Gemachten, sondern auch den des Natürlichen hervorbringe, so gut wie irgend ein Naturschönes oder ein dem Naturschönen analog gebildetes Werk anderer Künste; auch das musikalische Kunstwerk muß objectiv, muß Geistiges in Naturform sein. Dieses nun erreicht die Musik, abgesehen von den einzelnen Ausnahmen, in welchen ein bestimmter Ausdruck durch bloße Accordfolgen erreicht oder der Ton zu blos rhythmischen Wirkungen ver- wendet wird, durch Melodie; Melodie ist nicht eine spezielle Form inner- halb der Musik neben andern Formen, sondern sie ist die allerdings durch Rhythmus und Harmonie bedingte und unterstützte wesentliche Form, mit welcher die Musik selbst erst entsteht, sie ist die Form des musikalischen Kunstwerks, wie Gestaltenbildung die des plastischen; alles Andere ist nur Stoff, Element, Mittel, Material, erst mit der Melodie kommt auch ein Werk, eine Gestalt, ein Kunstgebilde hervor, das den Stoff belebt und in- dividualisirt; Lehre von der Form des musikalischen Kunstwerks und Melodik sind identisch, nur mit Ausnahme davon, daß jene auch die begleitenden, zur Melodie hinzutretenden Momente der Harmonie in ihrer Bedeutung für die Melodie selbst und die Musik überhaupt zu erkennen hat. Analysiren wir die Genesis des musikalischen Kunstwerks, so wird sich dieß ganz von selbst herausstellen. I. Die formlose Masse von Tönen erhält Form einmal dadurch, daß aus der unbestimmten Menge von Tönen ein begrenztes Quantum sich folgender, möglicherweise jedoch identischer, sich nur wieder- holender Töne (für sich oder mit Begleitung) gleichsam herausgehoben wird. Damit wäre aber erst ein Nach- und Nebeneinander von Tönen gegeben ohne Einheit, Ordnung und Gleichförmigkeit der Bewegung; dieses zweite Moment kommt hinzu durch Rhythmus, Takt und Tempo. Bliebe es nun hiebei, so hätten wir nur eine rhythmisirte Tonfolge, an der nichts Bestimmtes und Charakteristisches wäre als der Rhythmus selbst, der doch für die Musik nur Element, nicht das Ganze ist; es muß also, damit sie wirklich musikalisch sei, noch ein weiteres Qualitatives hinzukommen, d. h. es muß auch die Tonfolge selbst, abgesehen vom Rhythmus, Mannigfaltig- keit, Bestimmtheit, Charakter, Einheit an sich haben. II. Dieses Qualitative entsteht zuerst damit, daß die Tonreihe eine Folge von Tönen ver- schiedener Höhe und Tiefe, ein Auf- und Absteigen auf Tönen und Intervallen der Scala ist; schon die Scala selbst, rhythmisch gespielt, ist eine musikalische Tonfolge, eine in ihrer Art bereits befriedigende Formirung des formlosen Tonmaterials. Bleiben wir zunächst bei der Scala stehen (um uns die Melodie Schritt vor Schritt entstehen zu lassen und dadurch ihr so schwer begrifflich zu erfassendes Wesen uns zu anschaulichem Ver- ständniß zu erheben), so thut sich hier sogleich ein Unterschied hervor zwischen der Bewegung auf der Scala selbst und der Bewegung blos auf ihren Hauptintervallen (Terz, Quint u. s. f.). Die erstere gibt ein Ganzes, ein
Gemachten, ſondern auch den des Natürlichen hervorbringe, ſo gut wie irgend ein Naturſchönes oder ein dem Naturſchönen analog gebildetes Werk anderer Künſte; auch das muſikaliſche Kunſtwerk muß objectiv, muß Geiſtiges in Naturform ſein. Dieſes nun erreicht die Muſik, abgeſehen von den einzelnen Ausnahmen, in welchen ein beſtimmter Ausdruck durch bloße Accordfolgen erreicht oder der Ton zu blos rhythmiſchen Wirkungen ver- wendet wird, durch Melodie; Melodie iſt nicht eine ſpezielle Form inner- halb der Muſik neben andern Formen, ſondern ſie iſt die allerdings durch Rhythmus und Harmonie bedingte und unterſtützte weſentliche Form, mit welcher die Muſik ſelbſt erſt entſteht, ſie iſt die Form des muſikaliſchen Kunſtwerks, wie Geſtaltenbildung die des plaſtiſchen; alles Andere iſt nur Stoff, Element, Mittel, Material, erſt mit der Melodie kommt auch ein Werk, eine Geſtalt, ein Kunſtgebilde hervor, das den Stoff belebt und in- dividualiſirt; Lehre von der Form des muſikaliſchen Kunſtwerks und Melodik ſind identiſch, nur mit Ausnahme davon, daß jene auch die begleitenden, zur Melodie hinzutretenden Momente der Harmonie in ihrer Bedeutung für die Melodie ſelbſt und die Muſik überhaupt zu erkennen hat. Analyſiren wir die Geneſis des muſikaliſchen Kunſtwerks, ſo wird ſich dieß ganz von ſelbſt herausſtellen. I. Die formloſe Maſſe von Tönen erhält Form einmal dadurch, daß aus der unbeſtimmten Menge von Tönen ein begrenztes Quantum ſich folgender, möglicherweiſe jedoch identiſcher, ſich nur wieder- holender Töne (für ſich oder mit Begleitung) gleichſam herausgehoben wird. Damit wäre aber