in Geltung, wenn die Composition nicht mehrere Gestalten verbindet; überdieß ist durch diesen Satztheil dafür gesorgt, daß das "nicht schön sein Müssen" nicht als ein Zufall, sondern als ein künstlerisches Wollen verstanden werde. Das Verhältniß ist also jetzt umgekehrt; von der Bild- nerkunst hieß es (§. 603 Anm.): "schlechtweg allerdings kann das diesem Prinzip der directen Idealisirung entgegenstehende von der Plastik nicht ausgeschlossen sein, sonst hätte sie keine Bewegung und Geschichte"; jetzt gilt ebendieß von dem dort herrschenden Prinzip: es hat die Oberhand verloren, denn das entgegegesetzte herrscht, aber es kann nicht völlig ausge- schlossen sein. An welche Seite der Technik sich das relative Fortbestehen des überwundenen Prinzips knüpft, warum dieß Fortbestehen eine Lebens- bedingung unserer Kunst, in welche nähere Schranken es gewiesen ist, welche furchtbaren Wirkungen es für die Geschichte der Malerei hat, Alles dieß wird der Verlauf zeigen. Daß es aber noch fortbesteht, haben wir schon in der Anm. zu §. 655 durch den Satz ausgesprochen, daß die Malerei darum, weil sie in gewissem Sinn ein Mißverhältniß zwischen Form und Ausdruck liebt, keineswegs jeden reineren Adel der Form ohne bestimmtes Motiv abweisen darf, daß zur malerischen Würze auch ein feiner Absprung von der Durchschnittslinie genügen kann. Dieser Absprung wird immer nicht so fein sein, wie jene zarte Modification in der Plastik, aber was im Marmor schon hart erscheinen würde, stört in der Farbe den Eindruck glücklicher und vorzugsweise reiner Form-Entwicklung noch nicht. Dieß ist jedoch nur erst unbestimmt, nur eine ungefähre Vorbereitung auf die bestimmteren Sätze, die sich aus der weiteren Auseinandersetzung er- geben sollen.
§. 658.
Wenn dieses Prinzip verbietet, auf den Boden der plastischen Schönheit überzutreten, so kann auf der andern Seite die Verfolgung desselben zur Ver- kennung gewisser Schranken führen, welche durch die noch nicht aufgegebene Feßlung des zeitlich Bewegten im Raume (vergl. §. 650) gesetzt sind, woraus Uebergriffe in die Auffassungsweise solcher Künste entstehen, die in der Form der wirklichen Bewegung darstellen.
Jede Kunst hat ihre Versuchungen, ihre Stellung unter den andern Künsten reizt sie zum Wetteifer, das Bewußtsein der Einheit aller Künste (§. 542 ff.) verschwemmt leicht die Erinnerung der Gesetze, welche im Gemeinschaftlichen die Selbständigkeit jeder Kunst hüten sollen. Es ent- stehen so theils Rückgriffe, theils Vorgriffe. Die Baukunst kann sich nur durch Vorgriffe verirren; wir sahen sie ihren Boden verlieren und
in Geltung, wenn die Compoſition nicht mehrere Geſtalten verbindet; überdieß iſt durch dieſen Satztheil dafür geſorgt, daß das „nicht ſchön ſein Müſſen“ nicht als ein Zufall, ſondern als ein künſtleriſches Wollen verſtanden werde. Das Verhältniß iſt alſo jetzt umgekehrt; von der Bild- nerkunſt hieß es (§. 603 Anm.): „ſchlechtweg allerdings kann das dieſem Prinzip der directen Idealiſirung entgegenſtehende von der Plaſtik nicht ausgeſchloſſen ſein, ſonſt hätte ſie keine Bewegung und Geſchichte“; jetzt gilt ebendieß von dem dort herrſchenden Prinzip: es hat die Oberhand verloren, denn das entgegegeſetzte herrſcht, aber es kann nicht völlig ausge- ſchloſſen ſein. An welche Seite der Technik ſich das relative Fortbeſtehen des überwundenen Prinzips knüpft, warum dieß Fortbeſtehen eine Lebens- bedingung unſerer Kunſt, in welche nähere Schranken es gewieſen iſt, welche furchtbaren Wirkungen es für die Geſchichte der Malerei hat, Alles dieß wird der Verlauf zeigen. Daß es aber noch fortbeſteht, haben wir ſchon in der Anm. zu §. 655 durch den Satz ausgeſprochen, daß die Malerei darum, weil ſie in gewiſſem Sinn ein Mißverhältniß zwiſchen Form und Ausdruck liebt, keineswegs jeden reineren Adel der Form ohne beſtimmtes Motiv abweiſen darf, daß zur maleriſchen Würze auch ein feiner Abſprung von der Durchſchnittslinie genügen kann. Dieſer Abſprung wird immer nicht ſo fein ſein, wie jene zarte Modification in der Plaſtik, aber was im Marmor ſchon hart erſcheinen würde, ſtört in der Farbe den Eindruck glücklicher und vorzugsweiſe reiner Form-Entwicklung noch nicht. Dieß iſt jedoch nur erſt unbeſtimmt, nur eine ungefähre Vorbereitung auf die beſtimmteren Sätze, die ſich aus der weiteren Auseinanderſetzung er- geben ſollen.
