ßeres, eine Natur. Unter diesem Aeußeren, dieser Natur ist, wie wir be- reits gesehen, nicht blos die Gestalt, auch nicht blos die Sinnlichkeit zu verstehen, sondern die ganze innere Welt selbst als Vielheit von Formen des Aufnehmens, sich Verhaltens und Thuns. Es handelt sich auch hier um eine bestimmtere Anwendung der Sätze des vorh. §. Die Gestalt, dem Geiste gegenüber als Naturexistenz gesetzt, ist der Zufälligkeit unend- licher Brechungen der gattungsmäßig reinen Form hingegeben, es emanzi- piren sich ihre Einzelformen aus der harmonischen Einheit. Sie ist aber hierin nur Ausdruck der für die Kunst nun entfesselten Vieltönigkeit, Vielseitigkeit des Innern. Der Mensch, wie er Stoff der Malerei ist, erscheint wie ein In- strument, das mit einer neuen Menge von Saiten bespannt ist, deren Tonmenge die Bildnerkunst wie ein Chaos fürchten müßte; denn vom Bande der Einheit zunächst entlassen wird auch erst die ganze Welt von Anlagen, Kräften, die in der menschlichen Organisation liegen, flüssig. In dieser Entfesslung werden sich aber nothwendig auch falsche Einheiten bilden, stehende Gewöhnungen einer bestimmten Richtung, Einseitigkeiten, die sich, wie das Moment der geistigen Vielseitigkeit, das hiemit gar nicht in Widerspruch steht, in der Gestalt und ihren Bewegungen ausdrücken müssen. Was die Vielseitigkeit entbindet und aufregt, ist zugleich wesent- lich ein unendlich erweiterter Rapport mit der Außenwelt, der natürlichen und der menschlichen. Es ist ja der Persönlichkeit ein Hintergrund mitgegeben, sie ist nicht herausgeschnitten aus Luft, Erde, Wohnung, Getümmel des Verkehrs, sie ist dahinaus bezogen, unzählbare sympathetische Fäden lau- fen von ihr fort in die weite Welt und leiten den elektrischen Strom un- endlicher Beziehungen in sie zurück. Das sich-Einlassen erscheint zunächst als völlige Zulassung jener Zerstreuung, die wir in der Sculptur so streng abweisen mußten (§. 606). Das Malerische hat durchaus den Wurf des Bezogenen, Beziehungsreichen, des sich-Umsehens. Durch diese geöffnete Schleuse brechen nun die Motive der Leidenschaft in einem Umfang ein, wie ihn ebenfalls die Sculptur nicht kennt, welche, wie wir sahen, dem Affecte mitten in seiner Entfesslung einen Damm entgegenwirft, wodurch der Ausdruck bewirkt wird, als wäre der Sturm, während er braust, zu- gleich auch schon beschwichtigt. Das ist nur bei geringerem Umfang und einfacher Natur der Affecte möglich. Die Malerei hat ein weit verwickel- teres Seelenleben und einen ungleich reicheren Umfang von Erregungen und Leidenschaften vor sich; braust der Sturm in dieß Meer, so muß es wie eine zerwühlte Wellenwüste erscheinen und der Ausdruck der Geistes- macht muß in anderer Weise gerettet werden. Die Aufwühlung kann bis zum tiefsten Zerfalle des ganzen Wesens mit sich selber gehen; dabei ist die ganze Seite des Menschen, die wir jetzt seiner geistigen Einheit ge- genübergestellt vor uns haben, wie eine zweite widerstrebende Seele mit
ßeres, eine Natur. Unter dieſem Aeußeren, dieſer Natur iſt, wie wir be- reits geſehen, nicht blos die Geſtalt, auch nicht blos die Sinnlichkeit zu verſtehen, ſondern die ganze innere Welt ſelbſt als Vielheit von Formen des Aufnehmens, ſich Verhaltens und Thuns. Es handelt ſich auch hier um eine beſtimmtere Anwendung der Sätze des vorh. §. Die Geſtalt, dem Geiſte gegenüber als Naturexiſtenz geſetzt, iſt der Zufälligkeit unend- licher Brechungen der gattungsmäßig reinen Form hingegeben, es emanzi- piren ſich ihre Einzelformen aus der harmoniſchen Einheit. Sie iſt aber hierin nur Ausdruck der für die Kunſt nun entfeſſelten Vieltönigkeit, Vielſeitigkeit des Innern. Der Menſch, wie er Stoff der Malerei iſt, erſcheint wie ein In- ſtrument, das mit einer neuen Menge von Saiten beſpannt iſt, deren Tonmenge die Bildnerkunſt wie ein Chaos fürchten müßte; denn vom Bande der Einheit zunächſt entlaſſen wird auch erſt die ganze Welt von Anlagen, Kräften, die in der menſchlichen Organiſation liegen, flüſſig. In dieſer Entfeſſlung werden ſich aber nothwendig auch falſche Einheiten bilden, ſtehende Gewöhnungen einer beſtimmten Richtung, Einſeitigkeiten, die ſich, wie das Moment der geiſtigen Vielſeitigkeit, das hiemit gar nicht in Widerſpruch ſteht, in der Geſtalt und ihren Bewegungen ausdrücken müſſen. Was die Vielſeitigkeit entbindet und aufregt, iſt zugleich weſent- lich ein unendlich erweiterter Rapport mit der Außenwelt, der natürlichen und der menſchlichen. Es iſt ja der Perſönlichkeit ein Hintergrund mitgegeben, ſie iſt nicht herausgeſchnitten aus Luft, Erde, Wohnung, Getümmel des Verkehrs, ſie iſt dahinaus bezogen, unzählbare ſympathetiſche Fäden lau- fen von ihr fort in die weite Welt und leiten den elektriſchen Strom un- endlicher Beziehungen in ſie zurück. Das ſich-Einlaſſen erſcheint zunächſt als völlige Zulaſſung jener Zerſtreuung, die wir in der Sculptur ſo ſtreng abweiſen mußten (§. 