Widerstand, welchen der Orgelmechanismus einem gar zu gebrochenen, puncti- renden Vortrag entgegensetzt, aber dabei haben die Orgelklänge eben doch in ihrem Nacheinander eine Distinctheit, eine Sprödigkeit, eine Art Indiffe- renz gegen einander, bei welcher jeder Ton die Reihe neu zu beginnen scheint und namentlich der Accentwechsel (§. 776) auf ein Minimum der Bemerkbarkeit beschränkt wird, so daß mithin auch nach dieser Seite der Subjectivität des schleifenden Hinüberziehens sowie des besonders Betonens einzelner Noten aller freie Spielraum benommen ist. Es ist dieß zwar ein Mangel der Orgel, daß sie die freie Verfügung wie über die Mittel der Dynamik so über die der Rhythmik nicht hat, aber dieser Mangel ist doch bei ihr selbst kein Widerspruch, sondern er steht in vollkommenem Einklang mit ihrem Charakter, er dient dazu, denselben noch bezeichnender herauszu- heben; die Orgel leistet eben auch hier auf die subjective Freiheit beliebig wechselnder Wahl der Tonstärke und beliebig betonender Accentuation, sowie auf die schöne Leichtigkeit des rhythmischen Accentwechsels Verzicht und begnügt sich mit der objectiven Macht der ihr immanenten allgemeinen Gewalt des Tones, mit der imponirenden Kraft der Gesammtwirkung, mit der Großartigkeit und Ruhe des gleichschwebenden, ohne rhythmische Ein- schnitte und Stöße dahingehenden Fortklingens, welches letztere zugleich auch wiederum dazu beiträgt, dem Orgelspiel eine nur ihm eigene Idealität und Lieblichkeit zu verleihen. Ganz verleugnet sich auch auf der Orgel der "periodische Wechsel accentuirter und nichtaccentuirter Takttheile" nicht, aber er ist wegen der geringen Einwirkung auf die Tongestaltung, welche der complicirte Mechanismus zuläßt, so sehr zurückgedrängt, daß jene "ruhige, die Bewegtheit verhüllende Haltung des Ganzen", welche S. 910 als Wir- kung eines gleichmäßigen Rhythmus bezeichnet wurde, hier ganz von selbst eintritt. Fülle und Macht des Tonsturms und Ruhe des Tonfortgangs sind so bei der Orgel in einer gegenseitigen Ergänzung vereinigt, welche aller vielfachen Schranken des Instruments ungeachtet die Vereinigung der größten und der lieblichsten Effecte auf ihm gestattet und es so hauptsächlich zum Instrument für das Religiöse, sowohl nach seiner erhabenen als nach seiner milden, gemüthansprechenden und doch von allem Pathetischsüßlichen sich frei haltenden Seite, gemacht hat. Es ist jedoch kein Grund da, die Orgel blos für das spezifisch Kirchliche anzuwenden; jede große Gesammt- empfindung ruhiger Art, wie sie vor Allem dem Chore auszusprechen zufällt, findet an der Orgel ihre würdige Begleitung; unverträglich ist sie nur mit dem bewegtern subjectivern Leben, da alles Erregte, Pulsirende, Spannend- schwellende gänzlich außer ihrem Bereiche liegt. Von selbst versteht es sich, daß die der Orgel so spezifisch zukommenden Eigenschaften der Objectivität, der Transscendenz, der gleichförmigen Ruhe auch wiederum Einseitigkeiten sind, sofern sie damit eben das Prinzip der Lebendigkeit, der subjectiven
