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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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versetzt, worin der Meisterin Natur das höchste Product ihrer organisch
bauenden Kraft in einem ersten Bilde vorschwebte. Ja schon ein hinge-
worfener Theil, ein Rumpf, ein gewaltiger Arm, Fuß kann die Meister-
hand verkündigen und den Kenner entzücken. Die schön geführte Linie
wird durchaus im lebendig schauenden Auge wieder flüssig, sie lebt, man
sieht sie werden, wie in Wirklichkeit das volle Gebilde wird und sich ent-
wirkt. Ja schon der reine Zug der Linie an sich, das klare und doch
leichte Durchschneiden durch das Leere, wenn es auch noch keine bestimmte
Gestalt zusammensetzt, hat bedeutungsvollen Reiz und läßt auf den Künstler
schließen; die Anekdote von der Linie, die Apelles auf der Tafel des ab-
wesenden Protogenes zieht, beweist, was die Alten von diesem Puncte
hielten. Wird der Maler kein fertiger Zeichner, ehe er zum Pinsel schrei-
tet, so schwebt er Zeitlebens im Bodenlosen, im Lyrischen, im Subjectiven,
im Musikalischen. Es ist die Scheue vor der Sache, vor dem Bestimmten
und Gründlichen, was den Dilettanten abhält, erst ein tüchtiger Zeichner zu
werden, und ihm vor der Zeit die Palette in die Hand schiebt. Die Vorliebe
der englischen Malerei für das Nebelhafte, Unbestimmte, Verschwommene,
Verfaserte hängt, wie mit der nationalen Neigung zum Sentimentalen, so
mit dem in England sehr verbreiteten Dilettantismus zusammen. Die
Zeichnung ist das Grundgerüste, die feste Knochenbildung im Körper der
Malerei, sie muß, nachdem sie von den Weichtheilen (der Farbe) umhüllt ist,
als die tragende, Maaßbestimmende Kraft durch die Umhüllung sichtbar sein.

2. Es leuchtet nun ein, wo der directe Idealismus in der Malerei
seinen Boden hat: er lebt in der Zeichnung, er läßt diese über die Farbe
vorherrschen, denn sein Prinzip ist das der Plastik und die Zeichnung, wie wir
gesehen, das plastische Moment in der Malerei. Es kann allerdings ein
Maler ganz besonders Meister der Zeichnung, im Colorit schwächer oder
wenigstens ungleich, doch aber kein directer Idealist sein; dann ist er nicht
nach allen Seiten in entsprechendem Verhältniß zur Reife gediehen, er
hat aber nicht die Grund-Intention seiner Auffassung in das Moment
der Zeichnung gelegt, denn dieß ist verstanden unter dem Vorherrschen-
lassen der letzteren. Der Idealist (soweit wir ihn bis jetzt kennen, so
lange wir sein Verhalten zum Unterschied der Stoffe nicht besprochen) ver-
langt, daß die einzelne Gestalt normal schön sei, wie in der Sculptur, und
da die Zeichnung eben vor Allem es ist, welche die Gestalt herstellt, so legt
er das Gewicht auf diese, gibt sich ganz der Welt der Linie, des Con-
turs hin. Da aber die Zeichnung nur ein Moment im Verfahren der
Malerei ist und bestimmt, in gewissem Sinne zu verschwinden, so ist mit
ihr auch das Prinzip, das sich auf sie stützt, zur Unterordnung bestimmt.
An diesem Puncte wird die Sache in der Erörterung der Stylfrage wie-
der aufgefaßt werden.


verſetzt, worin der Meiſterin Natur das höchſte Product ihrer organiſch
bauenden Kraft in einem erſten Bilde vorſchwebte. Ja ſchon ein hinge-
worfener Theil, ein Rumpf, ein gewaltiger Arm, Fuß kann die Meiſter-
hand verkündigen und den Kenner entzücken. Die ſchön geführte Linie
wird durchaus im lebendig ſchauenden Auge wieder flüſſig, ſie lebt, man
ſieht ſie werden, wie in Wirklichkeit das volle Gebilde wird und ſich ent-
wirkt. Ja ſchon der reine Zug der Linie an ſich, das klare und doch
leichte Durchſchneiden durch das Leere, wenn es auch noch keine beſtimmte
Geſtalt zuſammenſetzt, hat bedeutungsvollen Reiz und läßt auf den Künſtler
ſchließen; die Anekdote von der Linie, die Apelles auf der Tafel des ab-
weſenden Protogenes zieht, beweist, was die Alten von dieſem Puncte
hielten. Wird der Maler kein fertiger Zeichner, ehe er zum Pinſel ſchrei-
tet, ſo ſchwebt er Zeitlebens im Bodenloſen, im Lyriſchen, im Subjectiven,
im Muſikaliſchen. Es iſt die Scheue vor der Sache, vor dem Beſtimmten
und Gründlichen, was den Dilettanten abhält, erſt ein tüchtiger Zeichner zu
werden, und ihm vor der Zeit die Palette in die Hand ſchiebt. Die Vorliebe
der engliſchen Malerei für das Nebelhafte, Unbeſtimmte, Verſchwommene,
Verfaſerte hängt, wie mit der nationalen Neigung zum Sentimentalen, ſo
mit dem in England ſehr verbreiteten Dilettantiſmus zuſammen. Die
Zeichnung iſt das Grundgerüſte, die feſte Knochenbildung im Körper der
Malerei, ſie muß, nachdem ſie von den Weichtheilen (der Farbe) umhüllt iſt,
als die tragende, Maaßbeſtimmende Kraft durch die Umhüllung ſichtbar ſein.

