Bei der der Musik vor allen andern Künsten eigenen Freiheit der Bewegung ist es nicht anders zu erwarten, als daß diese Form "der freien Gedankenentwicklung" auch vollends die im §. ihren Grundzügen nach auf- gestellte Gliederung, so wenig beengend sie an sich ist, aufgibt und sich zu absoluter Freiheit fortbewegt. Abgesehen von den Fällen, in welchen auf dem Gebiete der Vocalmusik, z. B. bei dem Recitativ und auch bei der Arie diese Freiheit durch den wiederzugebenden Inhalt veranlaßt, ebendamit aber durch diesen auch wieder bedingt und in Schranken gehalten ist, gehört hieher namentlich die freie "Phantasie" der Instrumentalmusik, sowie Instrumentalwerke, welche sich ihr mehr oder weniger annähern. Es ergibt sich jedoch von selbst, daß dieselbe nur eine Nebenform sein kann trotz des großartigen Gedanken- und Formenreichthums, den der Componist je nach seiner Individualität in sie zu legen vermag; sie ist eben eine "individuelle" Form, welche der musikalischen Stimmung und Laune, der musikalischen Bildungs- und Gestaltungslust freien Spielraum gewährt, aber neben den gesetzmäßig gegliederten Formen nur den Rang eines Neben- und Beiwerks, eines momentanen ungebundenen Spieles des musikalischen Genius behaupten kann, von welchem er selbst mit innerer Nothwendigkeit zu strengern Ge- dankenformen hin- oder zurückgetrieben wird.
§. 791.
b) Das aus mehrtheiligen Sätzenbestehende größere Ton- stück ist diejenige Form, in welcher sich (abgesehen von umfassenderen Ton- werken) die cyclische Musik vollendet. Es entsteht dadurch, daß die Composition sich ausbreitet zu einer kleinern oder größern Zahl selbständiger Sätze, die, nach Inhalt, Form, Bewegung, theilweise auch nach Tonarten verschieden, doch zu- gleich durch gemeinsame Charaktereigenthümlichkeit verbunden sind und ein innerhalb seiner selbst fortschreitendes, rhythmisch sich fortbewegendes Ganzes bilden.
Die Sätze werden abermals Theile; so entsteht "das Tonstück mit mehrern Sätzen" (§. 786), im Großen dasselbe was das dreitheilige Ton- stück (§. 787.) im Kleinen, und dieses selbst je nach Bedarf, z. B. als dreitheiliges melodisches Zwischenstück oder als Marsch, Tanz, Scherz, in sich aufnehmend, wie andrerseits auch polyphone Sätze, Variation, Rondo, besonders aber die im vorhergehenden §. behandelte Form (weil sie für freien Gedankenfortschritt die geeignetste ist) innerhalb seiner als Theile auf- treten können. Es wird hier gleich ein größeres Ganzes concipirt und auf eine Ausdehnung zu mehrern Sätzen berechnet, seien es nun 2 oder 3 oder darüber, obwohl für großartigere Orchestermusik die Vierzahl an sich die
Bei der der Muſik vor allen andern Künſten eigenen Freiheit der Bewegung iſt es nicht anders zu erwarten, als daß dieſe Form „der freien Gedankenentwicklung“ auch vollends die im §. ihren Grundzügen nach auf- geſtellte Gliederung, ſo wenig beengend ſie an ſich iſt, aufgibt und ſich zu abſoluter Freiheit fortbewegt. Abgeſehen von den Fällen, in welchen auf dem Gebiete der Vocalmuſik, z. B. bei dem Recitativ und auch bei der Arie dieſe Freiheit durch den wiederzugebenden Inhalt veranlaßt, ebendamit aber durch dieſen auch wieder bedingt und in Schranken gehalten iſt, gehört hieher namentlich die freie „Phantaſie“ der Inſtrumentalmuſik, ſowie Inſtrumentalwerke, welche ſich ihr mehr oder weniger annähern. Es ergibt ſich jedoch von ſelbſt, daß dieſelbe nur eine Nebenform ſein kann trotz des großartigen Gedanken- und Formenreichthums, den der Componiſt je nach ſeiner Individualität in ſie zu legen vermag; ſie iſt eben eine „individuelle“ Form, welche der muſikaliſchen Stimmung und Laune, der muſikaliſchen Bildungs- und Geſtaltungsluſt freien Spielraum gewährt, aber neben den geſetzmäßig gegliederten Formen nur den Rang eines Neben- und Beiwerks, eines momentanen ungebundenen Spieles des muſikaliſchen Genius behaupten kann, von welchem er ſelbſt mit innerer Nothwendigkeit zu ſtrengern Ge- dankenformen hin- oder zurückgetrieben wird.
§. 791.