606). Das Maleriſche hat durchaus den Wurf des Bezogenen, Beziehungsreichen, des ſich-Umſehens. Durch dieſe geöffnete Schleuſe brechen nun die Motive der Leidenſchaft in einem Umfang ein, wie ihn ebenfalls die Sculptur nicht kennt, welche, wie wir ſahen, dem Affecte mitten in ſeiner Entfeſſlung einen Damm entgegenwirft, wodurch der Ausdruck bewirkt wird, als wäre der Sturm, während er braust, zu- gleich auch ſchon beſchwichtigt. Das iſt nur bei geringerem Umfang und einfacher Natur der Affecte möglich. Die Malerei hat ein weit verwickel- teres Seelenleben und einen ungleich reicheren Umfang von Erregungen und Leidenſchaften vor ſich; braust der Sturm in dieß Meer, ſo muß es wie eine zerwühlte Wellenwüſte erſcheinen und der Ausdruck der Geiſtes- macht muß in anderer Weiſe gerettet werden. Die Aufwühlung kann bis zum tiefſten Zerfalle des ganzen Weſens mit ſich ſelber gehen; dabei iſt die ganze Seite des Menſchen, die wir jetzt ſeiner geiſtigen Einheit ge- genübergeſtellt vor uns haben, wie eine zweite widerſtrebende Seele mit
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ßeres, eine Natur. Unter dieſem Aeußeren, dieſer Natur iſt, wie wir be-
reits geſehen, nicht blos die Geſtalt, auch nicht blos die Sinnlichkeit zu
verſtehen, ſondern die ganze innere Welt ſelbſt als Vielheit von Formen
des Aufnehmens, ſich Verhaltens und Thuns. Es handelt ſich auch hier
um eine beſtimmtere Anwendung der Sätze des vorh. §. Die Geſtalt,
dem Geiſte gegenüber als Naturexiſtenz geſetzt, iſt der Zufälligkeit unend-
licher Brechungen der gattungsmäßig reinen Form hingegeben, es emanzi-
piren ſich ihre Einzelformen aus der harmoniſchen Einheit. Sie iſt aber hierin
nur Ausdruck der für die Kunſt nun entfeſſelten Vieltönigkeit, Vielſeitigkeit
des Innern. Der Menſch, wie er Stoff der Malerei iſt, erſcheint wie ein In-
ſtrument, das mit einer neuen Menge von Saiten beſpannt iſt, deren
Tonmenge die Bildnerkunſt wie ein Chaos fürchten müßte; denn vom
Bande der Einheit zunächſt entlaſſen wird auch erſt die ganze Welt von
Anlagen, Kräften, die in der menſchlichen Organiſation liegen, flüſſig.
In dieſer Entfeſſlung werden ſich aber nothwendig auch falſche Einheiten
bilden, ſtehende Gewöhnungen einer beſtimmten Richtung, Einſeitigkeiten,
die ſich, wie das Moment der geiſtigen Vielſeitigkeit, das hiemit gar nicht
in Widerſpruch ſteht, in der Geſtalt und ihren Bewegungen ausdrücken
müſſen. Was die Vielſeitigkeit entbindet und aufregt, iſt zugleich weſent-
lich ein unendlich erweiterter Rapport mit der Außenwelt, der natürlichen und
der menſchlichen. Es iſt ja der Perſönlichkeit ein Hintergrund mitgegeben,
ſie iſt nicht herausgeſchnitten aus Luft, Erde, Wohnung, Getümmel des
Verkehrs, ſie iſt dahinaus bezogen, unzählbare ſympathetiſche Fäden lau-
fen von ihr fort in die weite Welt und leiten den elektriſchen Strom un-
endlicher Beziehungen in ſie zurück. Das ſich-Einlaſſen erſcheint zunächſt
als völlige Zulaſſung jener Zerſtreuung, die wir in der Sculptur ſo ſtreng
abweiſen mußten (§. 606). Das Maleriſche hat durchaus den Wurf des
Bezogenen, Beziehungsreichen, des ſich-Umſehens. Durch dieſe geöffnete
Schleuſe brechen nun die Motive der Leidenſchaft in einem Umfang ein,
wie ihn ebenfalls die Sculptur nicht kennt, welche, wie wir ſahen, dem
Affecte mitten in ſeiner Entfeſſlung einen Damm entgegenwirft, wodurch
der Ausdruck bewirkt wird, als wäre der Sturm, während er braust, zu-
gleich auch ſchon beſchwichtigt. Das iſt nur bei geringerem Umfang und
einfacher Natur der Affecte möglich. Die Malerei hat ein weit verwickel-
teres Seelenleben und einen ungleich reicheren Umfang von Erregungen
und Leidenſchaften vor ſich; braust der Sturm in dieß Meer, ſo muß es
wie eine zerwühlte Wellenwüſte erſcheinen und der Ausdruck der Geiſtes-
macht muß in anderer Weiſe gerettet werden. Die Aufwühlung kann bis
zum tiefſten Zerfalle des ganzen Weſens mit ſich ſelber gehen; dabei iſt
die ganze Seite des Menſchen, die wir jetzt ſeiner geiſtigen Einheit ge-
genübergeſtellt vor uns haben, wie eine zweite widerſtrebende Seele mit
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 526. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/34>, abgerufen am 28.07.2024.
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