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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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und enger Tonzusammenhang hergestellt werde. Der Sinn für Harmonie
entwickelt sich zwar sowohl in der Geschichte als bei einzelnen Individuen
in der Regel erst später, weil es leichter ist, dem einfachen Gange einer
Scale oder Melodie Schritt vor Schritt nachzufolgen, als zumal erklingende
Töne ebenso zu unterscheiden wie in der Unterscheidung zugleich wieder als
Eins zu hören, wie überhaupt das Vorstellen einzelner Dinge leichter ist
als das Zusammenschauen coexistenter Mannigfaltigkeit, und in Folge dieser
langsamern Entwicklung des Sinnes für Harmonie kommt es allerdings,
z. B. in der mittelalterlichen Musik und im Volksgesange vor, daß eine
Melodie blos mit Quinten, Quarten, Terzen in einförmigem Gange be-
gleitet und schon darin eine gewisse Befriedigung des Bedürfnisses nach
Harmonie gefunden wird; aber es ist dieses eine Stufe unreifer Entwicklung,
die gegen die Naturgemäßheit und gegen den Vorzug vollerer Harmonieen
nichts beweisen kann. Genauer betrachtet besteht der consonirende Accord
aus zwei unmittelbar neben einander liegenden Terzen, und zwar normaler
Weise aus einer großen und kleinen, c e, e g, oder muß er sich doch darauf
zurückführen lassen, wie dieß z. B. bei e c g, g c e, g e c der Fall ist, oder
der consonirende Accord ist im Prinzip nichts Anderes als Tonica und
Quint mit dazwischenliegender Terz. Im dissonirenden Accord dagegen,
im Septimenaccord (g h d f) und ebenso im Nonenaccord (g h d f a), steckt
dem früher über die Septime Bemerkten zufolge, obwohl er auch aus Terzen
aufgebaut scheint, doch ein Secundverhältniß, im letztern sogar ein doppeltes,
da der Grundton, in der Octave genommen, obere Secund des Septimen-
tons und untere Secund der None ist, und dieses Secundverhältniß, um
deß willen diese Accorde eben dissonirende sind, tritt in den sog. Umkehrungen
des Septimenaccords, nämlich im sog. Secundaccord (f g h d), Terzquart-
accord (d f g h) und Quintsextaccord (h d f g), geradezu hervor und gibt
diesen Umkehrungen bereits einen weniger gefälligen, etwas dumpfern und
härtern Charakter; beim Septimenaccord mit großer Septime und beim
Nonenaccord kann der Aufbau in Terzen ohnedieß weit weniger leicht
verlassen werden, damit nicht z. B. bei letzterem 3 Nachbartöne (a g h)
unmittelbar neben einander kommen und so eine gräuliche Dissonanz ent-
stehe. Bei den consonirenden Accorden ist die Terz das vermittelnde Glied,
welches die Leere ausfüllt; bei den dissonirenden dagegen ist der Aufbau
in Terzen das auseinanderhaltende Moment, das die Secundtöne trennt,
damit sie nicht zu stark dissoniren. Die Terz selbst aber bedarf den Hinzu-
tritt eines dritten Klanges nicht nothwendig; Tonica, Terz und Octave
tönen schon für sich allein zwar nicht klangreich, aber doch befriedigend,
indem durch das Hinzutreten der Octave dem schon für sich wohllautenden
Terzzweiklang, dem nur nach oben eine abschließende Abrundung fehlt,
dieser Abschluß in hinreichender Weise zu Theil wird; es scheint diese

und enger Tonzuſammenhang hergeſtellt werde. Der Sinn für Harmonie
entwickelt ſich zwar ſowohl in der Geſchichte als bei einzelnen Individuen
in der Regel erſt ſpäter, weil es leichter iſt, dem einfachen Gange einer
Scale oder Melodie Schritt vor Schritt nachzufolgen, als zumal erklingende
Töne ebenſo zu unterſcheiden wie in der Unterſcheidung zugleich wieder als
Eins zu hören, wie überhaupt das Vorſtellen einzelner Dinge leichter iſt
als das Zuſammenſchauen coexiſtenter Mannigfaltigkeit, und in Folge dieſer
langſamern Entwicklung des Sinnes für Harmonie kommt es allerdings,
z. B. in der mittelalterlichen Muſik und im Volksgeſange vor, daß eine
Melodie blos mit Quinten, Quarten, Terzen in einförmigem Gange be-
gleitet und ſchon darin eine gewiſſe Befriedigung des Bedürfniſſes nach
Harmonie gefunden wird; aber es iſt dieſes eine Stufe unreifer Entwicklung,
die gegen die Naturgemäßheit und gegen den Vorzug vollerer Harmonieen
nichts beweiſen kann. Genauer betrachtet beſteht der conſonirende Accord
aus zwei unmittelbar neben einander liegenden Terzen, und zwar normaler
Weiſe aus einer großen und kleinen, c e, e g, oder muß er ſich doch darauf
zurückführen laſſen, wie dieß z. B. bei e c g, g c e, g e c der Fall iſt, oder
der conſonirende Accord iſt im Prinzip nichts Anderes als Tonica und
Quint mit dazwiſchenliegender Terz. Im diſſonirenden Accord dagegen,
im Septimenaccord (g h d f) und ebenſo im Nonenaccord (g h d f a), ſteckt