§. 658.
Wenn dieſes Prinzip verbietet, auf den Boden der plaſtiſchen Schönheit überzutreten, ſo kann auf der andern Seite die Verfolgung deſſelben zur Ver- kennung gewiſſer Schranken führen, welche durch die noch nicht aufgegebene Feßlung des zeitlich Bewegten im Raume (vergl. §. 650) geſetzt ſind, woraus Uebergriffe in die Auffaſſungsweiſe ſolcher Künſte entſtehen, die in der Form der wirklichen Bewegung darſtellen.
Jede Kunſt hat ihre Verſuchungen, ihre Stellung unter den andern Künſten reizt ſie zum Wetteifer, das Bewußtſein der Einheit aller Künſte (§. 542 ff.) verſchwemmt leicht die Erinnerung der Geſetze, welche im Gemeinſchaftlichen die Selbſtändigkeit jeder Kunſt hüten ſollen. Es ent- ſtehen ſo theils Rückgriffe, theils Vorgriffe. Die Baukunſt kann ſich nur durch Vorgriffe verirren; wir ſahen ſie ihren Boden verlieren und
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in Geltung, wenn die Compoſition nicht mehrere Geſtalten verbindet;
überdieß iſt durch dieſen Satztheil dafür geſorgt, daß das „nicht ſchön
ſein Müſſen“ nicht als ein Zufall, ſondern als ein künſtleriſches Wollen
verſtanden werde. Das Verhältniß iſt alſo jetzt umgekehrt; von der Bild-
nerkunſt hieß es (§. 603 Anm.): „ſchlechtweg allerdings kann das dieſem
Prinzip der directen Idealiſirung entgegenſtehende von der Plaſtik nicht
ausgeſchloſſen ſein, ſonſt hätte ſie keine Bewegung und Geſchichte“; jetzt
gilt ebendieß von dem dort herrſchenden Prinzip: es hat die Oberhand
verloren, denn das entgegegeſetzte herrſcht, aber es kann nicht völlig ausge-
ſchloſſen ſein. An welche Seite der Technik ſich das relative Fortbeſtehen
des überwundenen Prinzips knüpft, warum dieß Fortbeſtehen eine Lebens-
bedingung unſerer Kunſt, in welche nähere Schranken es gewieſen iſt,
welche furchtbaren Wirkungen es für die Geſchichte der Malerei hat, Alles
dieß wird der Verlauf zeigen. Daß es aber noch fortbeſteht, haben wir
ſchon in der Anm. zu §. 655 durch den Satz ausgeſprochen, daß die
Malerei darum, weil ſie in gewiſſem Sinn ein Mißverhältniß zwiſchen
Form und Ausdruck liebt, keineswegs jeden reineren Adel der Form ohne
beſtimmtes Motiv abweiſen darf, daß zur maleriſchen Würze auch ein feiner
Abſprung von der Durchſchnittslinie genügen kann. Dieſer Abſprung wird
immer nicht ſo fein ſein, wie jene zarte Modification in der Plaſtik, aber
was im Marmor ſchon hart erſcheinen würde, ſtört in der Farbe den
Eindruck glücklicher und vorzugsweiſe reiner Form-Entwicklung noch nicht.
Dieß iſt jedoch nur erſt unbeſtimmt, nur eine ungefähre Vorbereitung auf
die beſtimmteren Sätze, die ſich aus der weiteren Auseinanderſetzung er-
geben ſollen.
§. 658.
Wenn dieſes Prinzip verbietet, auf den Boden der plaſtiſchen Schönheit
überzutreten, ſo kann auf der andern Seite die Verfolgung deſſelben zur Ver-
kennung gewiſſer Schranken führen, welche durch die noch nicht aufgegebene
Feßlung des zeitlich Bewegten im Raume (vergl. §. 650) geſetzt ſind, woraus
Uebergriffe in die Auffaſſungsweiſe ſolcher Künſte entſtehen, die in der Form
der wirklichen Bewegung darſtellen.
Jede Kunſt hat ihre Verſuchungen, ihre Stellung unter den andern
Künſten reizt ſie zum Wetteifer, das Bewußtſein der Einheit aller Künſte
(§. 542 ff.) verſchwemmt leicht die Erinnerung der Geſetze, welche im
Gemeinſchaftlichen die Selbſtändigkeit jeder Kunſt hüten ſollen. Es ent-
ſtehen ſo theils Rückgriffe, theils Vorgriffe. Die Baukunſt kann ſich nur
durch Vorgriffe verirren; wir ſahen ſie ihren Boden verlieren und
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 534. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/42>, abgerufen am 17.02.2025.
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