Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.
eine Welt von Trieben, Kräften, Thätigkeiten im Innern des Menschen 35*
eine Welt von Trieben, Kräften, Thätigkeiten im Innern des Menſchen 35*
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0031" n="523"/> eine Welt von Trieben, Kräften, Thätigkeiten im Innern des Menſchen<lb/> ſelbſt lebt, fällt uns in dieſer gegenwärtigen Trennung neben und außer<lb/> den Geiſt hin, der die Einheit dieſes Vielen iſt. Wir haben das reine<lb/> Licht, das einfache Weiß des Geiſtes, wie er in ſeiner Unendlichkeit für<lb/> ſich iſt; das farbige Leuchten aus der Hülle, wovon der vorh. §. han-<lb/> delte, iſt vorerſt wieder bei Seite gelaſſen. Jene Welt des Vielen nun<lb/> iſt in der Bildnerkunſt dem Geiſte ſo nicht gegenübergetreten, und weil<lb/> ſie nicht gegenübergetreten iſt, iſt ſie zuſammengeſchmolzen. Der Geiſt<lb/> webte noch in ſchöner Einheit mit der Natur als der Mutter des Vielen<lb/> (das ſie in Wahrheit freilich ſelbſt nur als Stätte des Geiſtes, damit er<lb/> aus dem Vielen ſich entzünden könne, gebiert). War nun die Natur dem<lb/> Geiſte ſo in ruhiger Einheit einverleibt, ſo ergab ſich für die entſprechende<lb/> Kunſtform auf Wegen, die wir nicht noch einmal nachzeigen, eine wohl-<lb/> geſichtete Auswahl ſolcher Erſcheinungen, worin das Ganze der Natur<lb/> und Menſchheit in ſchöner Einheit der Kräfte ſich darſtellte; daneben gab<lb/> es auf dieſem Standpunct eigentlich nicht noch eine Natur, eine Vielheit<lb/> der Menſchenwelt und Particulariſation ihrer Triebe, Empfindungen u. ſ. w.;<lb/> es war ſogar ein, zwar nothwendiger, Widerſpruch der Phantaſie, daß<lb/> es nur mehrere Götter-Ideale gab, denn genau genommen ließ ſich nur<lb/> Ein Weſen denken, in welchem Natur und Geiſt zur abſoluten, reinen,<lb/> ruhigen Einheit zuſammengegangen war. Nun aber, auf dem weſentlich<lb/> veränderten Standpuncte, ſteht alſo dem Geiſte, der zu dem Bewußtſein<lb/> ſeiner Einheit, ſeines unendlichen Beiſichſeins in allem Unterſchiede, ge-<lb/> kommen iſt, das Viele als ſolches gegenüber, es iſt als ſein Gegentheil<lb/> mit Bewußtſein geſetzt. Freilich als die Welt des Endlichen, alſo des<lb/> nicht Wahren, aber doch hingeſetzt, hingeſtellt; es wäre ja nicht ein Ge-<lb/> genſatz, wenn nicht das Viele, wie gewiß auch zum zweiten Momente,<lb/> der Auflöſung des Gegenſatzes übergegangen werden muß, zunächſt für ſich<lb/> im Nachdruck des Gegenüber beſtünde. Es iſt alſo in ſeiner Selbſtän-<lb/> digkeit geſetzt; es verſchwindet nicht mehr in der Aufſaugung, durch die<lb/> es in der Idealgeſtalt in eine reine, ruhige Einheit mit dem Geiſte ein-<lb/> gefloſſen, es iſt da, man ſieht es, es breitet ſich in frei entlaſſener Fülle<lb/> aus. Dieß iſt der tiefere Grund des Gewinns an Weite (§. 650): die<lb/> techniſchen Bedingungen zeigen auch hier, nachdem ſie erſt äußerlich auf-<lb/> geſtellt ſind, ihre poſitive, geiſtige Begründung und Wirkung. Allein jener<lb/> Gott des Alterthums, in welchen das Viele aufgegangen, iſt nicht ſchlecht-<lb/> hin todt, er ſoll in neuer, anderer Lebensform auferſtehen. Nur einen<lb/> Augenblick iſt die Abſtraction des Geiſtes in ſeinem reinen Fürſichſein feſt-<lb/> zuhalten; ſtellt ſich der Geiſt das Viele gegenüber als Endliches, ſo muß<lb/> er im nächſten Moment auch dieß ſetzen, daß dieß Endliche, weil es end-<lb/> lich iſt, ihm, dem Unendlichen, gegenüber nichts Beſtehendes für ſich ſein kann,</hi><lb/> <fw place="bottom" type="sig">35*</fw><lb/> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [523/0031]
