hebung zumal, und so vereinigt sie die religiösen Grundgefühle des bangen Bewußtseins der Endlichkeit und des versöhnenden Bewußtseins der Auf- hebung der Endlichkeit zur Gemeinschaft mit dem Unendlichen unmittelbar in sich, das religiöse Gefühl durchläuft in ihr alle Stadien des Processes, in dem es sich bewegt, Andacht überhaupt, Furcht und Niedergeschlagenheit, unendliche Gewißheit der Versöhnung. Die Messe ist so nicht blos nach der Seite ihres tiefen und ergreifenden Gefühlsinhalts, sondern auch durch den in ihr vorhandenen Fortgang und Fortschritt, durch die innere Be- wegung von einem Momente zum andern, die sich schließlich in die abso- lute Beruhigtheit, in das absolute Erfülltsein des Gemüths vom Versöh- nungsbewußtsein auflöst, durchaus musikalisch; sie bietet der Tonkunst den trefflichsten Anlaß zur Aufbietung aller melodischen, harmonischen, rhyth- mischen Mittel, die ihr zu Gebote stehen; sie kann den ruhigern, die Unter- schiede und Gegensätze weniger zur Entfaltung bringenden einfach harmo- nischmelodischen Typus, ebenso aber zugleich mit Hülfe des Rhythmus auch eine bewegtere, reicher entwickelte Haltung annehmen, indem im ersten Falle die passivere Gefühlshingabe, im zweiten eine activere Form der Religiosität zu Grund liegt, welche sowohl von der Entzweiung des Endlichen mit dem Unendlichen als von der Vollkommenheit der Versöhnung zwischen beiden und der Höhe, auf welche durch sie das Subject gestellt ist, ein energischeres, schärferes und lebendigeres Bewußtsein hat. In der Messe, weil sie den tiefsten und den ergreifendsten Gefühlsinhalt hat, erreicht die Vocalmusik ihre Vollendung sowohl nach der Seite reiner Idealität als rücksichtlich innerer subjectiver Bewegtheit; beide Elemente, (allgemein künstlerische) Idealität und (spezifisch musikalische) Bewegtheit, treten hier im Großen zusammen, wie beim wirklich ausdrucksvollen Kunstliede im Kleinen, obwohl gewöhnlich unter Vorherrschen des einen oder andern Elementes. Auf diesem Unterschiede beruht auch die Anwendung oder Nichtanwendung der Instru- mentalmusik; sie fehlt mit Recht, wenn die Messe eine rein idealische, hin- gebende Gefühlsmusik ist, sie ist aber nothwendig, wenn die subjectivactivere Frömmigkeitsform sich in ihr aussprechen soll, und sie ist auch für eine passivere Religiosität nicht überall entbehrlich, weil auch sie neben jener reinen Idealität auch stärkere Färbungen des Ausdrucks ihrer Andachtsgefühle bedarf. Festhalten läßt sich, wie Thatsachen zeigen, der Ausschluß der Instrumentation auf die Dauer niemals; die idealische Vocalmusik kann nur die Eine Seite der Kirchenmusik bilden, nie die ganze, das Bedürfniß nach concreterer Tonfülle und Tonmalerei macht sich z. B. bei der Form des Requiems wegen der hier stattfindenden nachdrucksvollern Vergegen- ständlichung der ethischen Beziehungen zwischen dem Endlichen und Unend- lichen unabweisbar geltend, und auch im sonstigen Cultus verlangt es seine Berücksichtigung, da die Form der absoluten Idealität nur unter
hebung zumal, und ſo vereinigt ſie die religiöſen Grundgefühle des bangen Bewußtſeins der Endlichkeit und des verſöhnenden Bewußtſeins der Auf- hebung der Endlichkeit zur Gemeinſchaft mit dem Unendlichen unmittelbar in ſich, das religiöſe Gefühl durchläuft in ihr alle Stadien des Proceſſes, in dem es ſich bewegt, Andacht überhaupt, Furcht und Niedergeſchlagenheit, unendliche Gewißheit der Verſöhnung. Die Meſſe iſt ſo nicht blos nach der Seite ihres tiefen und ergreifenden Gefühlsinhalts, ſondern auch durch den in ihr vorhandenen Fortgang und Fortſchritt, durch die innere Be- wegung von einem Momente zum andern, die ſich ſchließlich in die abſo- lute Beruhigtheit, in das abſolute Erfülltſein des Gemüths vom Verſöh- nungsbewußtſein auflöst, durchaus muſikaliſch; ſie bietet der Tonkunſt den trefflichſten Anlaß zur Aufbietung aller melodiſchen, harmoniſchen, rhyth- miſchen Mittel, die ihr zu Gebote ſtehen; ſie kann den ruhigern, die Unter- ſchiede und Gegenſätze weniger zur Entfaltung bringenden einfach harmo- niſchmelodiſchen Typus, ebenſo aber zugleich mit Hülfe des Rhythmus auch eine bewegtere, reicher entwickelte Haltung annehmen, indem im erſten Falle die paſſivere Gefühlshingabe, im zweiten eine activere Form der Religioſität zu Grund liegt, welche ſowohl von der Entzweiung des Endlichen mit dem Unendlichen als von der Vollkommenheit der Verſöhnung zwiſchen beiden und der Höhe, auf welche durch ſie das Subject geſtellt iſt, ein energiſcheres, ſchärferes und lebendigeres Bewußtſein hat. In der Meſſe, weil ſie den tiefſten und