbte, aber dabei in ſich ver- dichtete, voll und hell zuſammenklingende Tonkraft und Tonmaſſe iſt es abgeſehen, innerhalb welcher die Einzelinſtrumente nur inſofern ſelbſtändiger wirken, als auch hier neben der gleichförmigen Bewegung des Ganzen als compacter Maſſe das Bedürfniß ſich geltend macht, zum Behuf theils der Abwechslung, theils des Ausdrucks eine Variirung des Fortgangs eintreten zu laſſen entweder durch einfachere, weniger ſtimmenreiche Abſchnitte und Sätze (Trio’s und dgl.), in denen das Hauptinſtrument ſoloartig wirkt, oder andrerſeits durch vorübergehende polyphone Behandlung, in welcher eine oder mehrere Einzelſtimmen (z. B. kräftige Baßtöne) aus dem Ganzen heraus- und ihm oder andern Stimmen in freiem Wechſelſpiele gegenüber- treten. Der Name „Harmoniemuſik“ für dieſe Satzart hat eben darin ſeinen Urſprung, daß ſie nicht mehr, wie der Soloſatz, auf Melodie oder Melo- dieenverſchlingung, ſondern auf kräftige Geſammtwirkung ausgeht, in welcher Charakter und Ausdruck der Melodie nur eines der mitwirkenden Momente bildet, ja oft nur die untergeordnete Stellung des Rahmens, des Umriſſes einnimmt, innerhalb deſſen die klangreiche Tonmaſſe ſich bewegen muß, um Klarheit und Beſtimmtheit des Fortgangs zu haben. Die Harmoniemuſik iſt durch dieſe ihre Compactheit in ihrer Art Daſſelbe, was der (einfache) Chor in der Vocalmuſik, das Clavier und die Orgel unter den Einzelin- ſtrumenten ſind; ſie geht aus dem Streben hervor, einen vollen, ungetheil- ten Muſikeindruck zu haben, der Gehör und Phantaſie objectiv ergreift und erfaßt, nicht aber wie der Soloſatz ſie blos anregt und zu beobachtender Verfolgung ſeines Ganges und ſeiner Verzweigungen einlädt; in der Har- moniemuſik ſtellt das Gefühl eine Klangfülle ſich gegenüber, in der es unter- geht und untertaucht, um ſich von ihr und von der in ihr zu Tage treten- den Empfindung in voller Hingebung durchdringen, durchwärmen, durch- beben zu laſſen; ſie iſt die directe Negation der ideellen Stille und Ruhe des geiſtigen Inſich- ſowie der Egoität des perſönlichen Fürſichſeins, ſie iſt die Erfüllung des Raums mit hell aufſteigendem, von allen Seiten her
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><pbfacs="#f0295"n="1057"/><p><hirendition="#et">2. Der <hirendition="#g">Harmonieſatz</hi> iſt der erſte Anlauf dazu, durch Vereinigung<lb/>
eines Chors von Inſtrumenten das dynamiſche Element der Inſtrumental-<lb/>
muſik, ihre Klangfülle und Klangkraft, vollkommen hervortreten und die<lb/>
einzelnen Inſtrumente zur Erzielung einer compacten Geſammtwirkung zu-<lb/>ſammentönen zu laſſen. Die verſchiedenen Stimmen ſind hier nicht mehr<lb/>
Soloſtimmen und daher auch nicht mehr einfach vertreten (außer ſo weit<lb/>
bei einzelnen Organen, wie Poſaune u. ſ. w., ihre Klangkraft mehrfache<lb/>
Beſetzung entbehrlich macht), ſondern mehrfach; denn der Zweck iſt, eine<lb/>
Totalwirkung hervorzubringen, an welcher die einzelnen Inſtrumente nicht<lb/>
blos durch ihre Qualität, Klangfarbe, ſondern und zwar vorzugsweiſe durch<lb/>
gemeinſame Klangkraft mitzuarbeiten haben; nicht auf Tonfarbenpolyphonie,<lb/>ſondern auf eine allerdings reich und ſtark gefärbte, aber dabei in ſich ver-<lb/>
dichtete, voll und hell zuſammenklingende Tonkraft und Tonmaſſe iſt es<lb/>
abgeſehen, innerhalb welcher die Einzelinſtrumente nur inſofern ſelbſtändiger<lb/>
wirken, als auch hier neben der gleichförmigen Bewegung des Ganzen als<lb/>
compacter Maſſe das Bedürfniß ſich geltend macht, zum Behuf theils der<lb/>
Abwechslung, theils des Ausdrucks eine Variirung des Fortgangs eintreten<lb/>
zu laſſen entweder durch einfachere, weniger ſtimmenreiche Abſchnitte und<lb/>
Sätze (Trio’s und dgl.), in denen das Hauptinſtrument ſoloartig wirkt,<lb/>
oder andrerſeits durch vorübergehende polyphone Behandlung, in welcher<lb/>
eine oder mehrere Einzelſtimmen (z. B. kräftige Baßtöne) aus dem Ganzen<lb/>
heraus- und ihm oder andern Stimmen in freiem Wechſelſpiele gegenüber-<lb/>
treten. Der Name „Harmoniemuſik“ für dieſe Satzart hat eben darin ſeinen<lb/>
Urſprung, daß ſie nicht mehr, wie der Soloſatz, auf Melodie oder Melo-<lb/>
dieenverſchlingung, ſondern auf kräftige Geſammtwirkung ausgeht, in welcher<lb/>
Charakter und Ausdruck der Melodie nur eines der mitwirkenden Momente<lb/>
bildet, ja oft nur die untergeordnete Stellung des Rahmens, des Umriſſes<lb/>
