Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

nern sie sich scheinbar nach dem Grad ihrer Entfernung. Die scheinbare
Veränderung der Form bestimmt sich verschieden, je nachdem der Sehpunct
höher, als die Gegenstände (sog. Vogelperspective), oder tiefer (Froschper-
spective) oder in gleicher Bodenhöhe genommen ist; dazu kommt der Un-
terschied, ob das Auge sich der Mitte eines Gegenstands gegenüber befin-
det, oder ob es ihn seitlich faßt. Die Verkürzung ist nichts Anderes, als
diese scheinbare Form-Veränderung in Anwendung auf einen einzelnen
Gegenstand oder den einzelnen Theil eines Gegenstands, der so gestellt
ist, daß die wirkliche Länge vom Auge des Zuschauers ab in die Tiefe
zurückweicht, diesem in einem zusammengezogenen Bilde erscheint. Ohne
Licht und Schatten würde sich das Auge in diesem Falle über die Form
des Gegenstands nothwendig täuschen, dennoch hat der Maler, ehe er
diese wesentliche Ergänzung hinzugibt, das Gesetz der Zusammenziehung
der Linie an sich als Zeichner darzustellen. Es versteht sich, daß die Ver-
kürzung vorzüglich an Gegenständen, welche im Vordergrund als Haupt-
gegenstände oder doch mit einiger Bedeutung hervortreten, das Interesse
des künstlerischen Studiums in Anspruch nimmt, und was den Unterschied
der Stoffe betrifft, daß es namentlich der höher organisirte Leib, vor allem
der menschliche, ist, dessen wunderbarer Bau die unendlichen Motive seiner
Schönheit in bewegter Fülle enthüllt, wenn Wendungen, Stellungen aller
Art seine Glieder theils unmittelbar richtig, theils in solchen Verschiebun-
gen darstellen, aus denen das Auge das richtige Bild erst wieder erschließt;
ein verstärkter Accent scheint auf den Reiz der organischen Schönheit zu
fallen, wenn er im verschobenen Bilde sich aufsuchen läßt. Die Gesetze
der Perspective im Ganzen nun sind Gegenstand eines Zweigs der Ma-
thematik und der Maler muß sich mit demselben vertraut machen; ein
neuer Umkreis von wissenschaftlichen Kenntnissen, welche der Bildner nicht
bedarf, ist also durch die Uebertragung auf die Fläche nöthig geworden.
Doch wird es sich ähnlich verhalten wie mit der Anatomie: der Künstler
muß sich das Wesentliche der Lehre aneignen, doch nur, um das Gelernte
in eine freie, zum Instinkt gewordene Fertigkeit umzusetzen, worin der
Geschmack der exacten Gelehrsamkeit völlig getilgt ist; die Perspective soll
als Augenmaaß in sein Auge einkehren oder richtiger: vorher darin sitzen
und durch die Wissenschaft nur verschärft werden. Ueberdieß vermag aber
die Wissenschaft dieses Gebiet des optischen Scheins nicht in seinem ganzen
Umfang zu fassen und zu durchdringen; es ist namentlich das Gebiet der
runden Formen in der Mannigfaltigkeit ihrer Curvenverbindungen, wo
ihr eine Grenze in der Auffindung des Gesetzes der optischen Scheinver-
änderung gesteckt ist; gerade hier, in diesem wichtigen Gebiete der Ver-
kürzung, ist das Gefühl und die Naturbeobachtung des Künstlers an sich
selbst gewiesen. -- Es geht nun in allen hier aufgeführten Puncten die

nern ſie ſich ſcheinbar nach dem Grad ihrer Entfernung. Die ſcheinbare
Veränderung der Form beſtimmt ſich verſchieden, je nachdem der Sehpunct
höher, als die Gegenſtände (ſog. Vogelperſpective), oder tiefer (Froſchper-
ſpective) oder in gleicher Bodenhöhe genommen iſt; dazu kommt der Un-
