passendste ist, weil sie einen nicht zu beschränkten und doch auch nicht zu weit ausgedehnten, zugleich durch die Symmetrie der Theilung des Ganzen in zwei Hälften befriedigenden Cyclus von Tonsätzen darstellt. Der erste Satz führt zum zweiten hinan oder kommt in ihm zur Ruhe, der erste findet im zweiten sein Gegenbild, seinen Gegensatz oder sein positives Re- sultat, seinen Abschluß, der zweite zieht wiederum in der einen oder in der andern Weise einen dritten nach sich u. s. w., bis im Schlußsatz Alles kräftig austönt oder die Bewegung ruhig sich abklärt; dieß ist im Allge- meinen der Typus dieser höchsten Form cyclischer Musik, die größern lyrischen und dramatischen Vocalstücken sowie unter Instrumentalwerken namentlich Sonaten und Symphonieen zu Grunde liegt. Die Formfreiheit der Musik ist auch hier so groß, daß im Einzelnen die mannigfaltigsten Gestaltungen in Bezug auf Zahl, Länge, Construction und gegenseitiges Verhältniß der Sätze möglich sind. Doch lassen sich die wesentlichen Grundunterschiede, die hier möglich sind, wohl von einander sondern. Das Tonstück ist ent- weder blos zweitheilig; die Bewegung ist zuerst ruhigere Stimmung oder Empfindung (s. S. 953) in langsamerem Tempo, auf welche dann erregtere Musik folgt (wie in größern Arien ein Allegro auf ein Andante); oder ist der Gang der umgekehrte, wiewohl dieses der seltenere Fall ist, weil bei langsamerem Tempo das Gefühl des Austönens, des zur vollen Ruhe Hin- treibens der Bewegung weniger leicht entsteht; ruhige Stimmung braucht langsames Tempo, aber der Prozeß der Beruhigung, des erst zur Ruhe Kommens erfordert in der Regel eine schnellere Bewegung, das langsamere Tempo hält uns an einem Gedanken gleichsam in contemplativer Ruhe fest, das schnellere aber ist geeignet uns fühlen zu lassen, daß die Hauptsache bereits gesagt ist und Alles zum Abschlusse drängt. Oder ist das Tonstück mehr als zweitheilig; dann ist, obwohl auch hier von (längern) Adagio's oder Andantes zu Allegro's und Presto's aufgestiegen werden kann, der Gang naturgemäß in der Regel ein weniger einfacher: zuerst "erregtere," uns gleich oder nach kurzer langsamer Einleitung in den lebendigen und lebendigergreifenden Strom der Tonbewegung hineinversetzende, dann ruhigere "Stimmungs- oder Empfindungsmusik," bei der das Gemüth sich wieder sammelt und nun auch zartere, innigere, gerührtere Gefühle zum Worte kommen können, hierauf Neuanheben der Erregung, neuer Aufschwung des lange genug im Schmelz der Empfindung, in der Stille der Contemplation, im Ernst der Trauer und dergleichen zurückgehaltenen Geistes zu belebterem, muntererm, kräftigerm Einhergehen in einem oder in zwei Sätzen, womit das Ganze naturgemäß sich abschließt, indem es so die Momente der Er- hebung und Erregung, der Rückkehr aus ihr zur sinnigen Ruhe des sich wieder sammelnden Selbstbewußtseins, der neuen Aufraffung, des endlichen raschen Zumschlussebringens der ganzen Empfindungsbewegung, kurz den
paſſendſte iſt, weil ſie einen nicht zu beſchränkten und doch auch nicht zu weit ausgedehnten, zugleich durch die Symmetrie der Theilung des Ganzen in zwei Hälften befriedigenden Cyclus von Tonſätzen darſtellt. Der erſte Satz führt zum zweiten hinan oder kommt in ihm zur Ruhe, der erſte findet im zweiten ſein Gegenbild, ſeinen Gegenſatz oder ſein poſitives Re- ſultat, ſeinen Abſchluß, der zweite zieht wiederum in der einen oder in der andern Weiſe einen dritten nach ſich u. ſ. w., bis im Schlußſatz Alles kräftig austönt oder die Bewegung ruhig ſich abklärt; dieß iſt im Allge- meinen der Typus dieſer höchſten Form cycliſcher Muſik, die größern lyriſchen und dramatiſchen Vocalſtücken ſowie unter Inſtrumentalwerken namentlich Sonaten und Symphonieen zu Grunde liegt. Die Formfreiheit der Muſik iſt auch hier ſo groß, daß im Einzelnen die mannigfaltigſten Geſtaltungen in Bezug auf Zahl, Länge, Conſtruction und gegenſeitiges Verhältniß der Sätze möglich ſind. Doch laſſen ſich die weſentlichen Grundunterſchiede, die hier möglich ſind, wohl von einander ſondern. Das Tonſtück iſt ent- weder blos zweitheilig; die Bewegung iſt zuerſt ruhigere Stimmung oder Empfindung (ſ. S. 953) in langſamerem Tempo, auf welche dann erregtere Muſik folgt (wie in größern Arien ein Allegro auf ein Andante); oder iſt der Gang der umgekehrte, wiewohl dieſes der ſeltenere Fall iſt, weil bei langſamerem Tempo das Gefühl des Austönens, des zur vollen Ruhe Hin- treibens der Bewegung weniger leicht entſteht; ruhige Stimmung braucht langſames Tempo, aber der Prozeß der Beruhigung, des erſt zur Ruhe Kommens erfordert