erſt ein Nach- und Nebeneinander von Tönen gegeben ohne Einheit, Ordnung und Gleichförmigkeit der Bewegung; dieſes zweite Moment kommt hinzu durch Rhythmus, Takt und Tempo. Bliebe es nun hiebei, ſo hätten wir nur eine rhythmiſirte Tonfolge, an der nichts Beſtimmtes und Charakteriſtiſches wäre als der Rhythmus ſelbſt, der doch für die Muſik nur Element, nicht das Ganze iſt; es muß alſo, damit ſie wirklich muſikaliſch ſei, noch ein weiteres Qualitatives hinzukommen, d. h. es muß auch die Tonfolge ſelbſt, abgeſehen vom Rhythmus, Mannigfaltig- keit, Beſtimmtheit, Charakter, Einheit an ſich haben. II. Dieſes Qualitative entſteht zuerſt damit, daß die Tonreihe eine Folge von Tönen ver- ſchiedener Höhe und Tiefe, ein Auf- und Abſteigen auf Tönen und Intervallen der Scala iſt; ſchon die Scala ſelbſt, rhythmiſch geſpielt, iſt eine muſikaliſche Tonfolge, eine in ihrer Art bereits befriedigende Formirung des formloſen Tonmaterials. Bleiben wir zunächſt bei der Scala ſtehen (um uns die Melodie Schritt vor Schritt entſtehen zu laſſen und dadurch ihr ſo ſchwer begrifflich zu erfaſſendes Weſen uns zu anſchaulichem Ver- ſtändniß zu erheben), ſo thut ſich hier ſogleich ein Unterſchied hervor zwiſchen der Bewegung auf der Scala ſelbſt und der Bewegung blos auf ihren Hauptintervallen (Terz, Quint u. ſ. f.). Die erſtere gibt ein Ganzes, ein
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[915/0153]
Gemachten, ſondern auch den des Natürlichen hervorbringe, ſo gut wie
irgend ein Naturſchönes oder ein dem Naturſchönen analog gebildetes Werk
anderer Künſte; auch das muſikaliſche Kunſtwerk muß objectiv, muß Geiſtiges
in Naturform ſein. Dieſes nun erreicht die Muſik, abgeſehen von den
einzelnen Ausnahmen, in welchen ein beſtimmter Ausdruck durch bloße
Accordfolgen erreicht oder der Ton zu blos rhythmiſchen Wirkungen ver-
wendet wird, durch Melodie; Melodie iſt nicht eine ſpezielle Form inner-
halb der Muſik neben andern Formen, ſondern ſie iſt die allerdings durch
Rhythmus und Harmonie bedingte und unterſtützte weſentliche Form, mit
welcher die Muſik ſelbſt erſt entſteht, ſie iſt die Form des muſikaliſchen
Kunſtwerks, wie Geſtaltenbildung die des plaſtiſchen; alles Andere iſt nur
Stoff, Element, Mittel, Material, erſt mit der Melodie kommt auch ein
Werk, eine Geſtalt, ein Kunſtgebilde hervor, das den Stoff belebt und in-
dividualiſirt; Lehre von der Form des muſikaliſchen Kunſtwerks und Melodik
ſind identiſch, nur mit Ausnahme davon, daß jene auch die begleitenden,
zur Melodie hinzutretenden Momente der Harmonie in ihrer Bedeutung
für die Melodie ſelbſt und die Muſik überhaupt zu erkennen hat. Analyſiren
wir die Geneſis des muſikaliſchen Kunſtwerks, ſo wird ſich dieß ganz von
ſelbſt herausſtellen. I. Die formloſe Maſſe von Tönen erhält Form einmal
dadurch, daß aus der unbeſtimmten Menge von Tönen ein begrenztes
Quantum ſich folgender, möglicherweiſe jedoch identiſcher, ſich nur wieder-
holender Töne (für ſich oder mit Begleitung) gleichſam herausgehoben wird.
Damit wäre aber erſt ein Nach- und Nebeneinander von Tönen gegeben
ohne Einheit, Ordnung und Gleichförmigkeit der Bewegung; dieſes zweite
Moment kommt hinzu durch Rhythmus, Takt und Tempo. Bliebe es
nun hiebei, ſo hätten wir nur eine rhythmiſirte Tonfolge, an der nichts
Beſtimmtes und Charakteriſtiſches wäre als der Rhythmus ſelbſt, der doch
für die Muſik nur Element, nicht das Ganze iſt; es muß alſo, damit ſie
wirklich muſikaliſch ſei, noch ein weiteres Qualitatives hinzukommen, d. h.
es muß auch die Tonfolge ſelbſt, abgeſehen vom Rhythmus, Mannigfaltig-
keit, Beſtimmtheit, Charakter, Einheit an ſich haben. II. Dieſes Qualitative
entſteht zuerſt damit, daß die Tonreihe eine Folge von Tönen ver-
ſchiedener Höhe und Tiefe, ein Auf- und Abſteigen auf Tönen und
Intervallen der Scala iſt; ſchon die Scala ſelbſt, rhythmiſch geſpielt, iſt
eine muſikaliſche Tonfolge, eine in ihrer Art bereits befriedigende Formirung
des formloſen Tonmaterials. Bleiben wir zunächſt bei der Scala ſtehen
(um uns die Melodie Schritt vor Schritt entſtehen zu laſſen und dadurch
ihr ſo ſchwer begrifflich zu erfaſſendes Weſen uns zu anſchaulichem Ver-
ſtändniß zu erheben), ſo thut ſich hier ſogleich ein Unterſchied hervor zwiſchen
der Bewegung auf der Scala ſelbſt und der Bewegung blos auf ihren
Hauptintervallen (Terz, Quint u. ſ. f.). Die erſtere gibt ein Ganzes, ein
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 915. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/153>, abgerufen am 25.11.2024.
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