einnimmt, innerhalb deſſen die klangreiche Tonmaſſe ſich bewegen muß, um<lb/>
Klarheit und Beſtimmtheit des Fortgangs zu haben. Die Harmoniemuſik<lb/>
iſt durch dieſe ihre Compactheit in ihrer Art Daſſelbe, was der (einfache)<lb/>
Chor in der Vocalmuſik, das Clavier und die Orgel unter den Einzelin-<lb/>ſtrumenten ſind; ſie geht aus dem Streben hervor, einen vollen, ungetheil-<lb/>
ten Muſikeindruck zu haben, der Gehör und Phantaſie objectiv ergreift und<lb/>
erfaßt, nicht aber wie der Soloſatz ſie blos anregt und zu beobachtender<lb/>
Verfolgung ſeines Ganges und ſeiner Verzweigungen einlädt; in der Har-<lb/>
moniemuſik ſtellt das Gefühl eine Klangfülle ſich gegenüber, in der es unter-<lb/>
geht und untertaucht, um ſich von ihr und von der in ihr zu Tage treten-<lb/>
den Empfindung in voller Hingebung durchdringen, durchwärmen, durch-<lb/>
beben zu laſſen; ſie iſt die directe Negation der ideellen Stille und Ruhe<lb/>
des geiſtigen Inſich- ſowie der Egoität des perſönlichen Fürſichſeins, ſie iſt<lb/>
die Erfüllung des Raums mit hell aufſteigendem, von allen Seiten her<lb/></hi></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[1057/0295]
2. Der Harmonieſatz iſt der erſte Anlauf dazu, durch Vereinigung
eines Chors von Inſtrumenten das dynamiſche Element der Inſtrumental-
muſik, ihre Klangfülle und Klangkraft, vollkommen hervortreten und die
einzelnen Inſtrumente zur Erzielung einer compacten Geſammtwirkung zu-
ſammentönen zu laſſen. Die verſchiedenen Stimmen ſind hier nicht mehr
Soloſtimmen und daher auch nicht mehr einfach vertreten (außer ſo weit
bei einzelnen Organen, wie Poſaune u. ſ. w., ihre Klangkraft mehrfache
Beſetzung entbehrlich macht), ſondern mehrfach; denn der Zweck iſt, eine
Totalwirkung hervorzubringen, an welcher die einzelnen Inſtrumente nicht
blos durch ihre Qualität, Klangfarbe, ſondern und zwar vorzugsweiſe durch
gemeinſame Klangkraft mitzuarbeiten haben; nicht auf Tonfarbenpolyphonie,
ſondern auf eine allerdings reich und ſtark gefärbte, aber dabei in ſich ver-
dichtete, voll und hell zuſammenklingende Tonkraft und Tonmaſſe iſt es
abgeſehen, innerhalb welcher die Einzelinſtrumente nur inſofern ſelbſtändiger
wirken, als auch hier neben der gleichförmigen Bewegung des Ganzen als
compacter Maſſe das Bedürfniß ſich geltend macht, zum Behuf theils der
Abwechslung, theils des Ausdrucks eine Variirung des Fortgangs eintreten
zu laſſen entweder durch einfachere, weniger ſtimmenreiche Abſchnitte und
Sätze (Trio’s und dgl.), in denen das Hauptinſtrument ſoloartig wirkt,
oder andrerſeits durch vorübergehende polyphone Behandlung, in welcher
eine oder mehrere Einzelſtimmen (z. B. kräftige Baßtöne) aus dem Ganzen
heraus- und ihm oder andern Stimmen in freiem Wechſelſpiele gegenüber-
treten. Der Name „Harmoniemuſik“ für dieſe Satzart hat eben darin ſeinen
Urſprung, daß ſie nicht mehr, wie der Soloſatz, auf Melodie oder Melo-
dieenverſchlingung, ſondern auf kräftige Geſammtwirkung ausgeht, in welcher
Charakter und Ausdruck der Melodie nur eines der mitwirkenden Momente
bildet, ja oft nur die untergeordnete Stellung des Rahmens, des Umriſſes
einnimmt, innerhalb deſſen die klangreiche Tonmaſſe ſich bewegen muß, um
Klarheit und Beſtimmtheit des Fortgangs zu haben. Die Harmoniemuſik
iſt durch dieſe ihre Compactheit in ihrer Art Daſſelbe, was der (einfache)
Chor in der Vocalmuſik, das Clavier und die Orgel unter den Einzelin-
ſtrumenten ſind; ſie geht aus dem Streben hervor, einen vollen, ungetheil-
ten Muſikeindruck zu haben, der Gehör und Phantaſie objectiv ergreift und
erfaßt, nicht aber wie der Soloſatz ſie blos anregt und zu beobachtender
Verfolgung ſeines Ganges und ſeiner Verzweigungen einlädt; in der Har-
moniemuſik ſtellt das Gefühl eine Klangfülle ſich gegenüber, in der es unter-
geht und untertaucht, um ſich von ihr und von der in ihr zu Tage treten-
den Empfindung in voller Hingebung durchdringen, durchwärmen, durch-
beben zu laſſen; ſie iſt die directe Negation der ideellen Stille und Ruhe
des geiſtigen Inſich- ſowie der Egoität des perſönlichen Fürſichſeins, ſie iſt
die Erfüllung des Raums mit hell aufſteigendem, von allen Seiten her
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1057. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/295>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.