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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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feurigen Zungen schweben nicht blos über den Häuptern der Menschen,
der Gott ist nicht blos, wie Hegel (Aesth. Th. 2. S. 258. 3. S. 10 u. a.)
geistvoll sagt, in die Gemeinde hereingetreten; Luft, Erde, Wasser, Baum,
der letzte Schilfhalm am Teich zittert und webt im ahnungsvollen Glanze
und scheint ein bedeutungsvolles Etwas sagen zu wollen. Durch die Ge-
genüberstellung von Geist und Natur ist jene Spannung, die uns auf dem
Standpuncte der Bildnerkunst (vergl. §. 631, Anm. 1) noch fehlte, nun
eingetreten, die sentimentale Beziehung zur Landschaft ist möglich gewor-
den, das Gemüth zieht sich aus ihr zurück und sehnt sich wieder nach ihr,
spiegelt sich in ihr, es leiht ihr seine Tiefe, und ihre Zustände, Formen,
Beleuchtungen, Morgen, Mittag, Abend und Nacht, Frühling, Sommer
und Winter, Stille und Sturm erscheinen ihm als Bilder seiner Stim-
mungen. Es ist ein Leihen, aber mit einem wahren Grunde; denn der Geist
erinnert sich, daß er aus der Natur kommt und wie hoch er sich über sie
geschwungen, er senkt sich mit freier Liebe wieder in diesen seinen Schooß
zurück. Zu §. 599, welcher heraushob, daß die Bildnerkunst die Land-
schaft überspringt, ist der für das System hieraus erwachsende scheinbare
Widerspruch, daß die Lehre vom Naturschönen die landschaftliche Schön-
heit vor der (thierischen und) menschlichen aufführt und doch in der
Reihe der Künste erst die später folgende, reifere sie nachholt, bereits be-
sprochen; wir setzen hinzu: erst muß die Kunst das menschliche Wesen in
seiner ganzen Kraft und Vollkommenheit erfaßt haben, ehe sie dahin ge-
langen kann, wo die noch tiefer erwärmte Brust reich genug ist, der är-
meren Form des Daseins aus dem Ihrigen zu leihen. Uebrigens han-
delt es sich nicht blos von der Landschaft, sondern auch von umgebendem
künstlichem Raum mit seinen Geräthen u. s. w. Das von Menschenhand
Gemachte ist zunächst todt und scheint nicht wie die lebendige Natur zur
Seelensprache gelangen zu können; aber es ist ein Werk zu menschlichem
Gebrauch, eingewohnt, eingewöhnt, die Wände haben viel "gesehen",
scheinen "erzählen zu können" und aus dem alten Großvaterstuhl steigen
vor Faust's Gemüth tiefrührende Familienbilder auf. Dazu kommt die
eigenthümliche Wirkung der geschlosseneren Luft und des im Helldunkel der
von Wänden eingefangenen Räume bedeutungsvoller gespannten Lichts.
Das Thierleben führen wir auch hier nebenher. Die Liebe leiht in die-
ser veränderten Auffassung mitleidig auch der gebundenen Thierseele von
ihrem Reichthum, sucht in ihr die tiefere Verwandtschaft mit dem Men-
schen auf, zieht es in den magischen Kreis ihrer erwärmenden Kraft.
Gehen wir nun zum Menschen über, so sehen wir dasselbe Verhältniß
innerhalb der Persönlichkeit eintreten, das wir bei dem Blick auf die
Natur zwischen dieser und der Persönlichkeit vor uns haben. Die Per-
sönlichkeit zerfällt nun selbst in ein Innerstes, rein Geistiges und ein Aeu-

feurigen Zungen ſchweben nicht blos über den Häuptern der Menſchen,
der Gott iſt nicht blos, wie Hegel (Aeſth. Th. 2. S. 258. 3. S. 10 u. a.)
geiſtvoll ſagt, in die Gemeinde hereingetreten; Luft, Erde, Waſſer, Baum,
der letzte Schilfhalm am Teich zittert und webt im ahnungsvollen Glanze
und ſcheint ein bedeutungsvolles Etwas ſagen zu wollen. Durch die Ge-
genüberſtellung von Geiſt und Natur iſt jene Spannung, die uns auf dem
Standpuncte der Bildnerkunſt (vergl. §. 631, Anm. 1) noch fehlte, nun
eingetreten, die ſentimentale Beziehung zur Landſchaft iſt möglich gewor-
den, das Gemüth zieht ſich aus ihr zurück und ſehnt ſich wieder nach ihr,
ſpiegelt ſich in ihr, es leiht ihr ſeine Tiefe, und ihre Zuſtände, Formen,
Beleuchtungen, Morgen, Mittag, Abend und Nacht, Frühling, Sommer
und Winter, Stille und Sturm erſcheinen ihm als Bilder ſeiner Stim-
mungen. Es iſt ein Leihen, aber mit einem wahren Grunde; denn der Geiſt
erinnert ſich, daß er aus der Natur kommt und wie hoch er ſich über ſie
geſchwungen, er ſenkt ſich mit freier Liebe wieder in dieſen ſeinen Schooß
zurück. Zu §. 599, welcher heraushob, daß die Bildnerkunſt die Land-
ſchaft überſpringt, iſt der für das Syſtem hieraus erwachſende ſcheinbare
Widerſpruch, daß die Lehre vom Naturſchönen die landſchaftliche Schön-
heit vor der (thieriſchen und) menſchlichen aufführt und doch in der
Reihe der Künſte erſt die ſpäter folgende, reifere ſie nachholt, bereits be-
ſprochen; wir ſetzen hinzu: erſt muß die Kunſt das menſchliche Weſen in
ſeiner ganzen Kraft und Vollkommenheit erfaßt haben, ehe ſie dahin ge-
langen kann, wo die noch tiefer erwärmte Bruſt reich genug iſt, der är-
meren Form des Daſeins aus dem Ihrigen zu leihen. Uebrigens han-
delt es ſich nicht blos von der Landſchaft, ſondern auch von umgebendem
künſtlichem Raum mit ſeinen Geräthen u. ſ. w. Das von Menſchenhand
Gemachte iſt zunächſt todt und ſcheint nicht wie die lebendige Natur zur
Seelenſprache gelangen zu können; aber es iſt ein Werk zu menſchlichem
Gebrauch, eingewohnt, eingewöhnt, die Wände haben viel „geſehen“,
ſcheinen „erzählen zu können“ und aus dem alten Großvaterſtuhl ſteigen
vor Fauſt’s Gemüth tiefrührende Familienbilder auf. Dazu kommt die
eigenthümliche Wirkung der geſchloſſeneren Luft und des im Helldunkel der
von Wänden eingefangenen Räume bedeutungsvoller geſpannten Lichts.