Widerſtand, welchen der Orgelmechanismus einem gar zu gebrochenen, puncti- renden Vortrag entgegenſetzt, aber dabei haben die Orgelklänge eben doch in ihrem Nacheinander eine Diſtinctheit, eine Sprödigkeit, eine Art Indiffe- renz gegen einander, bei welcher jeder Ton die Reihe neu zu beginnen ſcheint und namentlich der Accentwechſel (§. 776) auf ein Minimum der Bemerkbarkeit beſchränkt wird, ſo daß mithin auch nach dieſer Seite der Subjectivität des ſchleifenden Hinüberziehens ſowie des beſonders Betonens einzelner Noten aller freie Spielraum benommen iſt. Es iſt dieß zwar ein Mangel der Orgel, daß ſie die freie Verfügung wie über die Mittel der Dynamik ſo über die der Rhythmik nicht hat, aber dieſer Mangel iſt doch bei ihr ſelbſt kein Widerſpruch, ſondern er ſteht in vollkommenem Einklang mit ihrem Charakter, er dient dazu, denſelben noch bezeichnender herauszu- heben; die Orgel leiſtet eben auch hier auf die ſubjective Freiheit beliebig wechſelnder Wahl der Tonſtärke und beliebig betonender Accentuation, ſowie auf die ſchöne Leichtigkeit des rhythmiſchen Accentwechſels Verzicht und begnügt ſich mit der objectiven Macht der ihr immanenten allgemeinen Gewalt des Tones, mit der imponirenden Kraft der Geſammtwirkung, mit der Großartigkeit und Ruhe des gleichſchwebenden, ohne rhythmiſche Ein- ſchnitte und Stöße dahingehenden Fortklingens, welches letztere zugleich auch wiederum dazu beiträgt, dem Orgelſpiel eine nur ihm eigene Idealität und Lieblichkeit zu verleihen. Ganz verleugnet ſich auch auf der Orgel der „periodiſche Wechſel accentuirter und nichtaccentuirter Takttheile“ nicht, aber er iſt wegen der geringen Einwirkung auf die Tongeſtaltung, welche der complicirte Mechanismus zuläßt, ſo ſehr zurückgedrängt, daß jene „ruhige, die Bewegtheit verhüllende Haltung des Ganzen“, welche S. 910 als Wir- kung eines gleichmäßigen Rhythmus bezeichnet wurde, hier ganz von ſelbſt eintritt. Fülle und Macht des Tonſturms und Ruhe des Tonfortgangs ſind ſo bei der Orgel in einer gegenſeitigen Ergänzung vereinigt, welche aller vielfachen Schranken des Inſtruments ungeachtet die Vereinigung der größten und der lieblichſten Effecte auf ihm geſtattet und es ſo hauptſächlich zum Inſtrument für das Religiöſe, ſowohl nach ſeiner erhabenen als nach ſeiner milden, gemüthanſprechenden und doch von allem Pathetiſchſüßlichen ſich frei haltenden Seite, gemacht hat. Es iſt jedoch kein Grund da, die Orgel blos für das ſpezifiſch Kirchliche anzuwenden; jede große Geſammt- empfindung ruhiger Art, wie ſie vor Allem dem Chore auszuſprechen zufällt, findet an der Orgel ihre würdige Begleitung; unverträglich iſt ſie nur mit dem bewegtern ſubjectivern Leben, da alles Erregte, Pulſirende, Spannend- ſchwellende gänzlich außer ihrem Bereiche liegt. Von ſelbſt verſteht es ſich, daß die der Orgel ſo ſpezifiſch zukommenden Eigenſchaften der Objectivität, der Transſcendenz, der gleichförmigen Ruhe auch wiederum Einſeitigkeiten ſind, ſofern ſie damit eben das Prinzip der Lebendigkeit, der ſubjectiven
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0283"n="1045"/>
Widerſtand, welchen der Orgelmechanismus einem gar zu gebrochenen, puncti-<lb/>
renden Vortrag entgegenſetzt, aber dabei haben die Orgelklänge eben doch<lb/>
