durch die Stellung im Satze und durch accentuirten Vortrag seine hohe Bedeutung einigermaßen andeuten, denn die Logik oder der Umstand, daß sie logische Gedankendarstellung ist, gestattet es nicht anders; die Musik dagegen ist von dieser Gebundenheit frei, sie muß sie abwerfen, da sie sonst eben das ihr eigenthümlich Zukommende, das Gefühl, zurückdrängen, ver- schweigen müßte, statt es kundzuthun, und sie kann sie abwerfen, da das längere Verweilen auf einem Puncte, wenn es nicht übermäßig ist, die Symmetrie und Ueberschaulichkeit, die natürlich auch der musikalische Aus- druck haben muß, nicht beeinträchtigt, sondern im Gegentheil die Gleichför- migkeit des streng periodischen Melodienbaus in ganz berechtigter Weise durch Auslassungen dieser Art unterbrochen wird. Rede und Musik haben nicht dasselbe Tempo (Zeitmetrum), die Musik richtet sich in ihrem Tempo, in ihrem Eilen und Verweilen nach der Empfin- dung, nicht nach Begriff und Wort; "der Gedanke", sagt Moritz ganz richtig, "hat Licht, die Empfindung Fülle; der Gedanke kann sich auf einmal äußern, die Empfindung nur nach und nach sich ihrer Fülle entle- digen; der Gedanke ist ein Blitz, die Empfindung die regenschwangere Wolke, ihr Erguß ist der langsamere oder schnellere Tropfenfall". Die Läugnung dieses Unterschieds zwischen Rede und Musik, die Behauptung der syllabi- schen Melodie als der einzig zulässigen ist derselbe Widerspruch, wie wenn man der lyrischen Poesie die Ausmalung einer Empfindung durch mehrere Strophen hindurch verbieten, die Disposition der Scenen eines Drama's, die Skizze eines Gemäldes u. s. w. für den bessern Ausdruck der Idee des Ganzen erklären wollte, weil sie alles überflüssige Beiwerk bei Seite lasse, oder weil, wie Wagner und seine Schule in Bezug auf die Oper behauptet, die breite Ausführung an dem Widerspruch leide, das was blos Mittel für den Ausdruck sei zur Hauptsache zu machen. Melodie in der Musik, Ausführung in der Poesie, Musik im musikalischen Drama sind Zweck, nicht Mittel (außer soweit alles Einzelne, was Zweck ist, auch wieder Mittel ist für irgend etwas Allgemeineres, für vollständige Realisirung der Idee der Kunst, sowie für Förderung und Bereicherung des Geisteslebens überhaupt), Musik und Kunst überhaupt wollen nicht belehren, sondern schön und aus- drucks voll darstellen (wiewohl sie hiemit indirect auch Dieß und Jenes mit tiefem Eindruck lehren können), man will in der Kunst die Idee in voller Realität, nicht in dürftig symbolischer Andeutung, nicht in einem Ausdruck, der blos Mittel ist, man will sehen, hören und genießen, und insofern ist eine in Coloraturen, Läufen, Cadenzen das Maaß überschreitende Arie, wenn sie nur Vocal- und nicht Instrumentalmelodie darbietet und keine unnatürlichen Anforderungen an das Organ macht, immer noch dramatisch musikalisch, weil auch in diesen Figuren an sich ein immerhin adäquater Ausdruck der stärkern Bewegtheit des Gemüthslebens, wie sie eben im Drama
durch die Stellung im Satze und durch accentuirten Vortrag ſeine hohe Bedeutung einigermaßen andeuten, denn die Logik oder der Umſtand, daß ſie logiſche Gedankendarſtellung iſt, geſtattet es nicht anders; die Muſik dagegen iſt von dieſer Gebundenheit frei, ſie muß ſie abwerfen, da ſie ſonſt eben das ihr eigenthümlich Zukommende, das Gefühl, zurückdrängen, ver- ſchweigen müßte, ſtatt es kundzuthun, und ſie kann ſie abwerfen, da das längere Verweilen auf einem Puncte, wenn es nicht übermäßig iſt, die Symmetrie und Ueberſchaulichkeit, die natürlich auch der muſikaliſche Aus- druck haben muß, nicht beeinträchtigt, ſondern im Gegentheil die Gleichför- migkeit des ſtreng periodiſchen Melodienbaus in ganz berechtigter Weiſe durch Auslaſſungen dieſer Art unterbrochen wird. Rede und Muſik haben nicht daſſelbe Tempo (Zeitmetrum), die Muſik richtet ſich in ihrem Tempo, in ihrem Eilen und Verweilen nach der Empfin- dung, nicht nach Begriff und Wort; „der Gedanke“, ſagt Moritz ganz richtig, „hat Licht, die Empfindung Fülle; der Gedanke kann ſich auf einmal äußern, die Empfindung nur nach und nach ſich ihrer Fülle entle- digen; der Gedanke iſt ein Blitz, die Empfindung die regenſchwangere Wolke, ihr Erguß iſt der langſamere oder ſchnellere Tropfenfall“. Die Läugnung dieſes Unterſchieds zwiſchen Rede und Muſik, die Behauptung der ſyllabi- ſchen Melodie als der einzig zuläſſigen iſt derſelbe Widerſpruch, wie wenn man der lyriſchen Poeſie die Ausmalung einer Empfindung durch mehrere Strophen hindurch verbieten, die Dispoſition der Scenen eines Drama’s, die Skizze eines Gemäldes u. ſ. w. für