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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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quantitative Dynamische muß dem qualitativen untergeordnet bleiben, und
nur wahrhaft künstlerischer Geist und Sinn ist im Stande, die dynamischen
Mittel in der Art handzuhaben und sie mit den innerlichen Mitteln des
Ausdrucks so zu verschmelzen, daß alle Ausartung der Musik in groben
Materialismus der Schallwirkung ferne gehalten wird.

Die Betrachtung der musikalischen Gestaltung des Tonmaterials und
der mit derselben sich ergebenden Mittel musikalischer Wirkung ist hiemit
abgeschlossen; wir gehen nun über zum Wesen und zur Entstehung
des musikalischen Kunstwerks selbst.

§. 779.

1.

Das musikalische Kunstwerk entsteht dadurch, daß die Phantasie
eine kürzere oder längere, einfachere oder zusammengesetztere Tonreihe schafft,
welche sich durch die Art und Weise ihrer Bewegung auf Tönen und Inter-
vallen der Scala, ihres Tempo, ihres Rhythmus, sowie auch ihrer Begleitung
als eine Tonfolge von natürlichem, unmittelbar einleuchtendem Fortgange, von
klarem, sich in sich selbst abschließendem Verlaufe, von bestimmtem Charakter
und Ausdruck zu vernehmen gibt; alle Musik ist rhythmisirte, charakteristisch
2.geformte Tonfolge, oder Melodie. Nur ist sogleich als wesentlich zu beachten
der Unterschied zwischen Melodie im engern und weitern Sinn; Melodie
im engern Sinn ist eine Tonfolge, die mit selbständiger, charakteristischer, in
sich abgeschlossener Bedeutung und ebendamit auch dann verständlich und an-
sprechend auftritt, wenn sie außerhalb des Zusammenhangs mit einem größern
Ganzen und ohne Begleitung gehört wird; Melodie im weitern Sinn oder blos
melodiöser Tongang dagegen eine solche, die nur innerhalb eines größern Zu-
sammenhangs oder mit Begleitung klar und schön ist, weil ihr für sich etwas
zum Charakteristischen, Bedeutenden, in sich Vollendeten fehlt.

1. Die musikalische Composition unterscheidet sich von jeder andern
(die architectonische Ornamentik ausgenommen) durch ihre ganz absolut
scheinende Freiheit; sie hat ein bewegliches, der mannigfachsten Combinationen
fähiges Material, sie ist nicht an gegebene spezifische Formen der natürlichen
Existenz oder des (sprachlichen) Ausdrucks gebunden, wie Plastik, Malerei
und Poesie, sie scheint sich das Alles selbst hervorbringen zu können, und
kann es auch bis zu einem gewissen Grad, selbst Rhythmus und Harmonie
lassen ihr die größte Freiheit der Auswahl und Abwechslung. Aber diese
ihre Freiheit ist auch wiederum ein erschwerendes Moment; sie stellt ihr die
Aufgabe, aus dem Formlosen, Unbestimmten, absolut Freien etwas zu
schaffen, das Gestalt, bestimmten Sinn, spezifische Bedeutung habe (ein
Tonbild), ja sogar etwas, das nicht den Eindruck des frei, willkürlich

quantitative Dynamiſche muß dem qualitativen untergeordnet bleiben, und
nur wahrhaft künſtleriſcher Geiſt und Sinn iſt im Stande, die dynamiſchen
Mittel in der Art handzuhaben und ſie mit den innerlichen Mitteln des
Ausdrucks ſo zu verſchmelzen, daß alle Ausartung der Muſik in groben
Materialismus der Schallwirkung ferne gehalten wird.

Die Betrachtung der muſikaliſchen Geſtaltung des Tonmaterials und
der mit derſelben ſich ergebenden Mittel muſikaliſcher Wirkung iſt hiemit
abgeſchloſſen; wir gehen nun über zum Weſen und zur Entſtehung
des muſikaliſchen Kunſtwerks ſelbſt.

§. 779.

1.

Das muſikaliſche Kunſtwerk entſteht dadurch, daß die Phantaſie
eine kürzere oder längere, einfachere oder zuſammengeſetztere Tonreihe ſchafft,
welche ſich durch die Art und Weiſe ihrer Bewegung auf Tönen und Inter-
vallen der Scala, ihres Tempo, ihres Rhythmus, ſowie auch ihrer Begleitung
als eine Tonfolge von natürlichem, unmittelbar einleuchtendem Fortgange, von
klarem, ſich in ſich ſelbſt abſchließendem Verlaufe, von beſtimmtem Charakter
und Ausdruck zu vernehmen gibt; alle Muſik iſt rhythmiſirte, charakteriſtiſch
2.geformte Tonfolge, oder Melodie. Nur iſt ſogleich als weſentlich zu beachten
der Unterſchied zwiſchen Melodie im engern und weitern Sinn; Melodie
im engern Sinn iſt eine Tonfolge, die mit ſelbſtändiger, charakteriſtiſcher, in
ſich abgeſchloſſener Bedeutung und ebendamit auch dann verſtändlich und an-
ſprechend auftritt, wenn ſie außerhalb des Zuſammenhangs mit einem größern
Ganzen und ohne Begleitung gehört wird; Melodie im weitern Sinn oder blos
melodiöſer Tongang dagegen eine ſolche, die nur innerhalb eines größern Zu-
ſammenhangs oder mit Begleitung klar und ſchön iſt, weil ihr für ſich etwas
zum Charakteriſtiſchen, Bedeutenden, in ſich Vollendeten fehlt.

