bindung dieser beiden Töne die Bewegung in die Leiter der Dominante C überschweift (nach demselben Gesetz, wie vorher f e die Leiter F ankündigt) und dann doch wiederum schwerfällig in F zurücksinkt. Das Mixo- lydische (G) ist Dur mit kleiner Septime; es fehlt ihm hiemit, wenn sein Charakter rein festgehalten wird, für Melodie und Harmonie der Leitton, der namentlich zu einem befriedigenden Schlusse eines ganzen Tonstücks (z. B. fis g) und ebenso zu präciser Verknüpfung wesentlicher Accorde (z. B. d fis a c, d g h) unentbehrlich ist, daher schwebende Unbestimmtheit und (wie auch bei den meisten andern) eine Ungelenkigkeit der Tonverknüpfung der Charakter dieser Tonreihe ist. Während die äolische Weise (A) mit unserem absteigenden Moll identisch ist, weicht die dorische (D) darin von ihm ab, daß sie zwar die kleine Terz (f), aber die große Sext (h) und kleine Septime (c) hat, also das kräftige Dur und das trübere Moll in sich gewissermaßen vereinigt; die phrygische endlich (E) ist das gerade um- gekehrte Dur, indem hier die Halbtöne (f, c) nach der ersten und fünften Stufe kommen, wie in Dur vor der letzten und nach der dritten; sie ist das extrem gewordene Moll, sie hat nicht nur dessen Intervalle, kleine Terz und kleine Sext, sondern sie hat vollends ganz den Charakter der Halbton- bewegung, indem die aufsteigende Bewegung gleich mit dieser beginnt und ebenso die absteigende mit ihr (f e) schließt, so daß aufwärts die Bewegung gleich von vorn herein bedeutsam gehemmt und zurückgehalten erscheint, ab- wärts aber der Schluß wegen des auf den Grundton drückenden Halbtons ganz besonders schwer wird und damit gleichfalls den Charakter eines Un- gewöhnlichen, Bedeutsamen, eines auf die Seele drückenden Geheimnisses, einer noch nicht gelösten Spannung erhält. Es geht aus der gegebenen Uebersicht hervor, daß diese Nebenscalen nicht ohne Eigenthümlichkeit sind, die dieselben für den Ausdruck gewisser besonderer Stimmungen und Be- wegungen jederzeit geeignet machen kann, daher sie auch in der modernen Musik hie und da zur Anwendung kommen; aber sie haben doch unsern Dur- und Molltonweisen gegenüber zu wenig natürlichen, fließenden Fort- gang und Schluß, sie sind größtentheils nicht reiner, sondern gemischter Gattung, sie haben trotz des Bedeutsamen keine klar, weich und gefällig sich gliedernde Tonfolge, sondern aus allen diesen Ursachen etwas Schwebendes, Nebelhaftes, Unaufgelöstes und doch zugleich Hartes, das oft wohl an seinem Orte ist, im Ganzen aber diese Tonleitergattungen hinter dem wohl- proportionirten Dur und dem jedenfalls weichen, nicht gar zu schweren und düstern Moll immer mehr zurückgedrängt hat. Genauer wäre die Unvoll- kommenheit und namentlich die Ungelenkigkeit dieser Nebentonleitern nur nachzuweisen, wenn man zugleich auf die Art und Weise näher eingienge, wie sich in ihnen die einzelnen für den Fortgang eines mehrstimmigen Tonstücks nothwendigen Hauptaccorde gestalten; aber der Gegenstand ist zu speziell, als daß er hier behandelt werden könnte.
