alle diese contrastirende Mannigfaltigkeit streng gebunden an das Gesetz der Einheit der Hauptgedanken; es ist in ihr doch nur Alles Wiederholung, verschiedene Gegenüberstellung derselben Gedanken, und sie eignet sich daher doch blos zur Darstellung solcher Empfindungen und Erregungen, die an sich von der Art sind, daß diese stete Wiederholung, dieses stete Drehen und Wenden eines und desselben Inhalts, dieses Sichhineinarbeiten in ihn in der Natur der Sache liegt, also zur Darstellung von Empfindungen, die eine Masse beherrschen, in denen sich all ihr Fühlen concentrirt, von welchen sie nicht hinweg, welche sie vielmehr immer auf's Neue in stets gesteigerter und erhöhter Weise aussprechen will, oder ohne diese speziellere Beziehung auf bestimmte Empfindungen zu solchen Tonwerken (z. B. In- strumentalstücken), welche durch das beharrliche Festhalten und strenge Durch- arbeiten einheitlicher Grundgedanken den Eindruck des Gewichtigen, des Verzichts auf freiere und leichtere Beweglichkeit, des Ernsten und Feierlichen hervorbringen wollen. Auch in der Fuge, wie im Contrapunct, sind Ein- heit und Mannigfaltigkeit gegen einander gespannt; die erstere hält die letztere, welche die ihr gezogenen Schranken stets durchbrechen zu wollen scheint, mit eisernen Armen stets davon zurück, sie bändigt den selbständigen Flug der Stimmen, lenkt ihn immer wieder zurück in die alte, zu Anfang betretene Bahn; der "Führer" ist überall hinten und vorn und führt strengste Aufsicht, er erhebt seine Stimme stets auf's Neue, um das mächtig wogende Ganze in Ordnung zu halten, und doch ist die Selbständigkeit der einzelnen Glieder bereits so groß, daß sie die mannigfaltigsten und verwickeltsten Schwenkungen und Wendungen ausführen, wie wenn sie nirgends stille halten, sondern den um sie geschlossenen Zauberkreis bald hier bald dort sprengen möchten. Die Fuge ist so wohl die rechte Form für das ernst von einer großen Empfindung bewegte Gesammtgefühl, aber sie ist viel zu eng für den ganzen weiten Umkreis menschlicher Stimmungen und Erregungen; sobald sie munter oder gar lustig wird, merkt man ihr an, daß es ihr mit sich selbst nicht ernst, daß sie da ein bloßes Phantasiespiel ist; für das Heitere und Freudige hat sie, da sie ihre Sätze zum Behuf der Durchführ- barkeit durch alle Stimmen und Stimmencombinationen möglichst einfach einrichten muß, zu wenig melodischen Fluß, zu wenig Beweglichkeit und Ungebundenheit, sowie andrerseits auch viel zu wenig Natürlichkeit, Unbe- fangenheit und Formschönheit. Im Gegentheil, es ist in der Regel nichts abstracter, unliebsamer, einförmiger, ja oft weniger besagend, es ist nichts mehr erst durch die Ausführung interessant werdend als der Anfang einer Fuge mit der obligaten Einfachheit seines Thema's und der nicht minder obligaten, nur beweglichern und gegliedertern Unansehnlichkeit seines Gegen- satzes; ansprechend, direct gefällig ist die Fuge nie, sie hat Ernst, Gemessen- heit, Strenge, aber keine Milde und Weichheit. Ja selbst für das einfach