in ihrem Nacheinander eine Diſtinctheit, eine Sprödigkeit, eine Art Indiffe-<lb/>
renz gegen einander, bei welcher jeder Ton die Reihe neu zu beginnen<lb/>ſcheint und namentlich der Accentwechſel (§. 776) auf ein Minimum der<lb/>
Bemerkbarkeit beſchränkt wird, ſo daß mithin auch nach dieſer Seite der<lb/>
Subjectivität des ſchleifenden Hinüberziehens ſowie des beſonders Betonens<lb/>
einzelner Noten aller freie Spielraum benommen iſt. Es iſt dieß zwar ein<lb/>
Mangel der Orgel, daß ſie die freie Verfügung wie über die Mittel der<lb/>
Dynamik ſo über die der Rhythmik nicht hat, aber dieſer Mangel iſt doch<lb/>
bei ihr ſelbſt kein Widerſpruch, ſondern er ſteht in vollkommenem Einklang<lb/>
mit ihrem Charakter, er dient dazu, denſelben noch bezeichnender herauszu-<lb/>
heben; die Orgel leiſtet eben auch hier auf die ſubjective Freiheit beliebig<lb/>
wechſelnder Wahl der Tonſtärke und beliebig betonender Accentuation, ſowie<lb/>
auf die ſchöne Leichtigkeit des rhythmiſchen Accentwechſels Verzicht und<lb/>
begnügt ſich mit der objectiven Macht der ihr immanenten allgemeinen<lb/>
Gewalt des Tones, mit der imponirenden Kraft der Geſammtwirkung, mit<lb/>
der Großartigkeit und Ruhe des gleichſchwebenden, ohne rhythmiſche Ein-<lb/>ſchnitte und Stöße dahingehenden Fortklingens, welches letztere zugleich auch<lb/>
wiederum dazu beiträgt, dem Orgelſpiel eine nur ihm eigene Idealität und<lb/>
Lieblichkeit zu verleihen. Ganz verleugnet ſich auch auf der Orgel der<lb/>„periodiſche Wechſel accentuirter und nichtaccentuirter Takttheile“ nicht, aber<lb/>
er iſt wegen der geringen Einwirkung auf die Tongeſtaltung, welche der<lb/>
complicirte Mechanismus zuläßt, ſo ſehr zurückgedrängt, daß jene „ruhige,<lb/>
die Bewegtheit verhüllende Haltung des Ganzen“, welche S. 910 als Wir-<lb/>
kung eines gleichmäßigen Rhythmus bezeichnet wurde, hier ganz von ſelbſt<lb/>
eintritt. Fülle und Macht des Tonſturms und Ruhe des Tonfortgangs<lb/>ſind ſo bei der Orgel in einer gegenſeitigen Ergänzung vereinigt, welche<lb/>
aller vielfachen Schranken des Inſtruments ungeachtet die Vereinigung der<lb/>
größten und der lieblichſten Effecte auf ihm geſtattet und es ſo hauptſächlich<lb/>
zum Inſtrument für das Religiöſe, ſowohl nach ſeiner erhabenen als nach<lb/>ſeiner milden, gemüthanſprechenden und doch von allem Pathetiſchſüßlichen<lb/>ſich frei haltenden Seite, gemacht hat. Es iſt jedoch kein Grund da, die<lb/>
Orgel blos für das ſpezifiſch Kirchliche anzuwenden; jede große Geſammt-<lb/>
empfindung ruhiger Art, wie ſie vor Allem dem Chore auszuſprechen zufällt,<lb/>
findet an der Orgel ihre würdige Begleitung; unverträglich iſt ſie nur mit<lb/>
dem bewegtern ſubjectivern Leben, da alles Erregte, Pulſirende, Spannend-<lb/>ſchwellende gänzlich außer ihrem Bereiche liegt. Von ſelbſt verſteht es ſich,<lb/>
daß die der Orgel ſo ſpezifiſch zukommenden Eigenſchaften der Objectivität,<lb/>
der Transſcendenz, der gleichförmigen Ruhe auch wiederum Einſeitigkeiten<lb/>ſind, ſofern ſie damit eben das Prinzip der Lebendigkeit, der ſubjectiven<lb/></hi></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[1045/0283]
Widerſtand, welchen der Orgelmechanismus einem gar zu gebrochenen, puncti-