eine Welt von Trieben, Kräften, Thätigkeiten im Innern des Menſchen
ſelbſt lebt, fällt uns in dieſer gegenwärtigen Trennung neben und außer
den Geiſt hin, der die Einheit dieſes Vielen iſt. Wir haben das reine
Licht, das einfache Weiß des Geiſtes, wie er in ſeiner Unendlichkeit für
ſich iſt; das farbige Leuchten aus der Hülle, wovon der vorh. §. han-
delte, iſt vorerſt wieder bei Seite gelaſſen. Jene Welt des Vielen nun
iſt in der Bildnerkunſt dem Geiſte ſo nicht gegenübergetreten, und weil
ſie nicht gegenübergetreten iſt, iſt ſie zuſammengeſchmolzen. Der Geiſt
webte noch in ſchöner Einheit mit der Natur als der Mutter des Vielen
(das ſie in Wahrheit freilich ſelbſt nur als Stätte des Geiſtes, damit er
aus dem Vielen ſich entzünden könne, gebiert). War nun die Natur dem
Geiſte ſo in ruhiger Einheit einverleibt, ſo ergab ſich für die entſprechende
Kunſtform auf Wegen, die wir nicht noch einmal nachzeigen, eine wohl-
geſichtete Auswahl ſolcher Erſcheinungen, worin das Ganze der Natur
und Menſchheit in ſchöner Einheit der Kräfte ſich darſtellte; daneben gab
es auf dieſem Standpunct eigentlich nicht noch eine Natur, eine Vielheit
der Menſchenwelt und Particulariſation ihrer Triebe, Empfindungen u. ſ. w.;
es war ſogar ein, zwar nothwendiger, Widerſpruch der Phantaſie, daß
es nur mehrere Götter-Ideale gab, denn genau genommen ließ ſich nur
Ein Weſen denken, in welchem Natur und Geiſt zur abſoluten, reinen,
ruhigen Einheit zuſammengegangen war. Nun aber, auf dem weſentlich
veränderten Standpuncte, ſteht alſo dem Geiſte, der zu dem Bewußtſein
ſeiner Einheit, ſeines unendlichen Beiſichſeins in allem Unterſchiede, ge-
kommen iſt, das Viele als ſolches gegenüber, es iſt als ſein Gegentheil
mit Bewußtſein geſetzt. Freilich als die Welt des Endlichen, alſo des
nicht Wahren, aber doch hingeſetzt, hingeſtellt; es wäre ja nicht ein Ge-
genſatz, wenn nicht das Viele, wie gewiß auch zum zweiten Momente,
der Auflöſung des Gegenſatzes übergegangen werden muß, zunächſt für ſich
im Nachdruck des Gegenüber beſtünde. Es iſt alſo in ſeiner Selbſtän-
digkeit geſetzt; es verſchwindet nicht mehr in der Aufſaugung, durch die
es in der Idealgeſtalt in eine reine, ruhige Einheit mit dem Geiſte ein-
gefloſſen, es iſt da, man ſieht es, es breitet ſich in frei entlaſſener Fülle
aus. Dieß iſt der tiefere Grund des Gewinns an Weite (§. 650): die
techniſchen Bedingungen zeigen auch hier, nachdem ſie erſt äußerlich auf-
geſtellt ſind, ihre poſitive, geiſtige Begründung und Wirkung. Allein jener
Gott des Alterthums, in welchen das Viele aufgegangen, iſt nicht ſchlecht-
hin todt, er ſoll in neuer, anderer Lebensform auferſtehen. Nur einen
Augenblick iſt die Abſtraction des Geiſtes in ſeinem reinen Fürſichſein feſt-
zuhalten; ſtellt ſich der Geiſt das Viele gegenüber als Endliches, ſo muß
er im nächſten Moment auch dieß ſetzen, daß dieß Endliche, weil es end-
lich iſt, ihm, dem Unendlichen, gegenüber nichts Beſtehendes für ſich ſein kann,
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