bindung dieſer beiden Töne die Bewegung in die Leiter der Dominante C überſchweift (nach demſelben Geſetz, wie vorher f e die Leiter F ankündigt) und dann doch wiederum ſchwerfällig in F zurückſinkt. Das Mixo- lydiſche (G) iſt Dur mit kleiner Septime; es fehlt ihm hiemit, wenn ſein Charakter rein feſtgehalten wird, für Melodie und Harmonie der Leitton, der namentlich zu einem befriedigenden Schluſſe eines ganzen Tonſtücks (z. B. fis g) und ebenſo zu präciſer Verknüpfung weſentlicher Accorde (z. B. d fis a c, d g h) unentbehrlich iſt, daher ſchwebende Unbeſtimmtheit und (wie auch bei den meiſten andern) eine Ungelenkigkeit der Tonverknüpfung der Charakter dieſer Tonreihe iſt. Während die äoliſche Weiſe (A) mit unſerem abſteigenden Moll identiſch iſt, weicht die doriſche (D) darin von ihm ab, daß ſie zwar die kleine Terz (f), aber die große Sext (h) und kleine Septime (c) hat, alſo das kräftige Dur und das trübere Moll in ſich gewiſſermaßen vereinigt; die phrygiſche endlich (E) iſt das gerade um- gekehrte Dur, indem hier die Halbtöne (f, c) nach der erſten und fünften Stufe kommen, wie in Dur vor der letzten und nach der dritten; ſie iſt das extrem gewordene Moll, ſie hat nicht nur deſſen Intervalle, kleine Terz und kleine Sext, ſondern ſie hat vollends ganz den Charakter der Halbton- bewegung, indem die aufſteigende Bewegung gleich mit dieſer beginnt und ebenſo die abſteigende mit ihr (f e) ſchließt, ſo daß aufwärts die Bewegung gleich von vorn herein bedeutſam gehemmt und zurückgehalten erſcheint, ab- wärts aber der Schluß wegen des auf den Grundton drückenden Halbtons ganz beſonders ſchwer wird und damit gleichfalls den Charakter eines Un- gewöhnlichen, Bedeutſamen, eines auf die Seele drückenden Geheimniſſes, einer noch nicht gelösten Spannung erhält. Es geht aus der gegebenen Ueberſicht hervor, daß dieſe Nebenſcalen nicht ohne Eigenthümlichkeit ſind, die dieſelben für den Ausdruck gewiſſer beſonderer Stimmungen und Be- wegungen jederzeit geeignet machen kann, daher ſie auch in der modernen Muſik hie und da zur Anwendung kommen; aber ſie haben doch unſern Dur- und Molltonweiſen gegenüber zu wenig natürlichen, fließenden Fort- gang und Schluß, ſie ſind größtentheils nicht reiner, ſondern gemiſchter Gattung, ſie haben trotz des Bedeutſamen keine klar, weich und gefällig ſich gliedernde Tonfolge, ſondern aus allen dieſen Urſachen etwas Schwebendes, Nebelhaftes, Unaufgelöstes und doch zugleich Hartes, das oft wohl an ſeinem Orte iſt, im Ganzen aber dieſe Tonleitergattungen hinter dem wohl- proportionirten Dur und dem jedenfalls weichen, nicht gar zu ſchweren und düſtern Moll immer mehr zurückgedrängt hat. Genauer wäre die Unvoll- kommenheit und namentlich die Ungelenkigkeit dieſer Nebentonleitern nur nachzuweiſen, wenn man zugleich auf die Art und Weiſe näher eingienge, wie ſich in ihnen die einzelnen für den Fortgang eines mehrſtimmigen Tonſtücks nothwendigen Hauptaccorde geſtalten; aber der Gegenſtand iſt zu ſpeziell, als daß er hier behandelt werden könnte.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0106"n="868"/>
bindung dieſer beiden Töne die Bewegung in die Leiter der Dominante <hirendition="#aq">C</hi><lb/>
überſchweift (nach demſelben Geſetz, wie vorher <hirendition="#aq">f e</hi> die Leiter <hirendition="#aq">F</hi> ankündigt)<lb/>
und dann doch wiederum ſchwerfällig in <hirendition="#aq">F</hi> zurückſinkt. Das <hirendition="#g">Mixo-<lb/>
lydiſche</hi> (<hirendition="#aq">G</hi>) iſt Dur mit kleiner Septime; es fehlt ihm hiemit, wenn<lb/>ſein Charakter rein feſtgehalten wird, für Melodie und Harmonie der Leitton,<lb/>
der namentlich zu einem befriedigenden Schluſſe eines ganzen Tonſtücks<lb/>
