ihr aus. Sie hat nicht blos die Eigenthümlichkeit, daß sich in ihr alles auf den Grundton bezieht und so ihr Gang einleuchtende Klarheit, moti- virten Fortschritt, natürliche Gesetzmäßigkeit und befriedigende Einheit erhält; sondern sie hat auch einen Charakter, eine Bedeutung, einen bestimmten Ausdruck; sie stellt eine bestimmte Art der Bewegung dar, nämlich die geradlinige Bewegung zwischen zwei Puncten (Prim und Octav), oder wenn sie auf- und abwärts genommen wird, die in gerader Linie auf- und absteigende, in gerader Linie aus sich heraus und in sich wieder zurück- gehende, kurz eine bestimmte Art von Bewegung, die nicht nur andern gegenüber ihre charakteristische Eigenthümlichkeit, sondern auch innerhalb der verschiedenen Bewegungsarten eine gewisse besondere Bedeutung und Be- deutsamkeit hat; die geradlinige Bewegung repräsentirt ja einen einfachen regelrechten Fortgang nach oben, welcher so gut als weniger einfache in der Musik vorkommen darf und muß, indem er z. B. der ganz treffende Aus- druck leichten oder entschiedenen Vorwärtsgehens (wie im Schlußchor des ersten Donjuanfinales), einfacher, ungehemmter Erhebung u. s. w. ist, wie auf der andern Seite die unmittelbar wieder in sich zurückgehende Bewegung der auf- und abwärts genommenen Scala eine einfache, gleichförmige, in sich kreisende Aufeinanderfolge identischer Hebung und Senkung darstellt, die gleichfalls eine berechtigte, in ihrer Art zu treffendem Ausdruck geeignete Bewegungsform ist. Ganz ebenso verhält es sich mit der musikalischen Form überhaupt. Ein Tongebilde, eine Melodie muß auch durch die Art und Weise ihrer Hebungen, Senkungen, Windungen, Schritte, Sprünge eine eigenthümlich charakteristische und bedeutsame, irgendwie interessante Bewe- gungsart darstellen, wie in der bildenden Kunst jeder Umriß Charakter und Bedeutung haben soll; ein Tongebilde entsteht sozusagen damit, daß aus den unendlich vielen an sich möglichen Zusammen- und Umstellungen der Töne eine einzige herausgegriffen wird, die so bestimmt ist in ihrer Art und Weise, daß wir in ihr sogleich einen eigenthümlichen Modus von Toncombination, einen eigenen etwas Bestimmtes ausdrückenden, einer bestimmten Bewegung der Empfindung, des Affects, des Willens u. s. w. (ähnlich wie vorhin die Scala) entsprechenden Bewegungsmodus, einen charakteristischen, etwas sagenden Verlauf erkennen, wozu natürlich die Rhythmik auch wiederum wesentlich mitwirken muß. An dieses letztere Moment schließt sich sodann 3) noch eine weitere Eigenthümlichkeit an; es ist nämlich in der hinaufsteigenden Scalenbewegung auch ein Rhythmus (im höhern Sinn des Worts §. 500), ein Bewegungsrhythmus, ein Aufschwung, ein Zug nach oben, der mit dem Uebergang von der Septime zur Octav wieder in Ruhe übergeht, und noch mehr ist dieser Rhythmus in der auf- und absteigenden Scala, indem hier dem Ansteigen die Senkung, der abwärtstreibende Zug nach unten folgt, welcher gleich-
Vischer's Aesthetik. 4. Band. 60
ihr aus. Sie hat nicht blos die Eigenthümlichkeit, daß ſich in ihr alles auf den Grundton bezieht und ſo ihr Gang einleuchtende Klarheit, moti- virten Fortſchritt, natürliche Geſetzmäßigkeit und befriedigende Einheit erhält; ſondern ſie hat auch einen Charakter, eine Bedeutung, einen beſtimmten Ausdruck; ſie ſtellt eine beſtimmte Art der Bewegung dar, nämlich die geradlinige Bewegung zwiſchen zwei Puncten (Prim und Octav), oder wenn ſie auf- und abwärts genommen wird, die in gerader Linie auf- und abſteigende, in gerader Linie aus ſich heraus und in ſich wieder zurück- gehende, kurz eine beſtimmte Art von Bewegung, die nicht nur andern gegenüber ihre charakteriſtiſche Eigenthümlichkeit, ſondern auch innerhalb der verſchiedenen Bewegungsarten eine gewiſſe beſondere Bedeutung und Be- deutſamkeit hat; die geradlinige Bewegung repräſentirt ja einen einfachen regelrechten Fortgang nach oben, welcher ſo gut als weniger einfache in der Muſik vorkommen darf und muß, indem er z. B. der ganz treffende Aus- druck leichten oder entſchiedenen Vorwärtsgehens (wie im Schlußchor des erſten Donjuanfinales), einfacher, ungehemmter Erhebung u. ſ. w. iſt, wie auf der andern Seite die unmittelbar wieder in ſich zurückgehende Bewegung der auf- und abwärts genommenen Scala eine einfache, gleichförmige, in ſich kreiſende Aufeinanderfolge identiſcher Hebung und Senkung darſtellt, die gleichfalls eine berechtigte, in ihrer Art zu treffendem Ausdruck geeignete Bewegungsform iſt. Ganz ebenſo verhält es ſich mit der muſikaliſchen Form überhaupt. Ein Tongebilde, eine Melodie muß auch durch die Art