alle dieſe contraſtirende Mannigfaltigkeit ſtreng gebunden an das Geſetz der Einheit der Hauptgedanken; es iſt in ihr doch nur Alles Wiederholung, verſchiedene Gegenüberſtellung derſelben Gedanken, und ſie eignet ſich daher doch blos zur Darſtellung ſolcher Empfindungen und Erregungen, die an ſich von der Art ſind, daß dieſe ſtete Wiederholung, dieſes ſtete Drehen und Wenden eines und deſſelben Inhalts, dieſes Sichhineinarbeiten in ihn in der Natur der Sache liegt, alſo zur Darſtellung von Empfindungen, die eine Maſſe beherrſchen, in denen ſich all ihr Fühlen concentrirt, von welchen ſie nicht hinweg, welche ſie vielmehr immer auf’s Neue in ſtets geſteigerter und erhöhter Weiſe ausſprechen will, oder ohne dieſe ſpeziellere Beziehung auf beſtimmte Empfindungen zu ſolchen Tonwerken (z. B. In- ſtrumentalſtücken), welche durch das beharrliche Feſthalten und ſtrenge Durch- arbeiten einheitlicher Grundgedanken den Eindruck des Gewichtigen, des Verzichts auf freiere und leichtere Beweglichkeit, des Ernſten und Feierlichen hervorbringen wollen. Auch in der Fuge, wie im Contrapunct, ſind Ein- heit und Mannigfaltigkeit gegen einander geſpannt; die erſtere hält die letztere, welche die ihr gezogenen Schranken ſtets durchbrechen zu wollen ſcheint, mit eiſernen Armen ſtets davon zurück, ſie bändigt den ſelbſtändigen Flug der Stimmen, lenkt ihn immer wieder zurück in die alte, zu Anfang betretene Bahn; der „Führer“ iſt überall hinten und vorn und führt ſtrengſte Aufſicht, er erhebt ſeine Stimme ſtets auf’s Neue, um das mächtig wogende Ganze in Ordnung zu halten, und doch iſt die Selbſtändigkeit der einzelnen Glieder bereits ſo groß, daß ſie die mannigfaltigſten und verwickeltſten Schwenkungen und Wendungen ausführen, wie wenn ſie nirgends ſtille halten, ſondern den um ſie geſchloſſenen Zauberkreis bald hier bald dort ſprengen möchten. Die Fuge iſt ſo wohl die rechte Form für das ernſt von einer großen Empfindung bewegte Geſammtgefühl, aber ſie iſt viel zu eng für den ganzen weiten Umkreis menſchlicher Stimmungen und Erregungen; ſobald ſie munter oder gar luſtig wird, merkt man ihr an, daß es ihr mit ſich ſelbſt nicht ernſt, daß ſie da ein bloßes Phantaſieſpiel iſt; für das Heitere und Freudige hat ſie, da ſie ihre Sätze zum Behuf der Durchführ- barkeit durch alle Stimmen und Stimmencombinationen möglichſt einfach einrichten muß, zu wenig melodiſchen Fluß, zu wenig Beweglichkeit und Ungebundenheit, ſowie andrerſeits auch viel zu wenig Natürlichkeit, Unbe- fangenheit und Formſchönheit. Im Gegentheil, es iſt in der Regel nichts abſtracter, unliebſamer, einförmiger, ja oft weniger beſagend, es iſt nichts mehr erſt durch die Ausführung intereſſant werdend als der Anfang einer Fuge mit der obligaten Einfachheit ſeines Thema’s und der nicht minder obligaten, nur beweglichern und gegliedertern Unanſehnlichkeit ſeines Gegen- ſatzes; anſprechend, direct gefällig iſt die Fuge nie, ſie hat Ernſt, Gemeſſen- heit, Strenge, aber keine Milde und Weichheit. Ja ſelbſt für das einfach
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0185"n="947"/>
alle dieſe contraſtirende Mannigfaltigkeit ſtreng gebunden an das Geſetz der<lb/>
Einheit der Hauptgedanken; es iſt in ihr doch nur Alles Wiederholung,<lb/>
verſchiedene Gegenüberſtellung derſelben Gedanken, und ſie eignet ſich daher<lb/>