dem früher über die Septime Bemerkten zufolge, obwohl er auch aus Terzen
aufgebaut ſcheint, doch ein Secundverhältniß, im letztern ſogar ein doppeltes,
da der Grundton, in der Octave genommen, obere Secund des Septimen-
tons und untere Secund der None iſt, und dieſes Secundverhältniß, um
deß willen dieſe Accorde eben diſſonirende ſind, tritt in den ſog. Umkehrungen
des Septimenaccords, nämlich im ſog. Secundaccord (f g h d), Terzquart-
accord (d f g h) und Quintſextaccord (h d f g), geradezu hervor und gibt
dieſen Umkehrungen bereits einen weniger gefälligen, etwas dumpfern und
härtern Charakter; beim Septimenaccord mit großer Septime und beim
Nonenaccord kann der Aufbau in Terzen ohnedieß weit weniger leicht
verlaſſen werden, damit nicht z. B. bei letzterem 3 Nachbartöne (a g h)
unmittelbar neben einander kommen und ſo eine gräuliche Diſſonanz ent-
ſtehe. Bei den conſonirenden Accorden iſt die Terz das vermittelnde Glied,
welches die Leere ausfüllt; bei den diſſonirenden dagegen iſt der Aufbau
in Terzen das auseinanderhaltende Moment, das die Secundtöne trennt,
damit ſie nicht zu ſtark diſſoniren. Die Terz ſelbſt aber bedarf den Hinzu-
tritt eines dritten Klanges nicht nothwendig; Tonica, Terz und Octave
tönen ſchon für ſich allein zwar nicht klangreich, aber doch befriedigend,
indem durch das Hinzutreten der Octave dem ſchon für ſich wohllautenden
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[886/0124] und enger Tonzuſammenhang hergeſtellt werde. Der Sinn für Harmonie entwickelt ſich zwar ſowohl in der Geſchichte als bei einzelnen Individuen in der Regel erſt ſpäter, weil es leichter iſt, dem einfachen Gange einer Scale oder Melodie Schritt vor Schritt nachzufolgen, als zumal erklingende Töne ebenſo zu unterſcheiden wie in der Unterſcheidung zugleich wieder als Eins zu hören, wie überhaupt das Vorſtellen einzelner Dinge leichter iſt als das Zuſammenſchauen coexiſtenter Mannigfaltigkeit, und in Folge dieſer langſamern Entwicklung des Sinnes für Harmonie kommt es allerdings, z. B. in der mittelalterlichen Muſik und im Volksgeſange vor, daß eine Melodie blos mit Quinten, Quarten, Terzen in einförmigem Gange be- gleitet und ſchon darin eine gewiſſe Befriedigung des Bedürfniſſes nach Harmonie gefunden wird; aber es iſt dieſes eine Stufe unreifer Entwicklung, die gegen die Naturgemäßheit und gegen den Vorzug vollerer Harmonieen nichts beweiſen kann. Genauer betrachtet beſteht der conſonirende Accord aus zwei unmittelbar neben einander liegenden Terzen, und zwar normaler Weiſe aus einer großen und kleinen, c e, e g, oder muß er ſich doch darauf zurückführen laſſen, wie dieß z. B. bei e c g, g c e, g e c der Fall iſt, oder der conſonirende Accord iſt im Prinzip nichts Anderes als Tonica und Quint mit dazwiſchenliegender Terz. Im diſſonirenden Accord dagegen, im Septimenaccord (g h d f) und ebenſo im Nonenaccord (g h d f a), ſteckt dem früher über die Septime Bemerkten zufolge, obwohl er auch aus Terzen aufgebaut ſcheint, doch ein Secundverhältniß, im letztern ſogar ein doppeltes, da der Grundton, in der Octave genommen, obere Secund des Septimen- tons und untere Secund der None iſt, und dieſes Secundverhältniß, um deß willen dieſe Accorde eben diſſonirende ſind, tritt in den ſog. Umkehrungen des Septimenaccords, nämlich im ſog. Secundaccord (f g h d), Terzquart- accord (d f g h) und Quintſextaccord (h d f g), geradezu hervor und gibt dieſen Umkehrungen bereits einen weniger gefälligen, etwas dumpfern und härtern Charakter; beim Septimenaccord mit großer Septime und beim Nonenaccord kann der Aufbau in Terzen ohnedieß weit weniger leicht verlaſſen werden, damit nicht z. B. bei letzterem 3 Nachbartöne (a g h) unmittelbar neben einander kommen und ſo eine gräuliche Diſſonanz ent- ſtehe. Bei den conſonirenden Accorden iſt die Terz das vermittelnde Glied, welches die Leere ausfüllt; bei den diſſonirenden dagegen iſt der Aufbau in Terzen das auseinanderhaltende Moment, das die Secundtöne trennt, damit ſie nicht zu ſtark diſſoniren. Die Terz ſelbſt aber bedarf den Hinzu- tritt eines dritten Klanges nicht nothwendig; Tonica, Terz und Octave tönen ſchon für ſich allein zwar nicht klangreich, aber doch befriedigend, indem durch das Hinzutreten der Octave dem ſchon für ſich wohllautenden Terzzweiklang, dem nur nach oben eine abſchließende Abrundung fehlt, dieſer Abſchluß in hinreichender Weiſe zu Theil wird; es ſcheint dieſe

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 886. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/124>, abgerufen am 25.11.2024.