den ergreifendſten Gefühlsinhalt hat, erreicht die Vocalmuſik ihre Vollendung ſowohl nach der Seite reiner Idealität als rückſichtlich innerer ſubjectiver Bewegtheit; beide Elemente, (allgemein künſtleriſche) Idealität und (ſpezifiſch muſikaliſche) Bewegtheit, treten hier im Großen zuſammen, wie beim wirklich ausdrucksvollen Kunſtliede im Kleinen, obwohl gewöhnlich unter Vorherrſchen des einen oder andern Elementes. Auf dieſem Unterſchiede beruht auch die Anwendung oder Nichtanwendung der Inſtru- mentalmuſik; ſie fehlt mit Recht, wenn die Meſſe eine rein idealiſche, hin- gebende Gefühlsmuſik iſt, ſie iſt aber nothwendig, wenn die ſubjectivactivere Frömmigkeitsform ſich in ihr ausſprechen ſoll, und ſie iſt auch für eine paſſivere Religioſität nicht überall entbehrlich, weil auch ſie neben jener reinen Idealität auch ſtärkere Färbungen des Ausdrucks ihrer Andachtsgefühle bedarf. Feſthalten läßt ſich, wie Thatſachen zeigen, der Ausſchluß der Inſtrumentation auf die Dauer niemals; die idealiſche Vocalmuſik kann nur die Eine Seite der Kirchenmuſik bilden, nie die ganze, das Bedürfniß nach concreterer Tonfülle und Tonmalerei macht ſich z. B. bei der Form des Requiems wegen der hier ſtattfindenden nachdrucksvollern Vergegen- ſtändlichung der ethiſchen Beziehungen zwiſchen dem Endlichen und Unend- lichen unabweisbar geltend, und auch im ſonſtigen Cultus verlangt es ſeine Berückſichtigung, da die Form der abſoluten Idealität nur unter
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hebung der Endlichkeit zur Gemeinſchaft mit dem Unendlichen unmittelbar
in ſich, das religiöſe Gefühl durchläuft in ihr alle Stadien des Proceſſes,
in dem es ſich bewegt, Andacht überhaupt, Furcht und Niedergeſchlagenheit,
unendliche Gewißheit der Verſöhnung. Die Meſſe iſt ſo nicht blos nach
der Seite ihres tiefen und ergreifenden Gefühlsinhalts, ſondern auch durch
den in ihr vorhandenen Fortgang und Fortſchritt, durch die innere Be-
wegung von einem Momente zum andern, die ſich ſchließlich in die abſo-
lute Beruhigtheit, in das abſolute Erfülltſein des Gemüths vom Verſöh-
nungsbewußtſein auflöst, durchaus muſikaliſch; ſie bietet der Tonkunſt den
trefflichſten Anlaß zur Aufbietung aller melodiſchen, harmoniſchen, rhyth-
miſchen Mittel, die ihr zu Gebote ſtehen; ſie kann den ruhigern, die Unter-
ſchiede und Gegenſätze weniger zur Entfaltung bringenden einfach harmo-
niſchmelodiſchen Typus, ebenſo aber zugleich mit Hülfe des Rhythmus auch
eine bewegtere, reicher entwickelte Haltung annehmen, indem im erſten Falle
die paſſivere Gefühlshingabe, im zweiten eine activere Form der Religioſität
zu Grund liegt, welche ſowohl von der Entzweiung des Endlichen mit dem
Unendlichen als von der Vollkommenheit der Verſöhnung zwiſchen beiden
und der Höhe, auf welche durch ſie das Subject geſtellt iſt, ein energiſcheres,
ſchärferes und lebendigeres Bewußtſein hat. In der Meſſe, weil ſie den
tiefſten und den ergreifendſten Gefühlsinhalt hat, erreicht die Vocalmuſik
ihre Vollendung ſowohl nach der Seite reiner Idealität als rückſichtlich
innerer ſubjectiver Bewegtheit; beide Elemente, (allgemein künſtleriſche)
Idealität und (ſpezifiſch muſikaliſche) Bewegtheit, treten hier im Großen
zuſammen, wie beim wirklich ausdrucksvollen Kunſtliede im Kleinen, obwohl
gewöhnlich unter Vorherrſchen des einen oder andern Elementes. Auf dieſem
Unterſchiede beruht auch die Anwendung oder Nichtanwendung der Inſtru-
mentalmuſik; ſie fehlt mit Recht, wenn die Meſſe eine rein idealiſche, hin-
gebende Gefühlsmuſik iſt, ſie iſt aber nothwendig, wenn die ſubjectivactivere
Frömmigkeitsform ſich in ihr ausſprechen ſoll, und ſie iſt auch für eine
paſſivere Religioſität nicht überall entbehrlich, weil auch ſie neben jener reinen
Idealität auch ſtärkere Färbungen des Ausdrucks ihrer Andachtsgefühle
bedarf. Feſthalten läßt ſich, wie Thatſachen zeigen, der Ausſchluß der
Inſtrumentation auf die Dauer niemals; die idealiſche Vocalmuſik kann
nur die Eine Seite der Kirchenmuſik bilden, nie die ganze, das Bedürfniß
nach concreterer Tonfülle und Tonmalerei macht ſich z. B. bei der Form
des Requiems wegen der hier ſtattfindenden nachdrucksvollern Vergegen-
ſtändlichung der ethiſchen Beziehungen zwiſchen dem Endlichen und Unend-
lichen unabweisbar geltend, und auch im ſonſtigen Cultus verlangt es
ſeine Berückſichtigung, da die Form der abſoluten Idealität nur unter
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1022. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/260>, abgerufen am 22.11.2024.
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