in der Regel eine ſchnellere Bewegung, das langſamere Tempo hält uns an einem Gedanken gleichſam in contemplativer Ruhe feſt, das ſchnellere aber iſt geeignet uns fühlen zu laſſen, daß die Hauptſache bereits geſagt iſt und Alles zum Abſchluſſe drängt. Oder iſt das Tonſtück mehr als zweitheilig; dann iſt, obwohl auch hier von (längern) Adagio’s oder Andantes zu Allegro’s und Preſto’s aufgeſtiegen werden kann, der Gang naturgemäß in der Regel ein weniger einfacher: zuerſt „erregtere,“ uns gleich oder nach kurzer langſamer Einleitung in den lebendigen und lebendigergreifenden Strom der Tonbewegung hineinverſetzende, dann ruhigere „Stimmungs- oder Empfindungsmuſik,“ bei der das Gemüth ſich wieder ſammelt und nun auch zartere, innigere, gerührtere Gefühle zum Worte kommen können, hierauf Neuanheben der Erregung, neuer Aufſchwung des lange genug im Schmelz der Empfindung, in der Stille der Contemplation, im Ernſt der Trauer und dergleichen zurückgehaltenen Geiſtes zu belebterem, muntererm, kräftigerm Einhergehen in einem oder in zwei Sätzen, womit das Ganze naturgemäß ſich abſchließt, indem es ſo die Momente der Er- hebung und Erregung, der Rückkehr aus ihr zur ſinnigen Ruhe des ſich wieder ſammelnden Selbſtbewußtſeins, der neuen Aufraffung, des endlichen raſchen Zumſchluſſebringens der ganzen Empfindungsbewegung, kurz den
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[963/0201]
paſſendſte iſt, weil ſie einen nicht zu beſchränkten und doch auch nicht zu
weit ausgedehnten, zugleich durch die Symmetrie der Theilung des Ganzen
in zwei Hälften befriedigenden Cyclus von Tonſätzen darſtellt. Der erſte
Satz führt zum zweiten hinan oder kommt in ihm zur Ruhe, der erſte
findet im zweiten ſein Gegenbild, ſeinen Gegenſatz oder ſein poſitives Re-
ſultat, ſeinen Abſchluß, der zweite zieht wiederum in der einen oder in der
andern Weiſe einen dritten nach ſich u. ſ. w., bis im Schlußſatz Alles
kräftig austönt oder die Bewegung ruhig ſich abklärt; dieß iſt im Allge-
meinen der Typus dieſer höchſten Form cycliſcher Muſik, die größern lyriſchen
und dramatiſchen Vocalſtücken ſowie unter Inſtrumentalwerken namentlich
Sonaten und Symphonieen zu Grunde liegt. Die Formfreiheit der Muſik
iſt auch hier ſo groß, daß im Einzelnen die mannigfaltigſten Geſtaltungen
in Bezug auf Zahl, Länge, Conſtruction und gegenſeitiges Verhältniß der
Sätze möglich ſind. Doch laſſen ſich die weſentlichen Grundunterſchiede,
die hier möglich ſind, wohl von einander ſondern. Das Tonſtück iſt ent-
weder blos zweitheilig; die Bewegung iſt zuerſt ruhigere Stimmung oder
Empfindung (ſ. S. 953) in langſamerem Tempo, auf welche dann erregtere
Muſik folgt (wie in größern Arien ein Allegro auf ein Andante); oder iſt
der Gang der umgekehrte, wiewohl dieſes der ſeltenere Fall iſt, weil bei
langſamerem Tempo das Gefühl des Austönens, des zur vollen Ruhe Hin-
treibens der Bewegung weniger leicht entſteht; ruhige Stimmung braucht
langſames Tempo, aber der Prozeß der Beruhigung, des erſt zur Ruhe
Kommens erfordert in der Regel eine ſchnellere Bewegung, das langſamere
Tempo hält uns an einem Gedanken gleichſam in contemplativer Ruhe feſt,
das ſchnellere aber iſt geeignet uns fühlen zu laſſen, daß die Hauptſache
bereits geſagt iſt und Alles zum Abſchluſſe drängt. Oder iſt das Tonſtück
mehr als zweitheilig; dann iſt, obwohl auch hier von (längern) Adagio’s
oder Andantes zu Allegro’s und Preſto’s aufgeſtiegen werden kann, der
Gang naturgemäß in der Regel ein weniger einfacher: zuerſt „erregtere,“
uns gleich oder nach kurzer langſamer Einleitung in den lebendigen und
lebendigergreifenden Strom der Tonbewegung hineinverſetzende, dann ruhigere
„Stimmungs- oder Empfindungsmuſik,“ bei der das Gemüth ſich wieder
ſammelt und nun auch zartere, innigere, gerührtere Gefühle zum Worte
kommen können, hierauf Neuanheben der Erregung, neuer Aufſchwung des
lange genug im Schmelz der Empfindung, in der Stille der Contemplation,
im Ernſt der Trauer und dergleichen zurückgehaltenen Geiſtes zu belebterem,
muntererm, kräftigerm Einhergehen in einem oder in zwei Sätzen, womit
das Ganze naturgemäß ſich abſchließt, indem es ſo die Momente der Er-
hebung und Erregung, der Rückkehr aus ihr zur ſinnigen Ruhe des ſich
wieder ſammelnden Selbſtbewußtſeins, der neuen Aufraffung, des endlichen
raſchen Zumſchluſſebringens der ganzen Empfindungsbewegung, kurz den
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 963. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/201>, abgerufen am 12.12.2024.
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