(z. B. <hirendition="#aq">fis g</hi>) und ebenſo zu präciſer Verknüpfung weſentlicher Accorde (z. B.<lb/><hirendition="#aq">d fis a c, d g h</hi>) unentbehrlich iſt, daher ſchwebende Unbeſtimmtheit und<lb/>
(wie auch bei den meiſten andern) eine Ungelenkigkeit der Tonverknüpfung<lb/>
der Charakter dieſer Tonreihe iſt. Während die <hirendition="#g">äoliſche</hi> Weiſe (<hirendition="#aq">A</hi>) mit<lb/>
unſerem abſteigenden Moll identiſch iſt, weicht die <hirendition="#g">doriſche</hi> (<hirendition="#aq">D</hi>) darin von<lb/>
ihm ab, daß ſie zwar die kleine Terz (<hirendition="#aq">f</hi>), aber die große Sext (<hirendition="#aq">h</hi>) und kleine<lb/>
Septime (<hirendition="#aq">c</hi>) hat, alſo das kräftige Dur und das trübere Moll in ſich<lb/>
gewiſſermaßen vereinigt; die <hirendition="#g">phrygiſche</hi> endlich (<hirendition="#aq">E</hi>) iſt das gerade um-<lb/>
gekehrte Dur, indem hier die Halbtöne (<hirendition="#aq">f, c</hi>) nach der erſten und fünften<lb/>
Stufe kommen, wie in Dur vor der letzten und nach der dritten; ſie iſt<lb/>
das extrem gewordene Moll, ſie hat nicht nur deſſen Intervalle, kleine Terz<lb/>
und kleine Sext, ſondern ſie hat vollends ganz den Charakter der Halbton-<lb/>
bewegung, indem die aufſteigende Bewegung gleich mit dieſer beginnt und<lb/>
ebenſo die abſteigende mit ihr (<hirendition="#aq">f e</hi>) ſchließt, ſo daß aufwärts die Bewegung<lb/>
gleich von vorn herein bedeutſam gehemmt und zurückgehalten erſcheint, ab-<lb/>
wärts aber der Schluß wegen des auf den Grundton drückenden Halbtons<lb/>
ganz beſonders ſchwer wird und damit gleichfalls den Charakter eines Un-<lb/>
gewöhnlichen, Bedeutſamen, eines auf die Seele drückenden Geheimniſſes,<lb/>
einer noch nicht gelösten Spannung erhält. Es geht aus der gegebenen<lb/>
Ueberſicht hervor, daß dieſe Nebenſcalen nicht ohne Eigenthümlichkeit ſind,<lb/>
die dieſelben für den Ausdruck gewiſſer beſonderer Stimmungen und Be-<lb/>
wegungen jederzeit geeignet machen kann, daher ſie auch in der modernen<lb/>
Muſik hie und da zur Anwendung kommen; aber ſie haben doch unſern<lb/>
Dur- und Molltonweiſen gegenüber zu wenig natürlichen, fließenden Fort-<lb/>
gang und Schluß, ſie ſind größtentheils nicht reiner, ſondern gemiſchter<lb/>
Gattung, ſie haben trotz des Bedeutſamen keine klar, weich und gefällig ſich<lb/>
gliedernde Tonfolge, ſondern aus allen dieſen Urſachen etwas Schwebendes,<lb/>
Nebelhaftes, Unaufgelöstes und doch zugleich Hartes, das oft wohl an<lb/>ſeinem Orte iſt, im Ganzen aber dieſe Tonleitergattungen hinter dem wohl-<lb/>
proportionirten Dur und dem jedenfalls weichen, nicht gar zu ſchweren und<lb/>
düſtern Moll immer mehr zurückgedrängt hat. Genauer wäre die Unvoll-<lb/>
kommenheit und namentlich die Ungelenkigkeit dieſer Nebentonleitern nur<lb/>
nachzuweiſen, wenn man zugleich auf die Art und Weiſe näher eingienge,<lb/>
wie ſich in ihnen die einzelnen für den Fortgang eines mehrſtimmigen<lb/>
Tonſtücks nothwendigen Hauptaccorde geſtalten; aber der Gegenſtand iſt zu<lb/>ſpeziell, als daß er hier behandelt werden könnte.</hi></p><lb/></div></div></div></div></body></text></TEI>
[868/0106]
bindung dieſer beiden Töne die Bewegung in die Leiter der Dominante C
überſchweift (nach demſelben Geſetz, wie vorher f e die Leiter F ankündigt)
und dann doch wiederum ſchwerfällig in F zurückſinkt. Das Mixo-
lydiſche (G) iſt Dur mit kleiner Septime; es fehlt ihm hiemit, wenn
ſein Charakter rein feſtgehalten wird, für Melodie und Harmonie der Leitton,
der namentlich zu einem befriedigenden Schluſſe eines ganzen Tonſtücks
(z. B. fis g) und ebenſo zu präciſer Verknüpfung weſentlicher Accorde (z. B.