2. Es leuchtet nun ein, wo der directe Idealiſmus in der Malerei
ſeinen Boden hat: er lebt in der Zeichnung, er läßt dieſe über die Farbe
vorherrſchen, denn ſein Prinzip iſt das der Plaſtik und die Zeichnung, wie wir
geſehen, das plaſtiſche Moment in der Malerei. Es kann allerdings ein
Maler ganz beſonders Meiſter der Zeichnung, im Colorit ſchwächer oder
wenigſtens ungleich, doch aber kein directer Idealiſt ſein; dann iſt er nicht
nach allen Seiten in entſprechendem Verhältniß zur Reife gediehen, er
hat aber nicht die Grund-Intention ſeiner Auffaſſung in das Moment
der Zeichnung gelegt, denn dieß iſt verſtanden unter dem Vorherrſchen-
laſſen der letzteren. Der Idealiſt (ſoweit wir ihn bis jetzt kennen, ſo
lange wir ſein Verhalten zum Unterſchied der Stoffe nicht beſprochen) ver-
langt, daß die einzelne Geſtalt normal ſchön ſei, wie in der Sculptur, und
da die Zeichnung eben vor Allem es iſt, welche die Geſtalt herſtellt, ſo legt
er das Gewicht auf dieſe, gibt ſich ganz der Welt der Linie, des Con-
turs hin. Da aber die Zeichnung nur ein Moment im Verfahren der
Malerei iſt und beſtimmt, in gewiſſem Sinne zu verſchwinden, ſo iſt mit
ihr auch das Prinzip, das ſich auf ſie ſtützt, zur Unterordnung beſtimmt.
An dieſem Puncte wird die Sache in der Erörterung der Stylfrage wie-
der aufgefaßt werden.


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[548/0056] verſetzt, worin der Meiſterin Natur das höchſte Product ihrer organiſch bauenden Kraft in einem erſten Bilde vorſchwebte. Ja ſchon ein hinge- worfener Theil, ein Rumpf, ein gewaltiger Arm, Fuß kann die Meiſter- hand verkündigen und den Kenner entzücken. Die ſchön geführte Linie wird durchaus im lebendig ſchauenden Auge wieder flüſſig, ſie lebt, man ſieht ſie werden, wie in Wirklichkeit das volle Gebilde wird und ſich ent- wirkt. Ja ſchon der reine Zug der Linie an ſich, das klare und doch leichte Durchſchneiden durch das Leere, wenn es auch noch keine beſtimmte Geſtalt zuſammenſetzt, hat bedeutungsvollen Reiz und läßt auf den Künſtler ſchließen; die Anekdote von der Linie, die Apelles auf der Tafel des ab- weſenden Protogenes zieht, beweist, was die Alten von dieſem Puncte hielten. Wird der Maler kein fertiger Zeichner, ehe er zum Pinſel ſchrei- tet, ſo ſchwebt er Zeitlebens im Bodenloſen, im Lyriſchen, im Subjectiven, im Muſikaliſchen. Es iſt die Scheue vor der Sache, vor dem Beſtimmten und Gründlichen, was den Dilettanten abhält, erſt ein tüchtiger Zeichner zu werden, und ihm vor der Zeit die Palette in die Hand ſchiebt. Die Vorliebe der engliſchen Malerei für das Nebelhafte, Unbeſtimmte, Verſchwommene, Verfaſerte hängt, wie mit der nationalen Neigung zum Sentimentalen, ſo mit dem in England ſehr verbreiteten Dilettantiſmus zuſammen. Die Zeichnung iſt das Grundgerüſte, die feſte Knochenbildung im Körper der Malerei, ſie muß, nachdem ſie von den Weichtheilen (der Farbe) umhüllt iſt, als die tragende, Maaßbeſtimmende Kraft durch die Umhüllung ſichtbar ſein. 2. Es leuchtet nun ein, wo der directe Idealiſmus in der Malerei ſeinen Boden hat: er lebt in der Zeichnung, er läßt dieſe über die Farbe vorherrſchen, denn ſein Prinzip iſt das der Plaſtik und die Zeichnung, wie wir geſehen, das plaſtiſche Moment in der Malerei. Es kann allerdings ein Maler ganz beſonders Meiſter der Zeichnung, im Colorit ſchwächer oder wenigſtens ungleich, doch aber kein directer Idealiſt ſein; dann iſt er nicht nach allen Seiten in entſprechendem Verhältniß zur Reife gediehen, er hat aber nicht die Grund-Intention ſeiner Auffaſſung in das Moment der Zeichnung gelegt, denn dieß iſt verſtanden unter dem Vorherrſchen- laſſen der letzteren. Der Idealiſt (ſoweit wir ihn bis jetzt kennen, ſo lange wir ſein Verhalten zum Unterſchied der Stoffe nicht beſprochen) ver- langt, daß die einzelne Geſtalt normal ſchön ſei, wie in der Sculptur, und da die Zeichnung eben vor Allem es iſt, welche die Geſtalt herſtellt, ſo legt er das Gewicht auf dieſe, gibt ſich ganz der Welt der Linie, des Con- turs hin. Da aber die Zeichnung nur ein Moment im Verfahren der Malerei iſt und beſtimmt, in gewiſſem Sinne zu verſchwinden, ſo iſt mit ihr auch das Prinzip, das ſich auf ſie ſtützt, zur Unterordnung beſtimmt. An dieſem Puncte wird die Sache in der Erörterung der Stylfrage wie- der aufgefaßt werden.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 548. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/56>, abgerufen am 24.11.2024.