doch blos zur Darſtellung ſolcher Empfindungen und Erregungen, die an<lb/>ſich von der Art ſind, daß dieſe ſtete Wiederholung, dieſes ſtete Drehen<lb/>
und Wenden eines und deſſelben Inhalts, dieſes Sichhineinarbeiten in ihn<lb/>
in der Natur der Sache liegt, alſo zur Darſtellung von Empfindungen,<lb/>
die eine Maſſe beherrſchen, in denen ſich all ihr Fühlen concentrirt, von<lb/>
welchen ſie nicht hinweg, welche ſie vielmehr immer auf’s Neue in ſtets<lb/>
geſteigerter und erhöhter Weiſe ausſprechen will, oder ohne dieſe ſpeziellere<lb/>
Beziehung auf beſtimmte Empfindungen zu ſolchen Tonwerken (z. B. In-<lb/>ſtrumentalſtücken), welche durch das beharrliche Feſthalten und ſtrenge Durch-<lb/>
arbeiten einheitlicher Grundgedanken den Eindruck des Gewichtigen, des<lb/>
Verzichts auf freiere und leichtere Beweglichkeit, des Ernſten und Feierlichen<lb/>
hervorbringen wollen. Auch in der Fuge, wie im Contrapunct, ſind Ein-<lb/>
heit und Mannigfaltigkeit gegen einander geſpannt; die erſtere hält die<lb/>
letztere, welche die ihr gezogenen Schranken ſtets durchbrechen zu wollen<lb/>ſcheint, mit eiſernen Armen ſtets davon zurück, ſie bändigt den ſelbſtändigen<lb/>
Flug der Stimmen, lenkt ihn immer wieder zurück in die alte, zu Anfang<lb/>
betretene Bahn; der „Führer“ iſt überall hinten und vorn und führt ſtrengſte<lb/>
Aufſicht, er erhebt ſeine Stimme ſtets auf’s Neue, um das mächtig wogende<lb/>
Ganze in Ordnung zu halten, und doch iſt die Selbſtändigkeit der einzelnen<lb/>
Glieder bereits ſo groß, daß ſie die mannigfaltigſten und verwickeltſten<lb/>
Schwenkungen und Wendungen ausführen, wie wenn ſie nirgends ſtille<lb/>
halten, ſondern den um ſie geſchloſſenen Zauberkreis bald hier bald dort<lb/>ſprengen möchten. Die Fuge iſt ſo wohl die rechte Form für das ernſt von<lb/>
einer großen Empfindung bewegte Geſammtgefühl, aber ſie iſt viel zu eng<lb/>
für den ganzen weiten Umkreis menſchlicher Stimmungen und Erregungen;<lb/>ſobald ſie munter oder gar luſtig wird, merkt man ihr an, daß es ihr mit<lb/>ſich ſelbſt nicht ernſt, daß ſie da ein bloßes Phantaſieſpiel iſt; für das<lb/>
Heitere und Freudige hat ſie, da ſie ihre Sätze zum Behuf der Durchführ-<lb/>
barkeit durch alle Stimmen und Stimmencombinationen möglichſt einfach<lb/>
einrichten muß, zu wenig melodiſchen Fluß, zu wenig Beweglichkeit und<lb/>
Ungebundenheit, ſowie andrerſeits auch viel zu wenig Natürlichkeit, Unbe-<lb/>
fangenheit und Formſchönheit. Im Gegentheil, es iſt in der Regel nichts<lb/>
abſtracter, unliebſamer, einförmiger, ja oft weniger beſagend, es iſt nichts<lb/>
mehr erſt durch die Ausführung intereſſant werdend als der Anfang einer<lb/>
Fuge mit der obligaten Einfachheit ſeines Thema’s und der nicht minder<lb/>
obligaten, nur beweglichern und gegliedertern Unanſehnlichkeit ſeines Gegen-<lb/>ſatzes; anſprechend, direct gefällig iſt die Fuge nie, ſie hat Ernſt, Gemeſſen-<lb/>
heit, Strenge, aber keine Milde und Weichheit. Ja ſelbſt für das <hirendition="#g">einfach</hi><lb/></hi></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[947/0185]
alle dieſe contraſtirende Mannigfaltigkeit ſtreng gebunden an das Geſetz der