d fis a c, d g h) unentbehrlich iſt, daher ſchwebende Unbeſtimmtheit und
(wie auch bei den meiſten andern) eine Ungelenkigkeit der Tonverknüpfung
der Charakter dieſer Tonreihe iſt. Während die äoliſche Weiſe (A) mit
unſerem abſteigenden Moll identiſch iſt, weicht die doriſche (D) darin von
ihm ab, daß ſie zwar die kleine Terz (f), aber die große Sext (h) und kleine
Septime (c) hat, alſo das kräftige Dur und das trübere Moll in ſich
gewiſſermaßen vereinigt; die phrygiſche endlich (E) iſt das gerade um-
gekehrte Dur, indem hier die Halbtöne (f, c) nach der erſten und fünften
Stufe kommen, wie in Dur vor der letzten und nach der dritten; ſie iſt
das extrem gewordene Moll, ſie hat nicht nur deſſen Intervalle, kleine Terz
und kleine Sext, ſondern ſie hat vollends ganz den Charakter der Halbton-
bewegung, indem die aufſteigende Bewegung gleich mit dieſer beginnt und
ebenſo die abſteigende mit ihr (f e) ſchließt, ſo daß aufwärts die Bewegung
gleich von vorn herein bedeutſam gehemmt und zurückgehalten erſcheint, ab-
wärts aber der Schluß wegen des auf den Grundton drückenden Halbtons
ganz beſonders ſchwer wird und damit gleichfalls den Charakter eines Un-
gewöhnlichen, Bedeutſamen, eines auf die Seele drückenden Geheimniſſes,
einer noch nicht gelösten Spannung erhält. Es geht aus der gegebenen
Ueberſicht hervor, daß dieſe Nebenſcalen nicht ohne Eigenthümlichkeit ſind,
die dieſelben für den Ausdruck gewiſſer beſonderer Stimmungen und Be-
wegungen jederzeit geeignet machen kann, daher ſie auch in der modernen
Muſik hie und da zur Anwendung kommen; aber ſie haben doch unſern
Dur- und Molltonweiſen gegenüber zu wenig natürlichen, fließenden Fort-
gang und Schluß, ſie ſind größtentheils nicht reiner, ſondern gemiſchter
Gattung, ſie haben trotz des Bedeutſamen keine klar, weich und gefällig ſich
gliedernde Tonfolge, ſondern aus allen dieſen Urſachen etwas Schwebendes,
Nebelhaftes, Unaufgelöstes und doch zugleich Hartes, das oft wohl an
ſeinem Orte iſt, im Ganzen aber dieſe Tonleitergattungen hinter dem wohl-
proportionirten Dur und dem jedenfalls weichen, nicht gar zu ſchweren und
düſtern Moll immer mehr zurückgedrängt hat. Genauer wäre die Unvoll-
kommenheit und namentlich die Ungelenkigkeit dieſer Nebentonleitern nur
nachzuweiſen, wenn man zugleich auf die Art und Weiſe näher eingienge,
wie ſich in ihnen die einzelnen für den Fortgang eines mehrſtimmigen
Tonſtücks nothwendigen Hauptaccorde geſtalten; aber der Gegenſtand iſt zu
ſpeziell, als daß er hier behandelt werden könnte.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 868. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/106>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.