den beſſern Ausdruck der Idee des Ganzen erklären wollte, weil ſie alles überflüſſige Beiwerk bei Seite laſſe, oder weil, wie Wagner und ſeine Schule in Bezug auf die Oper behauptet, die breite Ausführung an dem Widerſpruch leide, das was blos Mittel für den Ausdruck ſei zur Hauptſache zu machen. Melodie in der Muſik, Ausführung in der Poeſie, Muſik im muſikaliſchen Drama ſind Zweck, nicht Mittel (außer ſoweit alles Einzelne, was Zweck iſt, auch wieder Mittel iſt für irgend etwas Allgemeineres, für vollſtändige Realiſirung der Idee der Kunſt, ſowie für Förderung und Bereicherung des Geiſteslebens überhaupt), Muſik und Kunſt überhaupt wollen nicht belehren, ſondern ſchön und aus- drucks voll darſtellen (wiewohl ſie hiemit indirect auch Dieß und Jenes mit tiefem Eindruck lehren können), man will in der Kunſt die Idee in voller Realität, nicht in dürftig ſymboliſcher Andeutung, nicht in einem Ausdruck, der blos Mittel iſt, man will ſehen, hören und genießen, und inſofern iſt eine in Coloraturen, Läufen, Cadenzen das Maaß überſchreitende Arie, wenn ſie nur Vocal- und nicht Inſtrumentalmelodie darbietet und keine unnatürlichen Anforderungen an das Organ macht, immer noch dramatiſch muſikaliſch, weil auch in dieſen Figuren an ſich ein immerhin adäquater Ausdruck der ſtärkern Bewegtheit des Gemüthslebens, wie ſie eben im Drama
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[1009/0247]
durch die Stellung im Satze und durch accentuirten Vortrag ſeine hohe
Bedeutung einigermaßen andeuten, denn die Logik oder der Umſtand, daß
ſie logiſche Gedankendarſtellung iſt, geſtattet es nicht anders; die Muſik
dagegen iſt von dieſer Gebundenheit frei, ſie muß ſie abwerfen, da ſie ſonſt
eben das ihr eigenthümlich Zukommende, das Gefühl, zurückdrängen, ver-
ſchweigen müßte, ſtatt es kundzuthun, und ſie kann ſie abwerfen, da das
längere Verweilen auf einem Puncte, wenn es nicht übermäßig iſt, die
Symmetrie und Ueberſchaulichkeit, die natürlich auch der muſikaliſche Aus-
druck haben muß, nicht beeinträchtigt, ſondern im Gegentheil die Gleichför-
migkeit des ſtreng periodiſchen Melodienbaus in ganz berechtigter Weiſe
durch Auslaſſungen dieſer Art unterbrochen wird. Rede und Muſik haben
nicht daſſelbe Tempo (Zeitmetrum), die Muſik richtet ſich in ihrem
Tempo, in ihrem Eilen und Verweilen nach der Empfin-
dung, nicht nach Begriff und Wort; „der Gedanke“, ſagt Moritz
ganz richtig, „hat Licht, die Empfindung Fülle; der Gedanke kann ſich auf
einmal äußern, die Empfindung nur nach und nach ſich ihrer Fülle entle-
digen; der Gedanke iſt ein Blitz, die Empfindung die regenſchwangere Wolke,
ihr Erguß iſt der langſamere oder ſchnellere Tropfenfall“. Die Läugnung
dieſes Unterſchieds zwiſchen Rede und Muſik, die Behauptung der ſyllabi-
ſchen Melodie als der einzig zuläſſigen iſt derſelbe Widerſpruch, wie wenn
man der lyriſchen Poeſie die Ausmalung einer Empfindung durch mehrere
Strophen hindurch verbieten, die Dispoſition der Scenen eines Drama’s,
die Skizze eines Gemäldes u. ſ. w. für den beſſern Ausdruck der Idee des
Ganzen erklären wollte, weil ſie alles überflüſſige Beiwerk bei Seite laſſe,
oder weil, wie Wagner und ſeine Schule in Bezug auf die Oper behauptet,
die breite Ausführung an dem Widerſpruch leide, das was blos Mittel
für den Ausdruck ſei zur Hauptſache zu machen. Melodie in der Muſik,
Ausführung in der Poeſie, Muſik im muſikaliſchen Drama ſind Zweck, nicht
Mittel (außer ſoweit alles Einzelne, was Zweck iſt, auch wieder Mittel iſt
für irgend etwas Allgemeineres, für vollſtändige Realiſirung der Idee der
Kunſt, ſowie für Förderung und Bereicherung des Geiſteslebens überhaupt),
Muſik und Kunſt überhaupt wollen nicht belehren, ſondern ſchön und aus-
drucks voll darſtellen (wiewohl ſie hiemit indirect auch Dieß und Jenes mit
tiefem Eindruck lehren können), man will in der Kunſt die Idee in voller
Realität, nicht in dürftig ſymboliſcher Andeutung, nicht in einem Ausdruck,
der blos Mittel iſt, man will ſehen, hören und genießen, und inſofern iſt
eine in Coloraturen, Läufen, Cadenzen das Maaß überſchreitende Arie,
wenn ſie nur Vocal- und nicht Inſtrumentalmelodie darbietet und keine
unnatürlichen Anforderungen an das Organ macht, immer noch dramatiſch
muſikaliſch, weil auch in dieſen Figuren an ſich ein immerhin adäquater
Ausdruck der ſtärkern Bewegtheit des Gemüthslebens, wie ſie eben im Drama
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1009. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/247>, abgerufen am 23.11.2024.
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