Einheit der Hauptgedanken; es iſt in ihr doch nur Alles Wiederholung,
verſchiedene Gegenüberſtellung derſelben Gedanken, und ſie eignet ſich daher
doch blos zur Darſtellung ſolcher Empfindungen und Erregungen, die an
ſich von der Art ſind, daß dieſe ſtete Wiederholung, dieſes ſtete Drehen
und Wenden eines und deſſelben Inhalts, dieſes Sichhineinarbeiten in ihn
in der Natur der Sache liegt, alſo zur Darſtellung von Empfindungen,
die eine Maſſe beherrſchen, in denen ſich all ihr Fühlen concentrirt, von
welchen ſie nicht hinweg, welche ſie vielmehr immer auf’s Neue in ſtets
geſteigerter und erhöhter Weiſe ausſprechen will, oder ohne dieſe ſpeziellere
Beziehung auf beſtimmte Empfindungen zu ſolchen Tonwerken (z. B. In-
ſtrumentalſtücken), welche durch das beharrliche Feſthalten und ſtrenge Durch-
arbeiten einheitlicher Grundgedanken den Eindruck des Gewichtigen, des
Verzichts auf freiere und leichtere Beweglichkeit, des Ernſten und Feierlichen
hervorbringen wollen. Auch in der Fuge, wie im Contrapunct, ſind Ein-
heit und Mannigfaltigkeit gegen einander geſpannt; die erſtere hält die
letztere, welche die ihr gezogenen Schranken ſtets durchbrechen zu wollen
ſcheint, mit eiſernen Armen ſtets davon zurück, ſie bändigt den ſelbſtändigen
Flug der Stimmen, lenkt ihn immer wieder zurück in die alte, zu Anfang
betretene Bahn; der „Führer“ iſt überall hinten und vorn und führt ſtrengſte
Aufſicht, er erhebt ſeine Stimme ſtets auf’s Neue, um das mächtig wogende
Ganze in Ordnung zu halten, und doch iſt die Selbſtändigkeit der einzelnen
Glieder bereits ſo groß, daß ſie die mannigfaltigſten und verwickeltſten
Schwenkungen und Wendungen ausführen, wie wenn ſie nirgends ſtille
halten, ſondern den um ſie geſchloſſenen Zauberkreis bald hier bald dort
ſprengen möchten. Die Fuge iſt ſo wohl die rechte Form für das ernſt von
einer großen Empfindung bewegte Geſammtgefühl, aber ſie iſt viel zu eng
für den ganzen weiten Umkreis menſchlicher Stimmungen und Erregungen;
ſobald ſie munter oder gar luſtig wird, merkt man ihr an, daß es ihr mit
ſich ſelbſt nicht ernſt, daß ſie da ein bloßes Phantaſieſpiel iſt; für das
Heitere und Freudige hat ſie, da ſie ihre Sätze zum Behuf der Durchführ-
barkeit durch alle Stimmen und Stimmencombinationen möglichſt einfach
einrichten muß, zu wenig melodiſchen Fluß, zu wenig Beweglichkeit und
Ungebundenheit, ſowie andrerſeits auch viel zu wenig Natürlichkeit, Unbe-
fangenheit und Formſchönheit. Im Gegentheil, es iſt in der Regel nichts
abſtracter, unliebſamer, einförmiger, ja oft weniger beſagend, es iſt nichts
mehr erſt durch die Ausführung intereſſant werdend als der Anfang einer
Fuge mit der obligaten Einfachheit ſeines Thema’s und der nicht minder
obligaten, nur beweglichern und gegliedertern Unanſehnlichkeit ſeines Gegen-
ſatzes; anſprechend, direct gefällig iſt die Fuge nie, ſie hat Ernſt, Gemeſſen-
heit, Strenge, aber keine Milde und Weichheit. Ja ſelbſt für das einfach
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 947. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/185>, abgerufen am 12.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.