β) Das aus mehrtheiligen Sätzenbeſtehende größere Ton- ſtück iſt diejenige Form, in welcher ſich (abgeſehen von umfaſſenderen Ton- werken) die cycliſche Muſik vollendet. Es entſteht dadurch, daß die Compoſition ſich ausbreitet zu einer kleinern oder größern Zahl ſelbſtändiger Sätze, die, nach Inhalt, Form, Bewegung, theilweiſe auch nach Tonarten verſchieden, doch zu- gleich durch gemeinſame Charaktereigenthümlichkeit verbunden ſind und ein innerhalb ſeiner ſelbſt fortſchreitendes, rhythmiſch ſich fortbewegendes Ganzes bilden.
Die Sätze werden abermals Theile; ſo entſteht „das Tonſtück mit mehrern Sätzen“ (§. 786), im Großen daſſelbe was das dreitheilige Ton- ſtück (§. 787.) im Kleinen, und dieſes ſelbſt je nach Bedarf, z. B. als dreitheiliges melodiſches Zwiſchenſtück oder als Marſch, Tanz, Scherz, in ſich aufnehmend, wie andrerſeits auch polyphone Sätze, Variation, Rondo, beſonders aber die im vorhergehenden §. behandelte Form (weil ſie für freien Gedankenfortſchritt die geeignetſte iſt) innerhalb ſeiner als Theile auf- treten können. Es wird hier gleich ein größeres Ganzes concipirt und auf eine Ausdehnung zu mehrern Sätzen berechnet, ſeien es nun 2 oder 3 oder darüber, obwohl für großartigere Orcheſtermuſik die Vierzahl an ſich die
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Bei der der Muſik vor allen andern Künſten eigenen Freiheit der
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Gedankenentwicklung“ auch vollends die im §. ihren Grundzügen nach auf-
geſtellte Gliederung, ſo wenig beengend ſie an ſich iſt, aufgibt und ſich
zu abſoluter Freiheit fortbewegt. Abgeſehen von den Fällen, in welchen
auf dem Gebiete der Vocalmuſik, z. B. bei dem Recitativ und auch bei der
Arie dieſe Freiheit durch den wiederzugebenden Inhalt veranlaßt, ebendamit
aber durch dieſen auch wieder bedingt und in Schranken gehalten iſt, gehört
hieher namentlich die freie „Phantaſie“ der Inſtrumentalmuſik, ſowie
Inſtrumentalwerke, welche ſich ihr mehr oder weniger annähern. Es ergibt
ſich jedoch von ſelbſt, daß dieſelbe nur eine Nebenform ſein kann trotz des
großartigen Gedanken- und Formenreichthums, den der Componiſt je nach
ſeiner Individualität in ſie zu legen vermag; ſie iſt eben eine „individuelle“
Form, welche der muſikaliſchen Stimmung und Laune, der muſikaliſchen
Bildungs- und Geſtaltungsluſt freien Spielraum gewährt, aber neben den
geſetzmäßig gegliederten Formen nur den Rang eines Neben- und Beiwerks,
eines momentanen ungebundenen Spieles des muſikaliſchen Genius behaupten
kann, von welchem er ſelbſt mit innerer Nothwendigkeit zu ſtrengern Ge-
dankenformen hin- oder zurückgetrieben wird.
§. 791.
β) Das aus mehrtheiligen Sätzenbeſtehende größere Ton-
ſtück iſt diejenige Form, in welcher ſich (abgeſehen von umfaſſenderen Ton-
werken) die cycliſche Muſik vollendet. Es entſteht dadurch, daß die Compoſition
ſich ausbreitet zu einer kleinern oder größern Zahl ſelbſtändiger Sätze, die, nach
Inhalt, Form, Bewegung, theilweiſe auch nach Tonarten verſchieden, doch zu-
gleich durch gemeinſame Charaktereigenthümlichkeit verbunden ſind und ein
innerhalb ſeiner ſelbſt fortſchreitendes, rhythmiſch ſich fortbewegendes Ganzes
bilden.
Die Sätze werden abermals Theile; ſo entſteht „das Tonſtück mit
mehrern Sätzen“ (§. 786), im Großen daſſelbe was das dreitheilige Ton-
ſtück (§. 787.) im Kleinen, und dieſes ſelbſt je nach Bedarf, z. B. als
dreitheiliges melodiſches Zwiſchenſtück oder als Marſch, Tanz, Scherz, in
ſich aufnehmend, wie andrerſeits auch polyphone Sätze, Variation, Rondo,
beſonders aber die im vorhergehenden §. behandelte Form (weil ſie für
freien Gedankenfortſchritt die geeignetſte iſt) innerhalb ſeiner als Theile auf-
treten können. Es wird hier gleich ein größeres Ganzes concipirt und auf
eine Ausdehnung zu mehrern Sätzen berechnet, ſeien es nun 2 oder 3 oder
darüber, obwohl für großartigere Orcheſtermuſik die Vierzahl an ſich die
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 962. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/200>, abgerufen am 04.12.2024.
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