terſchied, ob das Auge ſich der Mitte eines Gegenſtands gegenüber befin-
det, oder ob es ihn ſeitlich faßt. Die Verkürzung iſt nichts Anderes, als
dieſe ſcheinbare Form-Veränderung in Anwendung auf einen einzelnen
Gegenſtand oder den einzelnen Theil eines Gegenſtands, der ſo geſtellt
iſt, daß die wirkliche Länge vom Auge des Zuſchauers ab in die Tiefe
zurückweicht, dieſem in einem zuſammengezogenen Bilde erſcheint. Ohne
Licht und Schatten würde ſich das Auge in dieſem Falle über die Form
des Gegenſtands nothwendig täuſchen, dennoch hat der Maler, ehe er
dieſe weſentliche Ergänzung hinzugibt, das Geſetz der Zuſammenziehung
der Linie an ſich als Zeichner darzuſtellen. Es verſteht ſich, daß die Ver-
kürzung vorzüglich an Gegenſtänden, welche im Vordergrund als Haupt-
gegenſtände oder doch mit einiger Bedeutung hervortreten, das Intereſſe
des künſtleriſchen Studiums in Anſpruch nimmt, und was den Unterſchied
der Stoffe betrifft, daß es namentlich der höher organiſirte Leib, vor allem
der menſchliche, iſt, deſſen wunderbarer Bau die unendlichen Motive ſeiner
Schönheit in bewegter Fülle enthüllt, wenn Wendungen, Stellungen aller
Art ſeine Glieder theils unmittelbar richtig, theils in ſolchen Verſchiebun-
gen darſtellen, aus denen das Auge das richtige Bild erſt wieder erſchließt;
ein verſtärkter Accent ſcheint auf den Reiz der organiſchen Schönheit zu
fallen, wenn er im verſchobenen Bilde ſich aufſuchen läßt. Die Geſetze
der Perſpective im Ganzen nun ſind Gegenſtand eines Zweigs der Ma-
thematik und der Maler muß ſich mit demſelben vertraut machen; ein
neuer Umkreis von wiſſenſchaftlichen Kenntniſſen, welche der Bildner nicht
bedarf, iſt alſo durch die Uebertragung auf die Fläche nöthig geworden.
Doch wird es ſich ähnlich verhalten wie mit der Anatomie: der Künſtler
muß ſich das Weſentliche der Lehre aneignen, doch nur, um das Gelernte
in eine freie, zum Inſtinkt gewordene Fertigkeit umzuſetzen, worin der
Geſchmack der exacten Gelehrſamkeit völlig getilgt iſt; die Perſpective ſoll
als Augenmaaß in ſein Auge einkehren oder richtiger: vorher darin ſitzen
und durch die Wiſſenſchaft nur verſchärft werden. Ueberdieß vermag aber
die Wiſſenſchaft dieſes Gebiet des optiſchen Scheins nicht in ſeinem ganzen
Umfang zu faſſen und zu durchdringen; es iſt namentlich das Gebiet der
runden Formen in der Mannigfaltigkeit ihrer Curvenverbindungen, wo
ihr eine Grenze in der Auffindung des Geſetzes der optiſchen Scheinver-
änderung geſteckt iſt; gerade hier, in dieſem wichtigen Gebiete der Ver-
kürzung, iſt das Gefühl und die Naturbeobachtung des Künſtlers an ſich
ſelbſt gewieſen. — Es geht nun in allen hier aufgeführten Puncten die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0058" n="550"/>
nern &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;cheinbar nach dem Grad ihrer Entfernung. Die &#x017F;cheinbare<lb/>
Veränderung der Form be&#x017F;timmt &#x017F;ich ver&#x017F;chieden, je nachdem der Sehpunct<lb/>
höher, als die Gegen&#x017F;tände (&#x017F;og. Vogelper&#x017F;pective), oder tiefer (Fro&#x017F;chper-<lb/>
&#x017F;pective) oder in gleicher Bodenhöhe genommen i&#x017F;t; dazu kommt der Un-<lb/>
ter&#x017F;chied, ob das Auge &#x017F;ich der Mitte eines Gegen&#x017F;tands gegenüber befin-<lb/>
det, oder ob es ihn &#x017F;eitlich faßt. Die Verkürzung i&#x017F;t nichts Anderes, als<lb/>