renden Vortrag entgegenſetzt, aber dabei haben die Orgelklänge eben doch
in ihrem Nacheinander eine Diſtinctheit, eine Sprödigkeit, eine Art Indiffe-
renz gegen einander, bei welcher jeder Ton die Reihe neu zu beginnen
ſcheint und namentlich der Accentwechſel (§. 776) auf ein Minimum der
Bemerkbarkeit beſchränkt wird, ſo daß mithin auch nach dieſer Seite der
Subjectivität des ſchleifenden Hinüberziehens ſowie des beſonders Betonens
einzelner Noten aller freie Spielraum benommen iſt. Es iſt dieß zwar ein
Mangel der Orgel, daß ſie die freie Verfügung wie über die Mittel der
Dynamik ſo über die der Rhythmik nicht hat, aber dieſer Mangel iſt doch
bei ihr ſelbſt kein Widerſpruch, ſondern er ſteht in vollkommenem Einklang
mit ihrem Charakter, er dient dazu, denſelben noch bezeichnender herauszu-
heben; die Orgel leiſtet eben auch hier auf die ſubjective Freiheit beliebig
wechſelnder Wahl der Tonſtärke und beliebig betonender Accentuation, ſowie
auf die ſchöne Leichtigkeit des rhythmiſchen Accentwechſels Verzicht und
begnügt ſich mit der objectiven Macht der ihr immanenten allgemeinen
Gewalt des Tones, mit der imponirenden Kraft der Geſammtwirkung, mit
der Großartigkeit und Ruhe des gleichſchwebenden, ohne rhythmiſche Ein-
ſchnitte und Stöße dahingehenden Fortklingens, welches letztere zugleich auch
wiederum dazu beiträgt, dem Orgelſpiel eine nur ihm eigene Idealität und
Lieblichkeit zu verleihen. Ganz verleugnet ſich auch auf der Orgel der
„periodiſche Wechſel accentuirter und nichtaccentuirter Takttheile“ nicht, aber
er iſt wegen der geringen Einwirkung auf die Tongeſtaltung, welche der
complicirte Mechanismus zuläßt, ſo ſehr zurückgedrängt, daß jene „ruhige,
die Bewegtheit verhüllende Haltung des Ganzen“, welche S. 910 als Wir-
kung eines gleichmäßigen Rhythmus bezeichnet wurde, hier ganz von ſelbſt
eintritt. Fülle und Macht des Tonſturms und Ruhe des Tonfortgangs
ſind ſo bei der Orgel in einer gegenſeitigen Ergänzung vereinigt, welche
aller vielfachen Schranken des Inſtruments ungeachtet die Vereinigung der
größten und der lieblichſten Effecte auf ihm geſtattet und es ſo hauptſächlich
zum Inſtrument für das Religiöſe, ſowohl nach ſeiner erhabenen als nach
ſeiner milden, gemüthanſprechenden und doch von allem Pathetiſchſüßlichen
ſich frei haltenden Seite, gemacht hat. Es iſt jedoch kein Grund da, die
Orgel blos für das ſpezifiſch Kirchliche anzuwenden; jede große Geſammt-
empfindung ruhiger Art, wie ſie vor Allem dem Chore auszuſprechen zufällt,
findet an der Orgel ihre würdige Begleitung; unverträglich iſt ſie nur mit
dem bewegtern ſubjectivern Leben, da alles Erregte, Pulſirende, Spannend-
ſchwellende gänzlich außer ihrem Bereiche liegt. Von ſelbſt verſteht es ſich,
daß die der Orgel ſo ſpezifiſch zukommenden Eigenſchaften der Objectivität,
der Transſcendenz, der gleichförmigen Ruhe auch wiederum Einſeitigkeiten
ſind, ſofern ſie damit eben das Prinzip der Lebendigkeit, der ſubjectiven
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1045. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/283>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.