Das Thierleben führen wir auch hier nebenher. Die Liebe leiht in die-
ſer veränderten Auffaſſung mitleidig auch der gebundenen Thierſeele von
ihrem Reichthum, ſucht in ihr die tiefere Verwandtſchaft mit dem Men-
ſchen auf, zieht es in den magiſchen Kreis ihrer erwärmenden Kraft.
Gehen wir nun zum Menſchen über, ſo ſehen wir daſſelbe Verhältniß
innerhalb der Perſönlichkeit eintreten, das wir bei dem Blick auf die
Natur zwiſchen dieſer und der Perſönlichkeit vor uns haben. Die Per-
ſönlichkeit zerfällt nun ſelbſt in ein Innerſtes, rein Geiſtiges und ein Aeu-

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[525/0033] feurigen Zungen ſchweben nicht blos über den Häuptern der Menſchen, der Gott iſt nicht blos, wie Hegel (Aeſth. Th. 2. S. 258. 3. S. 10 u. a.) geiſtvoll ſagt, in die Gemeinde hereingetreten; Luft, Erde, Waſſer, Baum, der letzte Schilfhalm am Teich zittert und webt im ahnungsvollen Glanze und ſcheint ein bedeutungsvolles Etwas ſagen zu wollen. Durch die Ge- genüberſtellung von Geiſt und Natur iſt jene Spannung, die uns auf dem Standpuncte der Bildnerkunſt (vergl. §. 631, Anm. 1) noch fehlte, nun eingetreten, die ſentimentale Beziehung zur Landſchaft iſt möglich gewor- den, das Gemüth zieht ſich aus ihr zurück und ſehnt ſich wieder nach ihr, ſpiegelt ſich in ihr, es leiht ihr ſeine Tiefe, und ihre Zuſtände, Formen, Beleuchtungen, Morgen, Mittag, Abend und Nacht, Frühling, Sommer und Winter, Stille und Sturm erſcheinen ihm als Bilder ſeiner Stim- mungen. Es iſt ein Leihen, aber mit einem wahren Grunde; denn der Geiſt erinnert ſich, daß er aus der Natur kommt und wie hoch er ſich über ſie geſchwungen, er ſenkt ſich mit freier Liebe wieder in dieſen ſeinen Schooß zurück. Zu §. 599, welcher heraushob, daß die Bildnerkunſt die Land- ſchaft überſpringt, iſt der für das Syſtem hieraus erwachſende ſcheinbare Widerſpruch, daß die Lehre vom Naturſchönen die landſchaftliche Schön- heit vor der (thieriſchen und) menſchlichen aufführt und doch in der Reihe der Künſte erſt die ſpäter folgende, reifere ſie nachholt, bereits be- ſprochen; wir ſetzen hinzu: erſt muß die Kunſt das menſchliche Weſen in ſeiner ganzen Kraft und Vollkommenheit erfaßt haben, ehe ſie dahin ge- langen kann, wo die noch tiefer erwärmte Bruſt reich genug iſt, der är- meren Form des Daſeins aus dem Ihrigen zu leihen. Uebrigens han- delt es ſich nicht blos von der Landſchaft, ſondern auch von umgebendem künſtlichem Raum mit ſeinen Geräthen u. ſ. w. Das von Menſchenhand Gemachte iſt zunächſt todt und ſcheint nicht wie die lebendige Natur zur Seelenſprache gelangen zu können; aber es iſt ein Werk zu menſchlichem Gebrauch, eingewohnt, eingewöhnt, die Wände haben viel „geſehen“, ſcheinen „erzählen zu können“ und aus dem alten Großvaterſtuhl ſteigen vor Fauſt’s Gemüth tiefrührende Familienbilder auf. Dazu kommt die eigenthümliche Wirkung der geſchloſſeneren Luft und des im Helldunkel der von Wänden eingefangenen Räume bedeutungsvoller geſpannten Lichts. Das Thierleben führen wir auch hier nebenher. Die Liebe leiht in die- ſer veränderten Auffaſſung mitleidig auch der gebundenen Thierſeele von ihrem Reichthum, ſucht in ihr die tiefere Verwandtſchaft mit dem Men- ſchen auf, zieht es in den magiſchen Kreis ihrer erwärmenden Kraft. Gehen wir nun zum Menſchen über, ſo ſehen wir daſſelbe Verhältniß innerhalb der Perſönlichkeit eintreten, das wir bei dem Blick auf die Natur zwiſchen dieſer und der Perſönlichkeit vor uns haben. Die Per- ſönlichkeit zerfällt nun ſelbſt in ein Innerſtes, rein Geiſtiges und ein Aeu-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 525. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/33>, abgerufen am 24.11.2024.