die&#x017F;e &#x017F;cheinbare Form-Veränderung in Anwendung auf einen einzelnen<lb/>
Gegen&#x017F;tand oder den einzelnen Theil eines Gegen&#x017F;tands, der &#x017F;o ge&#x017F;tellt<lb/>
i&#x017F;t, daß die wirkliche Länge vom Auge des Zu&#x017F;chauers ab in die Tiefe<lb/>
zurückweicht, die&#x017F;em in einem zu&#x017F;ammengezogenen Bilde er&#x017F;cheint. Ohne<lb/>
Licht und Schatten würde &#x017F;ich das Auge in die&#x017F;em Falle über die Form<lb/>
des Gegen&#x017F;tands nothwendig täu&#x017F;chen, dennoch hat der Maler, ehe er<lb/>
die&#x017F;e we&#x017F;entliche Ergänzung hinzugibt, das Ge&#x017F;etz der Zu&#x017F;ammenziehung<lb/>
der Linie an &#x017F;ich als Zeichner darzu&#x017F;tellen. Es ver&#x017F;teht &#x017F;ich, daß die Ver-<lb/>
kürzung vorzüglich an Gegen&#x017F;tänden, welche im Vordergrund als Haupt-<lb/>
gegen&#x017F;tände oder doch mit einiger Bedeutung hervortreten, das Intere&#x017F;&#x017F;e<lb/>
des kün&#x017F;tleri&#x017F;chen Studiums in An&#x017F;pruch nimmt, und was den Unter&#x017F;chied<lb/>
der Stoffe betrifft, daß es namentlich der höher organi&#x017F;irte Leib, vor allem<lb/>
der men&#x017F;chliche, i&#x017F;t, de&#x017F;&#x017F;en wunderbarer Bau die unendlichen Motive &#x017F;einer<lb/>
Schönheit in bewegter Fülle enthüllt, wenn Wendungen, Stellungen aller<lb/>
Art &#x017F;eine Glieder theils unmittelbar richtig, theils in &#x017F;olchen Ver&#x017F;chiebun-<lb/>
gen dar&#x017F;tellen, aus denen das Auge das richtige Bild er&#x017F;t wieder er&#x017F;chließt;<lb/>
ein ver&#x017F;tärkter Accent &#x017F;cheint auf den Reiz der organi&#x017F;chen Schönheit zu<lb/>
fallen, wenn er im ver&#x017F;chobenen Bilde &#x017F;ich auf&#x017F;uchen läßt. Die Ge&#x017F;etze<lb/>
der Per&#x017F;pective im Ganzen nun &#x017F;ind Gegen&#x017F;tand eines Zweigs der Ma-<lb/>
thematik und der Maler muß &#x017F;ich mit dem&#x017F;elben vertraut machen; ein<lb/>
neuer Umkreis von wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Kenntni&#x017F;&#x017F;en, welche der Bildner nicht<lb/>
bedarf, i&#x017F;t al&#x017F;o durch die Uebertragung auf die Fläche nöthig geworden.<lb/>
Doch wird es &#x017F;ich ähnlich verhalten wie mit der Anatomie: der Kün&#x017F;tler<lb/>
muß &#x017F;ich das We&#x017F;entliche der Lehre aneignen, doch nur, um das Gelernte<lb/>
in eine freie, zum In&#x017F;tinkt gewordene Fertigkeit umzu&#x017F;etzen, worin der<lb/>
Ge&#x017F;chmack der exacten Gelehr&#x017F;amkeit völlig getilgt i&#x017F;t; die Per&#x017F;pective &#x017F;oll<lb/>
als Augenmaaß in &#x017F;ein Auge einkehren oder richtiger: vorher darin &#x017F;itzen<lb/>
und durch die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft nur ver&#x017F;chärft werden. Ueberdieß vermag aber<lb/>
die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft die&#x017F;es Gebiet des opti&#x017F;chen Scheins nicht in &#x017F;einem ganzen<lb/>
Umfang zu fa&#x017F;&#x017F;en und zu durchdringen; es i&#x017F;t namentlich das Gebiet der<lb/>
runden Formen in der Mannigfaltigkeit ihrer Curvenverbindungen, wo<lb/>
ihr eine Grenze in der Auffindung des Ge&#x017F;etzes der opti&#x017F;chen Scheinver-<lb/>
änderung ge&#x017F;teckt i&#x017F;t; gerade hier, in die&#x017F;em wichtigen Gebiete der Ver-<lb/>