1. Die muſikaliſche Compoſition unterſcheidet ſich von jeder andern
(die architectoniſche Ornamentik ausgenommen) durch ihre ganz abſolut
ſcheinende Freiheit; ſie hat ein bewegliches, der mannigfachſten Combinationen
fähiges Material, ſie iſt nicht an gegebene ſpezifiſche Formen der natürlichen
Exiſtenz oder des (ſprachlichen) Ausdrucks gebunden, wie Plaſtik, Malerei
und Poeſie, ſie ſcheint ſich das Alles ſelbſt hervorbringen zu können, und
kann es auch bis zu einem gewiſſen Grad, ſelbſt Rhythmus und Harmonie
laſſen ihr die größte Freiheit der Auswahl und Abwechslung. Aber dieſe
ihre Freiheit iſt auch wiederum ein erſchwerendes Moment; ſie ſtellt ihr die
Aufgabe, aus dem Formloſen, Unbeſtimmten, abſolut Freien etwas zu
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Tonbild), ja ſogar etwas, das nicht den Eindruck des frei, willkürlich

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[914/0152] quantitative Dynamiſche muß dem qualitativen untergeordnet bleiben, und nur wahrhaft künſtleriſcher Geiſt und Sinn iſt im Stande, die dynamiſchen Mittel in der Art handzuhaben und ſie mit den innerlichen Mitteln des Ausdrucks ſo zu verſchmelzen, daß alle Ausartung der Muſik in groben Materialismus der Schallwirkung ferne gehalten wird. Die Betrachtung der muſikaliſchen Geſtaltung des Tonmaterials und der mit derſelben ſich ergebenden Mittel muſikaliſcher Wirkung iſt hiemit abgeſchloſſen; wir gehen nun über zum Weſen und zur Entſtehung des muſikaliſchen Kunſtwerks ſelbſt. §. 779. Das muſikaliſche Kunſtwerk entſteht dadurch, daß die Phantaſie eine kürzere oder längere, einfachere oder zuſammengeſetztere Tonreihe ſchafft, welche ſich durch die Art und Weiſe ihrer Bewegung auf Tönen und Inter- vallen der Scala, ihres Tempo, ihres Rhythmus, ſowie auch ihrer Begleitung als eine Tonfolge von natürlichem, unmittelbar einleuchtendem Fortgange, von klarem, ſich in ſich ſelbſt abſchließendem Verlaufe, von beſtimmtem Charakter und Ausdruck zu vernehmen gibt; alle Muſik iſt rhythmiſirte, charakteriſtiſch geformte Tonfolge, oder Melodie. Nur iſt ſogleich als weſentlich zu beachten der Unterſchied zwiſchen Melodie im engern und weitern Sinn; Melodie im engern Sinn iſt eine Tonfolge, die mit ſelbſtändiger, charakteriſtiſcher, in ſich abgeſchloſſener Bedeutung und ebendamit auch dann verſtändlich und an- ſprechend auftritt, wenn ſie außerhalb des Zuſammenhangs mit einem größern Ganzen und ohne Begleitung gehört wird; Melodie im weitern Sinn oder blos melodiöſer Tongang dagegen eine ſolche, die nur innerhalb eines größern Zu- ſammenhangs oder mit Begleitung klar und ſchön iſt, weil ihr für ſich etwas zum Charakteriſtiſchen, Bedeutenden, in ſich Vollendeten fehlt. 1. Die muſikaliſche Compoſition unterſcheidet ſich von jeder andern (die architectoniſche Ornamentik ausgenommen) durch ihre ganz abſolut ſcheinende Freiheit; ſie hat ein bewegliches, der mannigfachſten Combinationen fähiges Material, ſie iſt nicht an gegebene ſpezifiſche Formen der natürlichen Exiſtenz oder des (ſprachlichen) Ausdrucks gebunden, wie Plaſtik, Malerei und Poeſie, ſie ſcheint ſich das Alles ſelbſt hervorbringen zu können, und kann es auch bis zu einem gewiſſen Grad, ſelbſt Rhythmus und Harmonie laſſen ihr die größte Freiheit der Auswahl und Abwechslung. Aber dieſe ihre Freiheit iſt auch wiederum ein erſchwerendes Moment; ſie ſtellt ihr die Aufgabe, aus dem Formloſen, Unbeſtimmten, abſolut Freien etwas zu ſchaffen, das Geſtalt, beſtimmten Sinn, ſpezifiſche Bedeutung habe (ein Tonbild), ja ſogar etwas, das nicht den Eindruck des frei, willkürlich

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 914. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/152>, abgerufen am 29.11.2024.