und Weiſe ihrer Hebungen, Senkungen, Windungen, Schritte, Sprünge eine eigenthümlich charakteriſtiſche und bedeutſame, irgendwie intereſſante Bewe- gungsart darſtellen, wie in der bildenden Kunſt jeder Umriß Charakter und Bedeutung haben ſoll; ein Tongebilde entſteht ſozuſagen damit, daß aus den unendlich vielen an ſich möglichen Zuſammen- und Umſtellungen der Töne eine einzige herausgegriffen wird, die ſo beſtimmt iſt in ihrer Art und Weiſe, daß wir in ihr ſogleich einen eigenthümlichen Modus von Toncombination, einen eigenen etwas Beſtimmtes ausdrückenden, einer beſtimmten Bewegung der Empfindung, des Affects, des Willens u. ſ. w. (ähnlich wie vorhin die Scala) entſprechenden Bewegungsmodus, einen charakteriſtiſchen, etwas ſagenden Verlauf erkennen, wozu natürlich die Rhythmik auch wiederum weſentlich mitwirken muß. An dieſes letztere Moment ſchließt ſich ſodann 3) noch eine weitere Eigenthümlichkeit an; es iſt nämlich in der hinaufſteigenden Scalenbewegung auch ein Rhythmus (im höhern Sinn des Worts §. 500), ein Bewegungsrhythmus, ein Aufſchwung, ein Zug nach oben, der mit dem Uebergang von der Septime zur Octav wieder in Ruhe übergeht, und noch mehr iſt dieſer Rhythmus in der auf- und abſteigenden Scala, indem hier dem Anſteigen die Senkung, der abwärtstreibende Zug nach unten folgt, welcher gleich-
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 60
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ihr aus. Sie hat nicht blos die Eigenthümlichkeit, daß ſich in ihr alles
auf den Grundton bezieht und ſo ihr Gang einleuchtende Klarheit, moti-
virten Fortſchritt, natürliche Geſetzmäßigkeit und befriedigende Einheit erhält;
ſondern ſie hat auch einen Charakter, eine Bedeutung, einen beſtimmten
Ausdruck; ſie ſtellt eine beſtimmte Art der Bewegung dar, nämlich die
geradlinige Bewegung zwiſchen zwei Puncten (Prim und Octav), oder
wenn ſie auf- und abwärts genommen wird, die in gerader Linie auf- und
abſteigende, in gerader Linie aus ſich heraus und in ſich wieder zurück-
gehende, kurz eine beſtimmte Art von Bewegung, die nicht nur andern
gegenüber ihre charakteriſtiſche Eigenthümlichkeit, ſondern auch innerhalb der
verſchiedenen Bewegungsarten eine gewiſſe beſondere Bedeutung und Be-
deutſamkeit hat; die geradlinige Bewegung repräſentirt ja einen einfachen
regelrechten Fortgang nach oben, welcher ſo gut als weniger einfache in der
Muſik vorkommen darf und muß, indem er z. B. der ganz treffende Aus-
druck leichten oder entſchiedenen Vorwärtsgehens (wie im Schlußchor des
erſten Donjuanfinales), einfacher, ungehemmter Erhebung u. ſ. w. iſt, wie
auf der andern Seite die unmittelbar wieder in ſich zurückgehende Bewegung
der auf- und abwärts genommenen Scala eine einfache, gleichförmige, in
ſich kreiſende Aufeinanderfolge identiſcher Hebung und Senkung darſtellt,
die gleichfalls eine berechtigte, in ihrer Art zu treffendem Ausdruck geeignete
Bewegungsform iſt. Ganz ebenſo verhält es ſich mit der muſikaliſchen Form
überhaupt. Ein Tongebilde, eine Melodie muß auch durch die Art und
Weiſe ihrer Hebungen, Senkungen, Windungen, Schritte, Sprünge eine
eigenthümlich charakteriſtiſche und bedeutſame, irgendwie intereſſante Bewe-
gungsart darſtellen, wie in der bildenden Kunſt jeder Umriß Charakter und
Bedeutung haben ſoll; ein Tongebilde entſteht ſozuſagen damit, daß aus
den unendlich vielen an ſich möglichen Zuſammen- und Umſtellungen der
Töne eine einzige herausgegriffen wird, die ſo beſtimmt iſt in ihrer Art
und Weiſe, daß wir in ihr ſogleich einen eigenthümlichen Modus von
Toncombination, einen eigenen etwas Beſtimmtes ausdrückenden, einer
beſtimmten Bewegung der Empfindung, des Affects, des Willens u. ſ. w.
(ähnlich wie vorhin die Scala) entſprechenden Bewegungsmodus, einen
charakteriſtiſchen, etwas ſagenden Verlauf erkennen, wozu natürlich die
Rhythmik auch wiederum weſentlich mitwirken muß. An dieſes letztere
Moment ſchließt ſich ſodann 3) noch eine weitere Eigenthümlichkeit an; es
iſt nämlich in der hinaufſteigenden Scalenbewegung auch ein Rhythmus
(im höhern Sinn des Worts §. 500), ein Bewegungsrhythmus,
ein Aufſchwung, ein Zug nach oben, der mit dem Uebergang von der
Septime zur Octav wieder in Ruhe übergeht, und noch mehr iſt dieſer
Rhythmus in der auf- und abſteigenden Scala, indem hier dem Anſteigen
die Senkung, der abwärtstreibende Zug nach unten folgt, welcher gleich-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 919. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/157>, abgerufen am 26.11.2024.
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