kürzung, i&#x017F;t das Gefühl und die Naturbeobachtung des Kün&#x017F;tlers an &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t gewie&#x017F;en. &#x2014; Es geht nun in allen hier aufgeführten Puncten die<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[550/0058] nern ſie ſich ſcheinbar nach dem Grad ihrer Entfernung. Die ſcheinbare Veränderung der Form beſtimmt ſich verſchieden, je nachdem der Sehpunct höher, als die Gegenſtände (ſog. Vogelperſpective), oder tiefer (Froſchper- ſpective) oder in gleicher Bodenhöhe genommen iſt; dazu kommt der Un- terſchied, ob das Auge ſich der Mitte eines Gegenſtands gegenüber befin- det, oder ob es ihn ſeitlich faßt. Die Verkürzung iſt nichts Anderes, als dieſe ſcheinbare Form-Veränderung in Anwendung auf einen einzelnen Gegenſtand oder den einzelnen Theil eines Gegenſtands, der ſo geſtellt iſt, daß die wirkliche Länge vom Auge des Zuſchauers ab in die Tiefe zurückweicht, dieſem in einem zuſammengezogenen Bilde erſcheint. Ohne Licht und Schatten würde ſich das Auge in dieſem Falle über die Form des Gegenſtands nothwendig täuſchen, dennoch hat der Maler, ehe er dieſe weſentliche Ergänzung hinzugibt, das Geſetz der Zuſammenziehung der Linie an ſich als Zeichner darzuſtellen. Es verſteht ſich, daß die Ver- kürzung vorzüglich an Gegenſtänden, welche im Vordergrund als Haupt- gegenſtände oder doch mit einiger Bedeutung hervortreten, das Intereſſe des künſtleriſchen Studiums in Anſpruch nimmt, und was den Unterſchied der Stoffe betrifft, daß es namentlich der höher organiſirte Leib, vor allem der menſchliche, iſt, deſſen wunderbarer Bau die unendlichen Motive ſeiner Schönheit in bewegter Fülle enthüllt, wenn Wendungen, Stellungen aller Art ſeine Glieder theils unmittelbar richtig, theils in ſolchen Verſchiebun- gen darſtellen, aus denen das Auge das richtige Bild erſt wieder erſchließt; ein verſtärkter Accent ſcheint auf den Reiz der organiſchen Schönheit zu fallen, wenn er im verſchobenen Bilde ſich aufſuchen läßt. Die Geſetze der Perſpective im Ganzen nun ſind Gegenſtand eines Zweigs der Ma- thematik und der Maler muß ſich mit demſelben vertraut machen; ein neuer Umkreis von wiſſenſchaftlichen Kenntniſſen, welche der Bildner nicht bedarf, iſt alſo durch die Uebertragung auf die Fläche nöthig geworden. Doch wird es ſich ähnlich verhalten wie mit der Anatomie: der Künſtler muß ſich das Weſentliche der Lehre aneignen, doch nur, um das Gelernte in eine freie, zum Inſtinkt gewordene Fertigkeit umzuſetzen, worin der Geſchmack der exacten Gelehrſamkeit völlig getilgt iſt; die Perſpective ſoll als Augenmaaß in ſein Auge einkehren oder richtiger: vorher darin ſitzen und durch die Wiſſenſchaft nur verſchärft werden. Ueberdieß vermag aber die Wiſſenſchaft dieſes Gebiet des optiſchen Scheins nicht in ſeinem ganzen Umfang zu faſſen und zu durchdringen; es iſt namentlich das Gebiet der runden Formen in der Mannigfaltigkeit ihrer Curvenverbindungen, wo ihr eine Grenze in der Auffindung des Geſetzes der optiſchen Scheinver- änderung geſteckt iſt; gerade hier, in dieſem wichtigen Gebiete der Ver- kürzung, iſt das Gefühl und die Naturbeobachtung des Künſtlers an ſich ſelbſt gewieſen. — Es geht nun in allen hier aufgeführten Puncten die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/58
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 550. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/58>, abgerufen am 24.11.2024.